Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793.
Es giebt einen Grad von Kultur, diesen mag der einzelne Mensch, so wie ein ganzes Volk erreichen, aber drüber hinaus liegt beider unvermeidliches Elend. Wie oft soll euch dies die Geschichte der Menschheit noch lehren? -- Und doch! in welche liebliche Träume wiegt euch nicht die Rückerinnerung! Welche süßere Hofnung habt ihr als die Hofnung künftigen Andenkens? Was soll euch dieser unsterbliche Funke, diese Anlage zur Ewigkeit, wenn doch alles so eitel ist, ihr doch immer nur bis auf dasselbe Fleckgen kommt? -- O Natur! Jch eil' aus diesem Leben hinweg, das mir nicht einmal den Wahn der Täuschung gewährt. Nimm mich auf in deinen ewigen Kreislauf, gieb mich den Elementen zurück, und muß ich ja wieder eine Zusammensetzung erhalten, so möge es nur diese unglücküche Menschenform nicht seyn, der dein Spott nur Wünsche und bange Zweifel zum Vorzug gab.
Es giebt einen Grad von Kultur, diesen mag der einzelne Mensch, so wie ein ganzes Volk erreichen, aber druͤber hinaus liegt beider unvermeidliches Elend. Wie oft soll euch dies die Geschichte der Menschheit noch lehren? — Und doch! in welche liebliche Traͤume wiegt euch nicht die Ruͤckerinnerung! Welche suͤßere Hofnung habt ihr als die Hofnung kuͤnftigen Andenkens? Was soll euch dieser unsterbliche Funke, diese Anlage zur Ewigkeit, wenn doch alles so eitel ist, ihr doch immer nur bis auf dasselbe Fleckgen kommt? — O Natur! Jch eil' aus diesem Leben hinweg, das mir nicht einmal den Wahn der Taͤuschung gewaͤhrt. Nimm mich auf in deinen ewigen Kreislauf, gieb mich den Elementen zuruͤck, und muß ich ja wieder eine Zusammensetzung erhalten, so moͤge es nur diese ungluͤckuͤche Menschenform nicht seyn, der dein Spott nur Wuͤnsche und bange Zweifel zum Vorzug gab. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0124" n="124"/><lb/> keinen hingeleitet. So wie der einzelne Mensch, und hinterließ er noch so viele Spuren seines Daseyns, vergeht und seine Thaten nach und nach mißverstanden werden, jeder sein Werk immer wieder von <choice><corr>forn</corr><sic>fern</sic></choice> anfaͤngt, so sinken Nationen hin, und ihre Tempel werden zerstoͤrt, ihre Heiligthuͤmer geraubt, geschaͤndet, ihre Schoͤnheiten getrennt, ihre Weisheit nicht verstanden, und ihr Geist verfliegt und theilt sich keiner andern mit, keine vermag den Bau der vorigen fortzufuͤhren.</p> <p>Es giebt einen Grad von Kultur, diesen mag der einzelne Mensch, so wie ein ganzes Volk erreichen, aber druͤber hinaus liegt beider unvermeidliches Elend. Wie oft soll euch dies die Geschichte der Menschheit noch lehren? —</p> <p>Und doch! in welche liebliche Traͤume wiegt euch nicht die Ruͤckerinnerung! Welche suͤßere Hofnung habt ihr als die Hofnung kuͤnftigen Andenkens? Was soll euch dieser unsterbliche Funke, diese Anlage zur Ewigkeit, wenn doch alles so eitel ist, ihr doch immer nur bis auf dasselbe <choice><corr>Fleckgen</corr><sic>Fludgen</sic></choice> kommt? —</p> <p>O Natur! Jch eil' aus diesem Leben hinweg, das mir nicht einmal den Wahn der Taͤuschung gewaͤhrt. Nimm mich auf in deinen ewigen Kreislauf, gieb mich den Elementen zuruͤck, und muß ich ja wieder eine Zusammensetzung erhalten, so moͤge es nur diese ungluͤckuͤche Menschenform <choice><corr>nicht</corr><sic>nichts</sic></choice> seyn, der dein Spott nur Wuͤnsche und bange Zweifel zum Vorzug gab.</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0124]
keinen hingeleitet. So wie der einzelne Mensch, und hinterließ er noch so viele Spuren seines Daseyns, vergeht und seine Thaten nach und nach mißverstanden werden, jeder sein Werk immer wieder von forn anfaͤngt, so sinken Nationen hin, und ihre Tempel werden zerstoͤrt, ihre Heiligthuͤmer geraubt, geschaͤndet, ihre Schoͤnheiten getrennt, ihre Weisheit nicht verstanden, und ihr Geist verfliegt und theilt sich keiner andern mit, keine vermag den Bau der vorigen fortzufuͤhren.
Es giebt einen Grad von Kultur, diesen mag der einzelne Mensch, so wie ein ganzes Volk erreichen, aber druͤber hinaus liegt beider unvermeidliches Elend. Wie oft soll euch dies die Geschichte der Menschheit noch lehren? —
Und doch! in welche liebliche Traͤume wiegt euch nicht die Ruͤckerinnerung! Welche suͤßere Hofnung habt ihr als die Hofnung kuͤnftigen Andenkens? Was soll euch dieser unsterbliche Funke, diese Anlage zur Ewigkeit, wenn doch alles so eitel ist, ihr doch immer nur bis auf dasselbe Fleckgen kommt? —
O Natur! Jch eil' aus diesem Leben hinweg, das mir nicht einmal den Wahn der Taͤuschung gewaͤhrt. Nimm mich auf in deinen ewigen Kreislauf, gieb mich den Elementen zuruͤck, und muß ich ja wieder eine Zusammensetzung erhalten, so moͤge es nur diese ungluͤckuͤche Menschenform nicht seyn, der dein Spott nur Wuͤnsche und bange Zweifel zum Vorzug gab.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01002_1793/124>, abgerufen am 15.06.2024. |