leid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nehmlich, daß das Uebel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, nothwendig von der Beschaffenheit seyn müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sey, könne auch kein Mitlei- den Statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er wei- ter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustossen könne, weder der Verzweifelnde noch der Uebermüthige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürch- terliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürch- terlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid er- wecken würde: (*) und alles das finden wir
mit-
(*) Os d' aplos eipein, phobera esin, osa [fremdsprachliches Material - 1 Zeichen fehlt] eteron gignomena, e mellonta, eleeina esin. Jch weiß nicht, was dem Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598.) einge- kommen ist, dieses zu übersetzen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt,
quae-
leid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den ſich Ariſtoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nehmlich, daß das Uebel, welches der Gegenſtand unſers Mitleidens werden ſolle, nothwendig von der Beſchaffenheit ſeyn müſſe, daß wir es auch für uns ſelbſt, oder für eines von den Unſrigen, zu befürchten hätten. Wo dieſe Furcht nicht ſey, könne auch kein Mitlei- den Statt finden. Denn weder der, den das Unglück ſo tief herabgedrückt habe, daß er wei- ter nichts für ſich zu fürchten ſähe, noch der, welcher ſich ſo vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zuſtoſſen könne, weder der Verzweifelnde noch der Uebermüthige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürch- terliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, ſagt er, iſt uns fürch- terlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen ſollte, unſer Mitleid er- wecken würde: (*) und alles das finden wir
mit-
(*) Ὡς δ᾽ ἁπλως εἰπειν, φοϐεϱα ἐςιν, ὀσα [fremdsprachliches Material – 1 Zeichen fehlt] ἑτερων γιγνομενα, ἠ μελλοντα, ἐλεεινα ἐςιν. Jch weiß nicht, was dem Aemilius Portus (in ſeiner Ausgabe der Rhetorik, Spiræ 1598.) einge- kommen iſt, dieſes zu überſetzen: Denique ut ſimpliciter loquar, formidabilia ſunt,
quæ-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0186"n="180"/>
leid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht,<lb/>
erregen könne und dürfe?</p><lb/><p>Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den<lb/>ſich Ariſtoteles von dem Mitleiden gemacht hat.<lb/>
Er glaubte nehmlich, daß das Uebel, welches<lb/>
der Gegenſtand unſers Mitleidens werden ſolle,<lb/>
nothwendig von der Beſchaffenheit ſeyn müſſe,<lb/>
daß wir es auch für uns ſelbſt, oder für eines<lb/>
von den Unſrigen, zu befürchten hätten. Wo<lb/>
dieſe Furcht nicht ſey, könne auch kein Mitlei-<lb/>
den Statt finden. Denn weder der, den das<lb/>
Unglück ſo tief herabgedrückt habe, daß er wei-<lb/>
ter nichts für ſich zu fürchten ſähe, noch der,<lb/>
welcher ſich ſo vollkommen glücklich glaube, daß<lb/>
er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück<lb/>
zuſtoſſen könne, weder der Verzweifelnde noch<lb/>
der Uebermüthige, pflege mit andern Mitleid<lb/>
zu haben. Er erkläret daher auch das Fürch-<lb/>
terliche und das Mitleidswürdige, eines durch<lb/>
das andere. Alles das, ſagt er, iſt uns fürch-<lb/>
terlich, was, wenn es einem andern begegnet<lb/>
wäre, oder begegnen ſollte, unſer Mitleid er-<lb/>
wecken würde: <notexml:id="seg2pn_20_1"next="#seg2pn_20_2"place="foot"n="(*)">Ὡςδ᾽ἁπλωςεἰπειν, φοϐεϱαἐςιν, ὀσα<gapreason="fm"unit="chars"quantity="1"/>ἑτερων<lb/>γιγνομενα, ἠμελλοντα, ἐλεειναἐςιν. Jch weiß<lb/>
nicht, was dem Aemilius Portus (in ſeiner<lb/>
Ausgabe der Rhetorik, <hirendition="#aq">Spiræ</hi> 1598.) einge-<lb/>
kommen iſt, dieſes zu überſetzen: <hirendition="#aq">Denique<lb/>
ut ſimpliciter loquar, formidabilia ſunt,</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">quæ-</hi></fw></note> und alles das finden wir<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mit-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[180/0186]
leid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht,
erregen könne und dürfe?
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den
ſich Ariſtoteles von dem Mitleiden gemacht hat.
Er glaubte nehmlich, daß das Uebel, welches
der Gegenſtand unſers Mitleidens werden ſolle,
nothwendig von der Beſchaffenheit ſeyn müſſe,
daß wir es auch für uns ſelbſt, oder für eines
von den Unſrigen, zu befürchten hätten. Wo
dieſe Furcht nicht ſey, könne auch kein Mitlei-
den Statt finden. Denn weder der, den das
Unglück ſo tief herabgedrückt habe, daß er wei-
ter nichts für ſich zu fürchten ſähe, noch der,
welcher ſich ſo vollkommen glücklich glaube, daß
er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück
zuſtoſſen könne, weder der Verzweifelnde noch
der Uebermüthige, pflege mit andern Mitleid
zu haben. Er erkläret daher auch das Fürch-
terliche und das Mitleidswürdige, eines durch
das andere. Alles das, ſagt er, iſt uns fürch-
terlich, was, wenn es einem andern begegnet
wäre, oder begegnen ſollte, unſer Mitleid er-
wecken würde: (*) und alles das finden wir
mit-
(*) Ὡς δ᾽ ἁπλως εἰπειν, φοϐεϱα ἐςιν, ὀσα _ ἑτερων
γιγνομενα, ἠ μελλοντα, ἐλεεινα ἐςιν. Jch weiß
nicht, was dem Aemilius Portus (in ſeiner
Ausgabe der Rhetorik, Spiræ 1598.) einge-
kommen iſt, dieſes zu überſetzen: Denique
ut ſimpliciter loquar, formidabilia ſunt,
quæ-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/186>, abgerufen am 16.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.