meinen Gemeindegliedern gefragt worden: "Ist der oder jener ein Christ?" Und wenn ich zur Antwort gab: "Ja gewiß doch!" so meinte man: "Wer nie in die Kirche gehe 1) (die Japaner kontrollieren scharf!) und überdies in einem "ehelichen" Verhältnis lebe, welches weder bürgerlich noch kirchlich sanktioniert sei, könne unmöglich ein Christ sein". Man muß selbst in der Situation gewesen sein, um das Peinliche derartiger Auseinandersetzungen empfinden zu können.
Das junge japanische und das alte europäische Christentum stehen sich hier in scharfer Beleuchtung ein- ander gegenüber. Dort das begeisterte Wollen, mit dem aber die kindlich schwachen Kräfte noch nicht glei- chen Schritt halten, hier die unlustige Blasiertheit, wo die Kraft des Könnens in vollem Maße vorhanden wäre. Während man sich mit dem jungen Heiden- christentum in apostolische Zeiten versetzt fühlt, bringt einen der Blick auf die europäischen Christen sofort in die nüchterne Wirklichkeit des fin de siecle zurück. Da lernt man es mit tiefer Wehmut begreifen, daß die urchristlichen Zeiten vorüber sind, da jeder Christ noch ein Missionar war, da die Kaufleute Kleinasiens bei ihrem Geschäftsaufenthalt in Rom noch das Evange- lium verkündigten, und römische Soldaten mit dem
1) Es muß mit Freuden begrüßt werden, daß seit Erbauung der centralen, leicht erreichbaren deutschen Kirche in Tokyo der Besuch von seiten unserer Landsleute ein recht befriedigender ist. Nach den von Christlieb angegebenen Zahlen findet sich in Tokyo zu jedem Gottesdienst etwa ein Drittel bis zur Hälfte der ge- samten Kolonie ein. Man wird diesen Prozentsatz in der Heimat bei Gebildeten kaum irgendwo übertroffen finden. Es würde aber noch weit besser sein, wenn weniger Junggesellen und mehr Fa- milien da wären. Die Familien sind von jeher recht kirchlich gewesen.
meinen Gemeindegliedern gefragt worden: „Iſt der oder jener ein Chriſt?“ Und wenn ich zur Antwort gab: „Ja gewiß doch!“ ſo meinte man: „Wer nie in die Kirche gehe 1) (die Japaner kontrollieren ſcharf!) und überdies in einem „ehelichen“ Verhältnis lebe, welches weder bürgerlich noch kirchlich ſanktioniert ſei, könne unmöglich ein Chriſt ſein“. Man muß ſelbſt in der Situation geweſen ſein, um das Peinliche derartiger Auseinanderſetzungen empfinden zu können.
Das junge japaniſche und das alte europäiſche Chriſtentum ſtehen ſich hier in ſcharfer Beleuchtung ein- ander gegenüber. Dort das begeiſterte Wollen, mit dem aber die kindlich ſchwachen Kräfte noch nicht glei- chen Schritt halten, hier die unluſtige Blaſiertheit, wo die Kraft des Könnens in vollem Maße vorhanden wäre. Während man ſich mit dem jungen Heiden- chriſtentum in apoſtoliſche Zeiten verſetzt fühlt, bringt einen der Blick auf die europäiſchen Chriſten ſofort in die nüchterne Wirklichkeit des fin de siècle zurück. Da lernt man es mit tiefer Wehmut begreifen, daß die urchriſtlichen Zeiten vorüber ſind, da jeder Chriſt noch ein Miſſionar war, da die Kaufleute Kleinaſiens bei ihrem Geſchäftsaufenthalt in Rom noch das Evange- lium verkündigten, und römiſche Soldaten mit dem
1) Es muß mit Freuden begrüßt werden, daß ſeit Erbauung der centralen, leicht erreichbaren deutſchen Kirche in Tokyo der Beſuch von ſeiten unſerer Landsleute ein recht befriedigender iſt. Nach den von Chriſtlieb angegebenen Zahlen findet ſich in Tokyo zu jedem Gottesdienſt etwa ein Drittel bis zur Hälfte der ge- ſamten Kolonie ein. Man wird dieſen Prozentſatz in der Heimat bei Gebildeten kaum irgendwo übertroffen finden. Es würde aber noch weit beſſer ſein, wenn weniger Junggeſellen und mehr Fa- milien da wären. Die Familien ſind von jeher recht kirchlich geweſen.
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meinen Gemeindegliedern gefragt worden: „Iſt der
oder jener ein Chriſt?“ Und wenn ich zur Antwort
gab: „Ja gewiß doch!“ ſo meinte man: „Wer nie in
die Kirche gehe 1) (die Japaner kontrollieren ſcharf!) und
überdies in einem „ehelichen“ Verhältnis lebe, welches
weder bürgerlich noch kirchlich ſanktioniert ſei, könne
unmöglich ein Chriſt ſein“. Man muß ſelbſt in der
Situation geweſen ſein, um das Peinliche derartiger
Auseinanderſetzungen empfinden zu können.
Das junge japaniſche und das alte europäiſche
Chriſtentum ſtehen ſich hier in ſcharfer Beleuchtung ein-
ander gegenüber. Dort das begeiſterte Wollen, mit
dem aber die kindlich ſchwachen Kräfte noch nicht glei-
chen Schritt halten, hier die unluſtige Blaſiertheit, wo
die Kraft des Könnens in vollem Maße vorhanden
wäre. Während man ſich mit dem jungen Heiden-
chriſtentum in apoſtoliſche Zeiten verſetzt fühlt, bringt
einen der Blick auf die europäiſchen Chriſten ſofort in
die nüchterne Wirklichkeit des fin de siècle zurück. Da
lernt man es mit tiefer Wehmut begreifen, daß die
urchriſtlichen Zeiten vorüber ſind, da jeder Chriſt noch
ein Miſſionar war, da die Kaufleute Kleinaſiens bei
ihrem Geſchäftsaufenthalt in Rom noch das Evange-
lium verkündigten, und römiſche Soldaten mit dem
1) Es muß mit Freuden begrüßt werden, daß ſeit Erbauung
der centralen, leicht erreichbaren deutſchen Kirche in Tokyo der
Beſuch von ſeiten unſerer Landsleute ein recht befriedigender iſt.
Nach den von Chriſtlieb angegebenen Zahlen findet ſich in Tokyo
zu jedem Gottesdienſt etwa ein Drittel bis zur Hälfte der ge-
ſamten Kolonie ein. Man wird dieſen Prozentſatz in der Heimat
bei Gebildeten kaum irgendwo übertroffen finden. Es würde aber
noch weit beſſer ſein, wenn weniger Junggeſellen und mehr Fa-
milien da wären. Die Familien ſind von jeher recht kirchlich
geweſen.
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/427>, abgerufen am 18.06.2024.
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