Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.
Jener schalt ihn zuweilen, wegen seiner Ungelehrigkeit hierin. Dieser ertrug dieses aber mit der größten Geduld. Auf diese Art irrten sie in einem Bezirke von einigen wenigen Meilen beinahe ein halbes Jahr herum. Endlich entschlossen sie sich nach Polen ihre Route zu nehmen. Sie gelangten in Posen an, wo sie in dem jüdischen Armenhause, dessen Jnhaber ein armer Kleiderflicker war, einkehrten. Hier faßte Es war Herbstzeit, und fing schon an ziemlich kalt zu werden; er war beinahe nackend und baarfuß; seine Gesundheit war durch diese Art Wanderung, wo er nie etwas Ordentliches zu essen bekam, und mehrentheils mit verschimmelten Brodbrocken und Wasser vorlieb nehmen, und des Nachts auf altem Strohe, zuweilen gar auf bloßer Erde liegen mußte, sehr ruinirt. Dazu kam noch, daß die jüdischen Heiligen- oder Bußtage heranrückten, wo er, der damals ziemlich religiös war, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß er diese Zeit, die andere zu ihrem Seelenheil anwendeten, ganz im Müssiggange zubringen sollte.
Jener schalt ihn zuweilen, wegen seiner Ungelehrigkeit hierin. Dieser ertrug dieses aber mit der groͤßten Geduld. Auf diese Art irrten sie in einem Bezirke von einigen wenigen Meilen beinahe ein halbes Jahr herum. Endlich entschlossen sie sich nach Polen ihre Route zu nehmen. Sie gelangten in Posen an, wo sie in dem juͤdischen Armenhause, dessen Jnhaber ein armer Kleiderflicker war, einkehrten. Hier faßte Es war Herbstzeit, und fing schon an ziemlich kalt zu werden; er war beinahe nackend und baarfuß; seine Gesundheit war durch diese Art Wanderung, wo er nie etwas Ordentliches zu essen bekam, und mehrentheils mit verschimmelten Brodbrocken und Wasser vorlieb nehmen, und des Nachts auf altem Strohe, zuweilen gar auf bloßer Erde liegen mußte, sehr ruinirt. Dazu kam noch, daß die juͤdischen Heiligen- oder Bußtage heranruͤckten, wo er, der damals ziemlich religioͤs war, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß er diese Zeit, die andere zu ihrem Seelenheil anwendeten, ganz im Muͤssiggange zubringen sollte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0058" n="56"/><lb/> Gieng er aber allein, so wußte er gar nichts zu sagen; aber an seiner Miene und Stellung konnte man doch sehen, was ihm fehlte.</p> <p>Jener schalt ihn zuweilen, wegen seiner Ungelehrigkeit hierin. Dieser ertrug dieses aber mit der groͤßten Geduld.</p> <p>Auf diese Art irrten sie in einem Bezirke von einigen wenigen Meilen beinahe ein halbes Jahr herum. Endlich entschlossen sie sich nach Polen ihre Route zu nehmen.</p> <p>Sie gelangten in Posen an, wo sie in dem juͤdischen Armenhause, dessen Jnhaber ein armer Kleiderflicker war, einkehrten. Hier faßte <hi rendition="#b"><persName ref="#ref0003"><note type="editorial">Maimon, Salomon</note>B. J.</persName></hi> den Entschluß, seiner Wanderung, moͤge es auch kosten, was es wolle, ein Ende zu machen.</p> <p>Es war Herbstzeit, und fing schon an ziemlich kalt zu werden; er war beinahe nackend und baarfuß; seine Gesundheit war durch diese Art Wanderung, wo er nie etwas Ordentliches zu essen bekam, und mehrentheils mit verschimmelten Brodbrocken und Wasser vorlieb nehmen, und des Nachts auf altem Strohe, zuweilen gar auf bloßer Erde liegen mußte, sehr ruinirt. Dazu kam noch, daß die juͤdischen Heiligen- oder Bußtage heranruͤckten, wo er, der damals ziemlich religioͤs war, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß er diese Zeit, die andere zu ihrem Seelenheil anwendeten, ganz im Muͤssiggange zubringen sollte.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [56/0058]
Gieng er aber allein, so wußte er gar nichts zu sagen; aber an seiner Miene und Stellung konnte man doch sehen, was ihm fehlte.
Jener schalt ihn zuweilen, wegen seiner Ungelehrigkeit hierin. Dieser ertrug dieses aber mit der groͤßten Geduld.
Auf diese Art irrten sie in einem Bezirke von einigen wenigen Meilen beinahe ein halbes Jahr herum. Endlich entschlossen sie sich nach Polen ihre Route zu nehmen.
Sie gelangten in Posen an, wo sie in dem juͤdischen Armenhause, dessen Jnhaber ein armer Kleiderflicker war, einkehrten. Hier faßte B. J. den Entschluß, seiner Wanderung, moͤge es auch kosten, was es wolle, ein Ende zu machen.
Es war Herbstzeit, und fing schon an ziemlich kalt zu werden; er war beinahe nackend und baarfuß; seine Gesundheit war durch diese Art Wanderung, wo er nie etwas Ordentliches zu essen bekam, und mehrentheils mit verschimmelten Brodbrocken und Wasser vorlieb nehmen, und des Nachts auf altem Strohe, zuweilen gar auf bloßer Erde liegen mußte, sehr ruinirt. Dazu kam noch, daß die juͤdischen Heiligen- oder Bußtage heranruͤckten, wo er, der damals ziemlich religioͤs war, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß er diese Zeit, die andere zu ihrem Seelenheil anwendeten, ganz im Muͤssiggange zubringen sollte.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0901_1792/58>, abgerufen am 15.06.2024. |