"schuldiget den Fuchs eines Diebstahls. Der Fuchs "leugnet die That. Der Affe soll Richter seyn. Klä- "ger und Beklagter bringen ihre Gründe und Gegen- "gründe vor. Endlich schreitet der Affe zum Urtheil *: Tu non videris perdidisse, quod petis; Te credo surripuisse, quod pulchre negas.
Die Fabel ist aus; denn in dem Urtheil des Affen lieget die Moral, die der Fabulist zum Augenmerke gehabt hat. Ist aber das Unternehmen aus, das uns der Anfang derselben verspricht? Man bringe diese Geschichte in Gedanken auf die komische Büh- ne, und man wird sogleich sehen, daß sie durch einen sinnreichen Einfall abgeschnitten, aber nicht geendigt ist. Der Zuschauer ist nicht zufrieden, wenn er voraus siehet, daß die Streitigkeit hinter der Seene wieder von vorne angehen muß. --
"Ein "armer geplagter Greis ward unwillig, warf seine "Last von dem Rücken, und rief den Tod. Der "Tod erscheinet. Der Greis erschrickt und fühlt be- "troffen, daß elend leben doch besser als gar nicht "leben ist. Nun, was soll ich? fragt der Tod. Ach,
"lieber
*Phaedrus libr. 1. Fab. 10.
„ſchuldiget den Fuchs eines Diebſtahls. Der Fuchs „leugnet die That. Der Affe ſoll Richter ſeyn. Klä- „ger und Beklagter bringen ihre Gründe und Gegen- „gründe vor. Endlich ſchreitet der Affe zum Urtheil *: Tu non videris perdidiſſe, quod petis; Te credo ſurripuiſſe, quod pulchre negas.
Die Fabel iſt aus; denn in dem Urtheil des Affen lieget die Moral, die der Fabuliſt zum Augenmerke gehabt hat. Iſt aber das Unternehmen aus, das uns der Anfang derſelben verſpricht? Man bringe dieſe Geſchichte in Gedanken auf die komiſche Büh- ne, und man wird ſogleich ſehen, daß ſie durch einen ſinnreichen Einfall abgeſchnitten, aber nicht geendigt iſt. Der Zuſchauer iſt nicht zufrieden, wenn er voraus ſiehet, daß die Streitigkeit hinter der Seene wieder von vorne angehen muß. —
„Ein „armer geplagter Greis ward unwillig, warf ſeine „Laſt von dem Rücken, und rief den Tod. Der „Tod erſcheinet. Der Greis erſchrickt und fühlt be- „troffen, daß elend leben doch beſſer als gar nicht „leben iſt. Nun, was ſoll ich? fragt der Tod. Ach,
„lieber
*Phædrus libr. 1. Fab. 10.
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„ſchuldiget den Fuchs eines Diebſtahls. Der Fuchs
„leugnet die That. Der Affe ſoll Richter ſeyn. Klä-
„ger und Beklagter bringen ihre Gründe und Gegen-
„gründe vor. Endlich ſchreitet der Affe zum Urtheil *:
Tu non videris perdidiſſe, quod petis;
Te credo ſurripuiſſe, quod pulchre negas.
Die Fabel iſt aus; denn in dem Urtheil des Affen
lieget die Moral, die der Fabuliſt zum Augenmerke
gehabt hat. Iſt aber das Unternehmen aus, das
uns der Anfang derſelben verſpricht? Man bringe
dieſe Geſchichte in Gedanken auf die komiſche Büh-
ne, und man wird ſogleich ſehen, daß ſie durch
einen ſinnreichen Einfall abgeſchnitten, aber nicht
geendigt iſt. Der Zuſchauer iſt nicht zufrieden,
wenn er voraus ſiehet, daß die Streitigkeit hinter
der Seene wieder von vorne angehen muß. —
„Ein
„armer geplagter Greis ward unwillig, warf ſeine
„Laſt von dem Rücken, und rief den Tod. Der
„Tod erſcheinet. Der Greis erſchrickt und fühlt be-
„troffen, daß elend leben doch beſſer als gar nicht
„leben iſt. Nun, was ſoll ich? fragt der Tod. Ach,
„lieber
* Phædrus libr. 1. Fab. 10.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/175>, abgerufen am 17.06.2024.
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