So halte ich denn an der Meinung fest, die Arbeit, so lange sie innerhalb gewisser Schranken bleibt, ist unsre Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter sind aber nie zu- gleich Schmeichler, sondern ernste, strenge Lehrer, deshalb wenig geliebt, viel verkannt, geschmäht, verläumdet. Auch die Arbeit hat dieses Schicksal. Hören wir die Curgäste, sie werden fast alle behaupten, die meisten auch wirklich glauben, daß es allein oder doch hauptsächlich das Tagewerk war, das ihre Gesundheit untergrub und ihre Nerven rebellisch machte: der Beruf mit seinen Ansprüchen und Schädlichkeiten. Stellt nun aber der Arzt mit jedem dieser Märtyrer der Arbeit ein Verhör an über ihre Lebensweise, so zeigt sich, daß überall so viel Anderes geschah, welches auch, welches allein an Allem schuld sein kann, daß ich keck behaupte -- -- nein, ich will nichts behaupten, sondern nur eine Frage thun: wie viele unter tausend Fällen mögen wohl sein, in denen eine absolute Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit, dessen Folge Zerrüttung der Gesundheit ist, wo sonst nichts hinzukam, das mindestens als Mitursache zu betrachten wäre? --
Was soll nun aber jenem Weltgesetze gegenüber Einer thun, der mit seiner Geburt in unsrer Zone auf Thätigkeit gewiesen, und doch durch körperliche oder geistige Dinge daran gehindert und zu Müßiggang verurtheilt ist? Auswandern in die Länder der Palmen, wo sich leichter ungestraft faulenzen läßt? -- Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die Europäer von der Langenweile weit ärger als von Insecten und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira, Algier, Aegypten ertappen sich Nordländer oft auf den ärgerlichsten Grillen, der Himmel ist ihnen zu blau, die immergrünen Laubbäume machen sie ungeduldig und die ewig lächelnde Flora ist eine ennuyante, zudringliche Person. Mit Flucht ist also nichts gethan, im Gegentheil lauern überall geheime Agenten, um Deserteurs, die sich der von Land und Stamm ihnen auferlegten Dienstpflicht entziehen wollen, zu
V. Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang.
So halte ich denn an der Meinung feſt, die Arbeit, ſo lange ſie innerhalb gewiſſer Schranken bleibt, iſt unſre Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter ſind aber nie zu- gleich Schmeichler, ſondern ernſte, ſtrenge Lehrer, deshalb wenig geliebt, viel verkannt, geſchmäht, verläumdet. Auch die Arbeit hat dieſes Schickſal. Hören wir die Curgäſte, ſie werden faſt alle behaupten, die meiſten auch wirklich glauben, daß es allein oder doch hauptſächlich das Tagewerk war, das ihre Geſundheit untergrub und ihre Nerven rebelliſch machte: der Beruf mit ſeinen Anſprüchen und Schädlichkeiten. Stellt nun aber der Arzt mit jedem dieſer Märtyrer der Arbeit ein Verhör an über ihre Lebensweiſe, ſo zeigt ſich, daß überall ſo viel Anderes geſchah, welches auch, welches allein an Allem ſchuld ſein kann, daß ich keck behaupte — — nein, ich will nichts behaupten, ſondern nur eine Frage thun: wie viele unter tauſend Fällen mögen wohl ſein, in denen eine abſolute Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit, deſſen Folge Zerrüttung der Geſundheit iſt, wo ſonſt nichts hinzukam, das mindeſtens als Miturſache zu betrachten wäre? —
Was ſoll nun aber jenem Weltgeſetze gegenüber Einer thun, der mit ſeiner Geburt in unſrer Zone auf Thätigkeit gewieſen, und doch durch körperliche oder geiſtige Dinge daran gehindert und zu Müßiggang verurtheilt iſt? Auswandern in die Länder der Palmen, wo ſich leichter ungeſtraft faulenzen läßt? — Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die Europäer von der Langenweile weit ärger als von Inſecten und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira, Algier, Aegypten ertappen ſich Nordländer oft auf den ärgerlichſten Grillen, der Himmel iſt ihnen zu blau, die immergrünen Laubbäume machen ſie ungeduldig und die ewig lächelnde Flora iſt eine ennuyante, zudringliche Perſon. Mit Flucht iſt alſo nichts gethan, im Gegentheil lauern überall geheime Agenten, um Deſerteurs, die ſich der von Land und Stamm ihnen auferlegten Dienſtpflicht entziehen wollen, zu
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V. Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang.
So halte ich denn an der Meinung feſt, die Arbeit,
ſo lange ſie innerhalb gewiſſer Schranken bleibt, iſt unſre
Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter ſind aber nie zu-
gleich Schmeichler, ſondern ernſte, ſtrenge Lehrer, deshalb
wenig geliebt, viel verkannt, geſchmäht, verläumdet. Auch
die Arbeit hat dieſes Schickſal. Hören wir die Curgäſte, ſie
werden faſt alle behaupten, die meiſten auch wirklich glauben,
daß es allein oder doch hauptſächlich das Tagewerk war, das
ihre Geſundheit untergrub und ihre Nerven rebelliſch machte:
der Beruf mit ſeinen Anſprüchen und Schädlichkeiten. Stellt
nun aber der Arzt mit jedem dieſer Märtyrer der Arbeit ein
Verhör an über ihre Lebensweiſe, ſo zeigt ſich, daß überall
ſo viel Anderes geſchah, welches auch, welches allein an Allem
ſchuld ſein kann, daß ich keck behaupte — — nein, ich will
nichts behaupten, ſondern nur eine Frage thun: wie viele
unter tauſend Fällen mögen wohl ſein, in denen eine abſolute
Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit,
deſſen Folge Zerrüttung der Geſundheit iſt, wo ſonſt nichts
hinzukam, das mindeſtens als Miturſache zu betrachten
wäre? —
Was ſoll nun aber jenem Weltgeſetze gegenüber Einer
thun, der mit ſeiner Geburt in unſrer Zone auf Thätigkeit
gewieſen, und doch durch körperliche oder geiſtige Dinge daran
gehindert und zu Müßiggang verurtheilt iſt? Auswandern
in die Länder der Palmen, wo ſich leichter ungeſtraft faulenzen
läßt? — Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die
Europäer von der Langenweile weit ärger als von Inſecten
und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira,
Algier, Aegypten ertappen ſich Nordländer oft auf den
ärgerlichſten Grillen, der Himmel iſt ihnen zu blau, die
immergrünen Laubbäume machen ſie ungeduldig und die ewig
lächelnde Flora iſt eine ennuyante, zudringliche Perſon. Mit
Flucht iſt alſo nichts gethan, im Gegentheil lauern überall
geheime Agenten, um Deſerteurs, die ſich der von Land und
Stamm ihnen auferlegten Dienſtpflicht entziehen wollen, zu
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/169>, abgerufen am 17.06.2024.
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