"Sie beurtheilen mich ganz recht: eine süsse empfindsame Schwärmerey bemächti- get sich meiner Seele jederzeit in der ideali- schen Morgenstunde; aber die Bilder, die mir da vorschweben, kann ich Jhnen nicht zeichnen. Sie, mein Herr, würden mir nicht nachempfinden können, und ich würde dadurch die Gemählde, die ich Jhnen auf- stellte, für entweiht halten. Jm Ganzen sind es Vorstellungen kleiner Familiensce- nen, die mich entzücken; und da ist keine vielleicht zu erdenken, die nicht von einem unsrer empfindsamen Schriftsteller schon en gros gezeichnet und kommentirt worden sey. Auf diese Gemählde muß ich Sie verweisen."
Jch verstehe Sie, den harten rauhen Kontour empfindsamer Scenen pflegen uns die empfindsamen Maler bis zum Ekel vor- zupinseln, aber nicht den feinen Detail der individuellen Handlung, der eigentlich das Herz rührt. Dieser ist fürs Gefühl gei-
stiger
„Sie beurtheilen mich ganz recht: eine ſuͤſſe empfindſame Schwaͤrmerey bemaͤchti- get ſich meiner Seele jederzeit in der ideali- ſchen Morgenſtunde; aber die Bilder, die mir da vorſchweben, kann ich Jhnen nicht zeichnen. Sie, mein Herr, wuͤrden mir nicht nachempfinden koͤnnen, und ich wuͤrde dadurch die Gemaͤhlde, die ich Jhnen auf- ſtellte, fuͤr entweiht halten. Jm Ganzen ſind es Vorſtellungen kleiner Familienſce- nen, die mich entzuͤcken; und da iſt keine vielleicht zu erdenken, die nicht von einem unſrer empfindſamen Schriftſteller ſchon en gros gezeichnet und kommentirt worden ſey. Auf dieſe Gemaͤhlde muß ich Sie verweiſen.„
Jch verſtehe Sie, den harten rauhen Kontour empfindſamer Scenen pflegen uns die empfindſamen Maler bis zum Ekel vor- zupinſeln, aber nicht den feinen Detail der individuellen Handlung, der eigentlich das Herz ruͤhrt. Dieſer iſt fuͤrs Gefuͤhl gei-
ſtiger
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„Sie beurtheilen mich ganz recht: eine
ſuͤſſe empfindſame Schwaͤrmerey bemaͤchti-
get ſich meiner Seele jederzeit in der ideali-
ſchen Morgenſtunde; aber die Bilder, die
mir da vorſchweben, kann ich Jhnen nicht
zeichnen. Sie, mein Herr, wuͤrden mir
nicht nachempfinden koͤnnen, und ich wuͤrde
dadurch die Gemaͤhlde, die ich Jhnen auf-
ſtellte, fuͤr entweiht halten. Jm Ganzen
ſind es Vorſtellungen kleiner Familienſce-
nen, die mich entzuͤcken; und da iſt keine
vielleicht zu erdenken, die nicht von einem
unſrer empfindſamen Schriftſteller ſchon en
gros gezeichnet und kommentirt worden ſey.
Auf dieſe Gemaͤhlde muß ich Sie verweiſen.„
Jch verſtehe Sie, den harten rauhen
Kontour empfindſamer Scenen pflegen uns
die empfindſamen Maler bis zum Ekel vor-
zupinſeln, aber nicht den feinen Detail der
individuellen Handlung, der eigentlich das
Herz ruͤhrt. Dieſer iſt fuͤrs Gefuͤhl gei-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/142>, abgerufen am 14.06.2024.
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