Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.
Einst ging er auf einem öffentlichen Spazierplaze mit einem seiner Freunde auf und nieder. Eine kleine Gesellschaft Frauenzimmer, worunter auch ein achtzehnjähriges Fräulein war, kam ihm entgegen. Er sah von ohngefähr die Damen eine nach der andern flüchtig an. Gott! ist's möglich? das arme Fräulein! Sie dauert mich. Dies sprach er, daß es nur sein Gesellschafter vernehmen konnte, wandte sich darauf zu diesem und sagte: Sehen Sie den Engel, sie blühet wie eine junge Rose, denkt heute gewiß an nichts weniger als ans Sterben, aber sie wird bald, sehr bald sterben. Kommen Sie, Freund, fuhr er mit wehmüthigem Ton fort, ich kann den Anblick nicht länger aushalten. Sie gingen zu Hause. Vier Tage nachher trug man das junge Fräulein zu Grabe. Jch habe es noch nicht gewagt, über diese Sache weiter etwas zu sagen, als sie zu erzählen. Wäre dies der einzige Fall, so würde ich bald mit der Antwort fertig seyn: es war Zufall. Aber wo sollen wir die Ursach dieses Vermögens bei dem Mann suchen? Etwa in den Augen des Mannes? Aber ich glaube, wenn wir sie einst anatomisch zerlegen könnten, unsere Mühe würde vergeblich seyn. Was bleibt also übrig? -- Das wäre ich begierig zu hören. Stettin, den 15ten Jenner 1784. Liphardt.
Einst ging er auf einem oͤffentlichen Spazierplaze mit einem seiner Freunde auf und nieder. Eine kleine Gesellschaft Frauenzimmer, worunter auch ein achtzehnjaͤhriges Fraͤulein war, kam ihm entgegen. Er sah von ohngefaͤhr die Damen eine nach der andern fluͤchtig an. Gott! ist's moͤglich? das arme Fraͤulein! Sie dauert mich. Dies sprach er, daß es nur sein Gesellschafter vernehmen konnte, wandte sich darauf zu diesem und sagte: Sehen Sie den Engel, sie bluͤhet wie eine junge Rose, denkt heute gewiß an nichts weniger als ans Sterben, aber sie wird bald, sehr bald sterben. Kommen Sie, Freund, fuhr er mit wehmuͤthigem Ton fort, ich kann den Anblick nicht laͤnger aushalten. Sie gingen zu Hause. Vier Tage nachher trug man das junge Fraͤulein zu Grabe. Jch habe es noch nicht gewagt, uͤber diese Sache weiter etwas zu sagen, als sie zu erzaͤhlen. Waͤre dies der einzige Fall, so wuͤrde ich bald mit der Antwort fertig seyn: es war Zufall. Aber wo sollen wir die Ursach dieses Vermoͤgens bei dem Mann suchen? Etwa in den Augen des Mannes? Aber ich glaube, wenn wir sie einst anatomisch zerlegen koͤnnten, unsere Muͤhe wuͤrde vergeblich seyn. Was bleibt also uͤbrig? ― Das waͤre ich begierig zu hoͤren. Stettin, den 15ten Jenner 1784. Liphardt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0017" n="17"/><lb/> im Grabe gelegen, gelb und todten blaß, und wenn sie auch fuͤr jeden andern wie Rosen bluͤhen.</p> <p>Einst ging er auf einem oͤffentlichen Spazierplaze mit einem seiner Freunde auf und nieder. Eine kleine Gesellschaft Frauenzimmer, worunter auch ein achtzehnjaͤhriges Fraͤulein war, kam ihm entgegen.</p> <p>Er sah von ohngefaͤhr die Damen eine nach der andern fluͤchtig an. Gott! ist's moͤglich? das arme Fraͤulein! Sie dauert mich.</p> <p>Dies sprach er, daß es nur sein Gesellschafter vernehmen konnte, wandte sich darauf zu diesem und sagte: Sehen Sie den Engel, sie bluͤhet wie eine junge Rose, denkt heute gewiß an nichts weniger als ans Sterben, aber sie wird bald, sehr bald sterben.</p> <p>Kommen Sie, Freund, fuhr er mit wehmuͤthigem Ton fort, ich kann den Anblick nicht laͤnger aushalten. Sie gingen zu Hause. Vier Tage nachher trug man das junge Fraͤulein zu Grabe.</p> <p>Jch habe es noch nicht gewagt, uͤber diese Sache weiter etwas zu sagen, als sie zu erzaͤhlen. Waͤre dies der einzige Fall, so wuͤrde ich bald mit der Antwort fertig seyn: <hi rendition="#b">es war Zufall.</hi></p> <p>Aber wo sollen wir die Ursach dieses Vermoͤgens bei dem Mann suchen? Etwa in den Augen des Mannes? Aber ich glaube, wenn wir sie einst anatomisch zerlegen koͤnnten, unsere Muͤhe wuͤrde vergeblich seyn. Was bleibt also uͤbrig? ― Das waͤre ich begierig zu hoͤren.</p> <p>Stettin, den 15ten Jenner 1784.</p> <p rendition="#right"> <hi rendition="#b"> <persName ref="#ref0156"><note type="editorial">Liphardt</note>Liphardt.</persName> </hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [17/0017]
im Grabe gelegen, gelb und todten blaß, und wenn sie auch fuͤr jeden andern wie Rosen bluͤhen.
Einst ging er auf einem oͤffentlichen Spazierplaze mit einem seiner Freunde auf und nieder. Eine kleine Gesellschaft Frauenzimmer, worunter auch ein achtzehnjaͤhriges Fraͤulein war, kam ihm entgegen.
Er sah von ohngefaͤhr die Damen eine nach der andern fluͤchtig an. Gott! ist's moͤglich? das arme Fraͤulein! Sie dauert mich.
Dies sprach er, daß es nur sein Gesellschafter vernehmen konnte, wandte sich darauf zu diesem und sagte: Sehen Sie den Engel, sie bluͤhet wie eine junge Rose, denkt heute gewiß an nichts weniger als ans Sterben, aber sie wird bald, sehr bald sterben.
Kommen Sie, Freund, fuhr er mit wehmuͤthigem Ton fort, ich kann den Anblick nicht laͤnger aushalten. Sie gingen zu Hause. Vier Tage nachher trug man das junge Fraͤulein zu Grabe.
Jch habe es noch nicht gewagt, uͤber diese Sache weiter etwas zu sagen, als sie zu erzaͤhlen. Waͤre dies der einzige Fall, so wuͤrde ich bald mit der Antwort fertig seyn: es war Zufall.
Aber wo sollen wir die Ursach dieses Vermoͤgens bei dem Mann suchen? Etwa in den Augen des Mannes? Aber ich glaube, wenn wir sie einst anatomisch zerlegen koͤnnten, unsere Muͤhe wuͤrde vergeblich seyn. Was bleibt also uͤbrig? ― Das waͤre ich begierig zu hoͤren.
Stettin, den 15ten Jenner 1784.
Liphardt.
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