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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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Hingegen die Geschichtswahrheiten, die
Stellen, die gleichsam im Buche der Natur nur
Einmal vorkommen, müssen durch sich selbst er-
läutert werden, oder bleiben unverständlich:
das heißt, sie können nur von denenjenigen ver-
mittelst der Sinne wahrgenommen werden, die
zu der Zeit und an dem Orte zugegen gewesen,
als sie sich in der Natur zugetragen haben. Von
jedem andern müssen sie auf Autorität und Zeug-
niß angenommen werden; und zwar die zu einer
andern Zeit leben, müssen sich schlechterdings
auf die Glaubhaftigkeit des Zeugnisses verlassen.
Denn das Bezeugte ist nicht mehr. Der Ge-
genstand und dessen unmittelbare Beobachtung,
an der sie etwa appelliren wollen, sind in der
Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne kön-
nen sich von der Wahrheit nicht überführen.
Das Ansehen des Erzählers und seine Glaub-
haftigkeit machen die einzige Evidenz in histori-
schen Dingen. Ohne Zeugniß können wir von
keiner Geschichtswahrheit überführt werden.
Ohne Autorität verschwindet die Wahrheit der
Geschichte mit dem Geschehenen selbst.

So

Hingegen die Geſchichtswahrheiten, die
Stellen, die gleichſam im Buche der Natur nur
Einmal vorkommen, muͤſſen durch ſich ſelbſt er-
laͤutert werden, oder bleiben unverſtaͤndlich:
das heißt, ſie koͤnnen nur von denenjenigen ver-
mittelſt der Sinne wahrgenommen werden, die
zu der Zeit und an dem Orte zugegen geweſen,
als ſie ſich in der Natur zugetragen haben. Von
jedem andern muͤſſen ſie auf Autoritaͤt und Zeug-
niß angenommen werden; und zwar die zu einer
andern Zeit leben, muͤſſen ſich ſchlechterdings
auf die Glaubhaftigkeit des Zeugniſſes verlaſſen.
Denn das Bezeugte iſt nicht mehr. Der Ge-
genſtand und deſſen unmittelbare Beobachtung,
an der ſie etwa appelliren wollen, ſind in der
Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne koͤn-
nen ſich von der Wahrheit nicht uͤberfuͤhren.
Das Anſehen des Erzaͤhlers und ſeine Glaub-
haftigkeit machen die einzige Evidenz in hiſtori-
ſchen Dingen. Ohne Zeugniß koͤnnen wir von
keiner Geſchichtswahrheit uͤberfuͤhrt werden.
Ohne Autoritaͤt verſchwindet die Wahrheit der
Geſchichte mit dem Geſchehenen ſelbſt.

So
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[38/0140] Hingegen die Geſchichtswahrheiten, die Stellen, die gleichſam im Buche der Natur nur Einmal vorkommen, muͤſſen durch ſich ſelbſt er- laͤutert werden, oder bleiben unverſtaͤndlich: das heißt, ſie koͤnnen nur von denenjenigen ver- mittelſt der Sinne wahrgenommen werden, die zu der Zeit und an dem Orte zugegen geweſen, als ſie ſich in der Natur zugetragen haben. Von jedem andern muͤſſen ſie auf Autoritaͤt und Zeug- niß angenommen werden; und zwar die zu einer andern Zeit leben, muͤſſen ſich ſchlechterdings auf die Glaubhaftigkeit des Zeugniſſes verlaſſen. Denn das Bezeugte iſt nicht mehr. Der Ge- genſtand und deſſen unmittelbare Beobachtung, an der ſie etwa appelliren wollen, ſind in der Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne koͤn- nen ſich von der Wahrheit nicht uͤberfuͤhren. Das Anſehen des Erzaͤhlers und ſeine Glaub- haftigkeit machen die einzige Evidenz in hiſtori- ſchen Dingen. Ohne Zeugniß koͤnnen wir von keiner Geſchichtswahrheit uͤberfuͤhrt werden. Ohne Autoritaͤt verſchwindet die Wahrheit der Geſchichte mit dem Geſchehenen ſelbſt. So

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/140>, abgerufen am 20.05.2024.