Nach jener versteht er unter der Fabel, eine un- ter der wohlgerathenen Allegorie einer ähn- lichen Handlung verkleidete Lehre und Unter- weisung. -- Der klare, übersetzte de la Motte! Und der ein wenig gewässerte: könnte man noch dazusetzen. Denn was sollen die Beywörter: wohlgerathene Allegorie; ähnliche Handlung? Sie sind höchst überflüssig.
Doch ich habe eine andere wichtigere Anmerkung auf ihn versparet. Richer sagt: die Lehre solle unter dem allegorischen Bilde versteckt (cache) seyn. Versteckt! welch ein unschickliches Wort! In man- chem Räthsel sind Wahrheiten, in den Pythagori- schen Denksprüchen sind moralische Lehren versteckt; aber in keiner Fabel. Die Klahrheit, die Lebhaf- tigkeit, mit welcher die Lehre aus allen Theilen einer guten Fabel auf einmal hervor strahlet, hätte durch ein ander Wort, als durch das ganz widersprechen- de versteckt, ausgedrückt zu werden verdienet. Sein Vorgänger de la Motte hatte sich um ein gut Theil feiner erklärt; er sagt doch nur, verkleidet (deguise). Aber auch verkleidet ist noch viel zu
unrichtig,
Nach jener verſteht er unter der Fabel, eine un- ter der wohlgerathenen Allegorie einer ähn- lichen Handlung verkleidete Lehre und Unter- weiſung. — Der klare, überſetzte de la Motte! Und der ein wenig gewäſſerte: könnte man noch dazuſetzen. Denn was ſollen die Beywörter: wohlgerathene Allegorie; ähnliche Handlung? Sie ſind höchſt überflüſſig.
Doch ich habe eine andere wichtigere Anmerkung auf ihn verſparet. Richer ſagt: die Lehre ſolle unter dem allegoriſchen Bilde verſteckt (caché) ſeyn. Verſteckt! welch ein unſchickliches Wort! In man- chem Räthſel ſind Wahrheiten, in den Pythagori- ſchen Denkſprüchen ſind moraliſche Lehren verſteckt; aber in keiner Fabel. Die Klahrheit, die Lebhaf- tigkeit, mit welcher die Lehre aus allen Theilen einer guten Fabel auf einmal hervor ſtrahlet, hätte durch ein ander Wort, als durch das ganz widerſprechen- de verſteckt, ausgedrückt zu werden verdienet. Sein Vorgänger de la Motte hatte ſich um ein gut Theil feiner erklärt; er ſagt doch nur, verkleidet (deguiſé). Aber auch verkleidet iſt noch viel zu
unrichtig,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0161"n="141"/><p>Nach jener verſteht er unter der Fabel, <hirendition="#fr">eine un-<lb/>
ter der wohlgerathenen Allegorie einer ähn-<lb/>
lichen Handlung verkleidete Lehre und Unter-<lb/>
weiſung</hi>. — Der klare, überſetzte <hirendition="#fr">de la Motte</hi>!<lb/>
Und der ein wenig gewäſſerte: könnte man noch<lb/>
dazuſetzen. Denn was ſollen die Beywörter:<lb/><hirendition="#fr">wohlgerathene</hi> Allegorie; <hirendition="#fr">ähnliche</hi> Handlung?<lb/>
Sie ſind höchſt überflüſſig.</p><lb/><p>Doch ich habe eine andere wichtigere Anmerkung<lb/>
auf ihn verſparet. <hirendition="#fr">Richer</hi>ſagt: die Lehre ſolle<lb/>
unter dem allegoriſchen Bilde <hirendition="#fr">verſteckt</hi> (<hirendition="#aq">caché</hi>) ſeyn.<lb/>
Verſteckt! welch ein unſchickliches Wort! In man-<lb/>
chem <hirendition="#fr">Räthſel</hi>ſind Wahrheiten, in den Pythagori-<lb/>ſchen Denkſprüchen ſind moraliſche Lehren <hirendition="#fr">verſteckt</hi>;<lb/>
aber in keiner Fabel. Die Klahrheit, die Lebhaf-<lb/>
tigkeit, mit welcher die Lehre aus allen Theilen einer<lb/>
guten Fabel auf einmal hervor ſtrahlet, hätte durch<lb/>
ein ander Wort, als durch das ganz widerſprechen-<lb/>
de <hirendition="#fr">verſteckt</hi>, ausgedrückt zu werden verdienet.<lb/>
Sein Vorgänger <hirendition="#fr">de la Motte</hi> hatte ſich um ein<lb/>
gut Theil feiner erklärt; er ſagt doch nur, <hirendition="#fr">verkleidet</hi><lb/>
(<hirendition="#aq">deguiſé</hi>). Aber auch <hirendition="#fr">verkleidet</hi> iſt noch viel zu<lb/><fwplace="bottom"type="catch">unrichtig,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[141/0161]
Nach jener verſteht er unter der Fabel, eine un-
ter der wohlgerathenen Allegorie einer ähn-
lichen Handlung verkleidete Lehre und Unter-
weiſung. — Der klare, überſetzte de la Motte!
Und der ein wenig gewäſſerte: könnte man noch
dazuſetzen. Denn was ſollen die Beywörter:
wohlgerathene Allegorie; ähnliche Handlung?
Sie ſind höchſt überflüſſig.
Doch ich habe eine andere wichtigere Anmerkung
auf ihn verſparet. Richer ſagt: die Lehre ſolle
unter dem allegoriſchen Bilde verſteckt (caché) ſeyn.
Verſteckt! welch ein unſchickliches Wort! In man-
chem Räthſel ſind Wahrheiten, in den Pythagori-
ſchen Denkſprüchen ſind moraliſche Lehren verſteckt;
aber in keiner Fabel. Die Klahrheit, die Lebhaf-
tigkeit, mit welcher die Lehre aus allen Theilen einer
guten Fabel auf einmal hervor ſtrahlet, hätte durch
ein ander Wort, als durch das ganz widerſprechen-
de verſteckt, ausgedrückt zu werden verdienet.
Sein Vorgänger de la Motte hatte ſich um ein
gut Theil feiner erklärt; er ſagt doch nur, verkleidet
(deguiſé). Aber auch verkleidet iſt noch viel zu
unrichtig,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/161>, abgerufen am 18.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.