denn derartige Gebote sind immer lebendig und per- sönlich. Das Wort des Vaters ist wie ein religiöses Gebot und fordert unbedingten Gehorsam.
Je mehr nun die kindliche Pietät ausgebildet ist, desto fruchtbarer ist der Boden, auf welchen die Mah- nungen des Vaters fallen, desto größer die Wahrschein- lichkeit einer guten Erziehung. Die Pietät muß darum mit allen Mitteln gefördert werden, nicht nur durch praktische Übung, sondern auch durch theoretische Aner- ziehung. In der That wird biblische Geschichte, Kate- chismus und Psalter dem japanischen Kinde durch ein Buch ersetzt, welches nur die Pietät zum Gegenstand hat. Dasselbe ist, wie das ganze System, chinesischen Ursprungs und enthält 24 Erzählungen von kindlicher Pietät, welche so charakteristisch sind, daß wir uns nicht versagen können, einige derselben im Auszug hier wieder- zugeben 1).
Es war einmal ein kleiner Knabe; der hatte eine böse, grausame Stiefmutter, von welcher er mehr Schläge als Hirse bekam. Er aber ließ sich durch nichts irre machen, streng an dem Gebot zu halten: "Du sollst deine Mutter ehren!" Nun hatte die Frau eine be- sondere Vorliebe für Fisch. Eines Tages überkam sie auch einmal wieder die Lust, Fisch zu essen. Es war aber Winter und das Wasser des Teiches war hart gefroren. Gleichwohl nahm der Knabe die Axt auf den Rücken und ging an den Teich. Aber wie er auch mit der Axt zuhieb, er brachte das Eis nicht durch. Wie er nun verzweiflungsvoll dastand, kam ihm plötz-
1) Vergl. Chamberlain "Things Japanese", und für die sämtlichen 24 Geschichten Anderson "Catalogue of Japanese and Chinese Paintings". Eine japanische Nachahmung der 24 chine- sischen Fälle erfreut sich geringerer Popularität.
denn derartige Gebote ſind immer lebendig und per- ſönlich. Das Wort des Vaters iſt wie ein religiöſes Gebot und fordert unbedingten Gehorſam.
Je mehr nun die kindliche Pietät ausgebildet iſt, deſto fruchtbarer iſt der Boden, auf welchen die Mah- nungen des Vaters fallen, deſto größer die Wahrſchein- lichkeit einer guten Erziehung. Die Pietät muß darum mit allen Mitteln gefördert werden, nicht nur durch praktiſche Übung, ſondern auch durch theoretiſche Aner- ziehung. In der That wird bibliſche Geſchichte, Kate- chismus und Pſalter dem japaniſchen Kinde durch ein Buch erſetzt, welches nur die Pietät zum Gegenſtand hat. Dasſelbe iſt, wie das ganze Syſtem, chineſiſchen Urſprungs und enthält 24 Erzählungen von kindlicher Pietät, welche ſo charakteriſtiſch ſind, daß wir uns nicht verſagen können, einige derſelben im Auszug hier wieder- zugeben 1).
Es war einmal ein kleiner Knabe; der hatte eine böſe, grauſame Stiefmutter, von welcher er mehr Schläge als Hirſe bekam. Er aber ließ ſich durch nichts irre machen, ſtreng an dem Gebot zu halten: „Du ſollſt deine Mutter ehren!“ Nun hatte die Frau eine be- ſondere Vorliebe für Fiſch. Eines Tages überkam ſie auch einmal wieder die Luſt, Fiſch zu eſſen. Es war aber Winter und das Waſſer des Teiches war hart gefroren. Gleichwohl nahm der Knabe die Axt auf den Rücken und ging an den Teich. Aber wie er auch mit der Axt zuhieb, er brachte das Eis nicht durch. Wie er nun verzweiflungsvoll daſtand, kam ihm plötz-
1) Vergl. Chamberlain „Things Japanese“, und für die ſämtlichen 24 Geſchichten Anderſon „Catalogue of Japanese and Chinese Paintings“. Eine japaniſche Nachahmung der 24 chine- ſiſchen Fälle erfreut ſich geringerer Popularität.
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denn derartige Gebote ſind immer lebendig und per-
ſönlich. Das Wort des Vaters iſt wie ein religiöſes
Gebot und fordert unbedingten Gehorſam.
Je mehr nun die kindliche Pietät ausgebildet iſt,
deſto fruchtbarer iſt der Boden, auf welchen die Mah-
nungen des Vaters fallen, deſto größer die Wahrſchein-
lichkeit einer guten Erziehung. Die Pietät muß darum
mit allen Mitteln gefördert werden, nicht nur durch
praktiſche Übung, ſondern auch durch theoretiſche Aner-
ziehung. In der That wird bibliſche Geſchichte, Kate-
chismus und Pſalter dem japaniſchen Kinde durch ein
Buch erſetzt, welches nur die Pietät zum Gegenſtand
hat. Dasſelbe iſt, wie das ganze Syſtem, chineſiſchen
Urſprungs und enthält 24 Erzählungen von kindlicher
Pietät, welche ſo charakteriſtiſch ſind, daß wir uns nicht
verſagen können, einige derſelben im Auszug hier wieder-
zugeben 1).
Es war einmal ein kleiner Knabe; der hatte eine
böſe, grauſame Stiefmutter, von welcher er mehr Schläge
als Hirſe bekam. Er aber ließ ſich durch nichts irre
machen, ſtreng an dem Gebot zu halten: „Du ſollſt
deine Mutter ehren!“ Nun hatte die Frau eine be-
ſondere Vorliebe für Fiſch. Eines Tages überkam ſie
auch einmal wieder die Luſt, Fiſch zu eſſen. Es war
aber Winter und das Waſſer des Teiches war hart
gefroren. Gleichwohl nahm der Knabe die Axt auf
den Rücken und ging an den Teich. Aber wie er auch
mit der Axt zuhieb, er brachte das Eis nicht durch.
Wie er nun verzweiflungsvoll daſtand, kam ihm plötz-
1) Vergl. Chamberlain „Things Japanese“, und für die
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ſiſchen Fälle erfreut ſich geringerer Popularität.
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/162>, abgerufen am 17.06.2024.
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