Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Jndessen wird die Semiotik der Psychologie für jeden Fall besondere Symptome aufzeigen, da die individuellen Umstände immer gewisse Besonderheiten und Einschränkungen mit sich führen, und der Selbstbeobachter oft am richtigsten von solchen labyrinthischen Verirrungen urtheilen können. Bey der meinigen muß insonderheit das Alter, wo sich nur erst die zartesten Keime des künftigen Charakters zeigen, in Betracht genommen werden, da keine von den gewöhnlichen Ursachen des Mords und Todschlags, an deren Spitze die Verzweiflung steht, dabey statt finden konnten. Jene Jahre, wo der Jüngling, bey dem feinern Gewebe und der daher stärkern Reitzbarkeit der Gehirnfibern, aller Eindrücke fähig, mit dem Gang der Leidenschaft und mit den Blendwerken der Einbildungskraft noch gar nicht bekannt ist; und die Unvernunft solcher Vorstellungen nicht einsehen kann, daher in der Bestürzung oft den gefährlichsten Ausweg sucht; diese Jahre scheinen dieser versuchten Beleuchtung noch besonders günstig zu seyn. Jn spätern könnte ein solcher Gemüthszustand nur bey der äußersten Seelen- und Körperschwäche eintreten, Verstand und Wille würden so lange in Widerspruch nicht geblieben seyn.
Jndessen wird die Semiotik der Psychologie fuͤr jeden Fall besondere Symptome aufzeigen, da die individuellen Umstaͤnde immer gewisse Besonderheiten und Einschraͤnkungen mit sich fuͤhren, und der Selbstbeobachter oft am richtigsten von solchen labyrinthischen Verirrungen urtheilen koͤnnen. Bey der meinigen muß insonderheit das Alter, wo sich nur erst die zartesten Keime des kuͤnftigen Charakters zeigen, in Betracht genommen werden, da keine von den gewoͤhnlichen Ursachen des Mords und Todschlags, an deren Spitze die Verzweiflung steht, dabey statt finden konnten. Jene Jahre, wo der Juͤngling, bey dem feinern Gewebe und der daher staͤrkern Reitzbarkeit der Gehirnfibern, aller Eindruͤcke faͤhig, mit dem Gang der Leidenschaft und mit den Blendwerken der Einbildungskraft noch gar nicht bekannt ist; und die Unvernunft solcher Vorstellungen nicht einsehen kann, daher in der Bestuͤrzung oft den gefaͤhrlichsten Ausweg sucht; diese Jahre scheinen dieser versuchten Beleuchtung noch besonders guͤnstig zu seyn. Jn spaͤtern koͤnnte ein solcher Gemuͤthszustand nur bey der aͤußersten Seelen- und Koͤrperschwaͤche eintreten, Verstand und Wille wuͤrden so lange in Widerspruch nicht geblieben seyn. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0077" n="77"/><lb/> leichter bemeistert sie sich der ganzen Kraft der Seele.</p> <p>Jndessen wird die Semiotik der Psychologie fuͤr jeden Fall besondere Symptome aufzeigen, da die individuellen Umstaͤnde immer gewisse Besonderheiten und Einschraͤnkungen mit sich fuͤhren, und der Selbstbeobachter oft am richtigsten von solchen labyrinthischen Verirrungen urtheilen koͤnnen. Bey der meinigen muß insonderheit das Alter, wo sich nur erst die zartesten Keime des kuͤnftigen Charakters zeigen, in Betracht genommen werden, da keine von den gewoͤhnlichen Ursachen des Mords und Todschlags, an deren Spitze die Verzweiflung steht, dabey statt finden konnten. Jene Jahre, wo der Juͤngling, bey dem feinern Gewebe und der daher staͤrkern Reitzbarkeit der Gehirnfibern, aller Eindruͤcke faͤhig, mit dem Gang der Leidenschaft und mit den Blendwerken der Einbildungskraft noch gar nicht bekannt ist; und die Unvernunft solcher Vorstellungen nicht einsehen kann, daher in der Bestuͤrzung oft den gefaͤhrlichsten Ausweg sucht; diese Jahre scheinen dieser versuchten Beleuchtung noch besonders guͤnstig zu seyn. Jn spaͤtern koͤnnte ein solcher Gemuͤthszustand nur bey der aͤußersten Seelen- und Koͤrperschwaͤche eintreten, Verstand und Wille wuͤrden so lange in Widerspruch nicht geblieben seyn. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [77/0077]
leichter bemeistert sie sich der ganzen Kraft der Seele.
Jndessen wird die Semiotik der Psychologie fuͤr jeden Fall besondere Symptome aufzeigen, da die individuellen Umstaͤnde immer gewisse Besonderheiten und Einschraͤnkungen mit sich fuͤhren, und der Selbstbeobachter oft am richtigsten von solchen labyrinthischen Verirrungen urtheilen koͤnnen. Bey der meinigen muß insonderheit das Alter, wo sich nur erst die zartesten Keime des kuͤnftigen Charakters zeigen, in Betracht genommen werden, da keine von den gewoͤhnlichen Ursachen des Mords und Todschlags, an deren Spitze die Verzweiflung steht, dabey statt finden konnten. Jene Jahre, wo der Juͤngling, bey dem feinern Gewebe und der daher staͤrkern Reitzbarkeit der Gehirnfibern, aller Eindruͤcke faͤhig, mit dem Gang der Leidenschaft und mit den Blendwerken der Einbildungskraft noch gar nicht bekannt ist; und die Unvernunft solcher Vorstellungen nicht einsehen kann, daher in der Bestuͤrzung oft den gefaͤhrlichsten Ausweg sucht; diese Jahre scheinen dieser versuchten Beleuchtung noch besonders guͤnstig zu seyn. Jn spaͤtern koͤnnte ein solcher Gemuͤthszustand nur bey der aͤußersten Seelen- und Koͤrperschwaͤche eintreten, Verstand und Wille wuͤrden so lange in Widerspruch nicht geblieben seyn.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/77>, abgerufen am 18.06.2024. |