missverständlich zu bezeichnen; während der Name Gerechtig- keit nicht in gleichem Maasse dem Missverstand ausgesetzt ist. Sonst aber behält das Wort "Liebe" den Wert, in Erinnerung zu halten, dass Menschlichkeit gegen jedermann, um denn der Gerechtigkeit diesen freundlicheren Namen zu geben, nicht bloss Sache kühler Besinnung und eines unbeugsamen Willens- entschlusses, sondern auch eines lebenswarmen, persönlichen Gefühls sein kann und sittlicherweise sein darf. Nur lässt sich diese Gefühlswärme nicht positiv anbefehlen. Es hat etwas Widersprechendes, ja zur Lüge und Heuchelei Verleitendes, persönliche Wärme zum Gegenstand einer Vorschrift zu machen; sondern nur die natürlich vorhandene, aus der Ge- meinschaft von selbst fliessende Wärme und Innigkeit des Gefühls soll zu dieser sittlichen Gestalt gereinigt werden. In wem sie dagegen unglücklicherweise nicht natürlich er- wachsen, oder vollends ohne eigene Schuld durch Mangel an wahrer Gemeinschaft gewaltsam ertötet wäre, von dem kann sie offenbar nicht sittlich gefordert sein; während ein menschliches Verhalten, gegründet auf reine Achtung der sittlichen Natur im Menschen (und zwar in jedem Menschen) immer gefordert bleibt. Insofern wäre es gewiss unzulässig, die Liebe etwa ganz die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen zu lassen. Wenn die heute nicht seltene Abneigung gegen die Forderung "all- gemeiner Menschenliebe" nur das besagen wollte, dass Liebe nicht anbefohlen werden dürfe, weil sie ein Moment von Ge- fühlswärme gegen den Andern einschliesst, das man sich nicht willkürlich geben kann, so würde die Abneigung berechtigt sein. Sonst freilich ist es sehr verkehrt, die im sittlichen Sinne geforderte allgemeine Menschenliebe nach Art der ge- meinen "Sympathie" zu verstehen, von der man nicht erst aus Hume zu lernen braucht, dass sie wie die physikalische Anziehung mit der Entfernung abnimmt, oder wie ein chemischer Stoff mit der Ausbreitung sich verdünnt. Das rührt nicht von weitem an den Sinn, in dem allgemeine Menschenliebe verständlicherweise gefordert werden kann und von Verständigen je gefordert worden ist; auch wird von dieser Forderung der Menschlichkeit gegen jedermann nicht das Geringste abgelassen,
Natorp, Sozialpädagogik. 9
missverständlich zu bezeichnen; während der Name Gerechtig- keit nicht in gleichem Maasse dem Missverstand ausgesetzt ist. Sonst aber behält das Wort „Liebe“ den Wert, in Erinnerung zu halten, dass Menschlichkeit gegen jedermann, um denn der Gerechtigkeit diesen freundlicheren Namen zu geben, nicht bloss Sache kühler Besinnung und eines unbeugsamen Willens- entschlusses, sondern auch eines lebenswarmen, persönlichen Gefühls sein kann und sittlicherweise sein darf. Nur lässt sich diese Gefühlswärme nicht positiv anbefehlen. Es hat etwas Widersprechendes, ja zur Lüge und Heuchelei Verleitendes, persönliche Wärme zum Gegenstand einer Vorschrift zu machen; sondern nur die natürlich vorhandene, aus der Ge- meinschaft von selbst fliessende Wärme und Innigkeit des Gefühls soll zu dieser sittlichen Gestalt gereinigt werden. In wem sie dagegen unglücklicherweise nicht natürlich er- wachsen, oder vollends ohne eigene Schuld durch Mangel an wahrer Gemeinschaft gewaltsam ertötet wäre, von dem kann sie offenbar nicht sittlich gefordert sein; während ein menschliches Verhalten, gegründet auf reine Achtung der sittlichen Natur im Menschen (und zwar in jedem Menschen) immer gefordert bleibt. Insofern wäre es gewiss unzulässig, die Liebe etwa ganz die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen zu lassen. Wenn die heute nicht seltene Abneigung gegen die Forderung „all- gemeiner Menschenliebe“ nur das besagen wollte, dass Liebe nicht anbefohlen werden dürfe, weil sie ein Moment von Ge- fühlswärme gegen den Andern einschliesst, das man sich nicht willkürlich geben kann, so würde die Abneigung berechtigt sein. Sonst freilich ist es sehr verkehrt, die im sittlichen Sinne geforderte allgemeine Menschenliebe nach Art der ge- meinen „Sympathie“ zu verstehen, von der man nicht erst aus Hume zu lernen braucht, dass sie wie die physikalische Anziehung mit der Entfernung abnimmt, oder wie ein chemischer Stoff mit der Ausbreitung sich verdünnt. Das rührt nicht von weitem an den Sinn, in dem allgemeine Menschenliebe verständlicherweise gefordert werden kann und von Verständigen je gefordert worden ist; auch wird von dieser Forderung der Menschlichkeit gegen jedermann nicht das Geringste abgelassen,
Natorp, Sozialpädagogik. 9
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missverständlich zu bezeichnen; während der Name Gerechtig-
keit nicht in gleichem Maasse dem Missverstand ausgesetzt ist.
Sonst aber behält das Wort „Liebe“ den Wert, in Erinnerung
zu halten, dass Menschlichkeit gegen jedermann, um denn
der Gerechtigkeit diesen freundlicheren Namen zu geben, nicht
bloss Sache kühler Besinnung und eines unbeugsamen Willens-
entschlusses, sondern auch eines lebenswarmen, persönlichen
Gefühls sein kann und sittlicherweise sein darf. Nur lässt
sich diese Gefühlswärme nicht positiv anbefehlen. Es hat
etwas Widersprechendes, ja zur Lüge und Heuchelei Verleitendes,
persönliche Wärme zum Gegenstand einer Vorschrift zu machen;
sondern nur die natürlich vorhandene, aus der Ge-
meinschaft von selbst fliessende Wärme und Innigkeit
des Gefühls soll zu dieser sittlichen Gestalt gereinigt werden.
In wem sie dagegen unglücklicherweise nicht natürlich er-
wachsen, oder vollends ohne eigene Schuld durch Mangel an
wahrer Gemeinschaft gewaltsam ertötet wäre, von dem kann sie
offenbar nicht sittlich gefordert sein; während ein menschliches
Verhalten, gegründet auf reine Achtung der sittlichen Natur
im Menschen (und zwar in jedem Menschen) immer gefordert
bleibt. Insofern wäre es gewiss unzulässig, die Liebe etwa
ganz die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen zu lassen. Wenn
die heute nicht seltene Abneigung gegen die Forderung „all-
gemeiner Menschenliebe“ nur das besagen wollte, dass Liebe
nicht anbefohlen werden dürfe, weil sie ein Moment von Ge-
fühlswärme gegen den Andern einschliesst, das man sich nicht
willkürlich geben kann, so würde die Abneigung berechtigt
sein. Sonst freilich ist es sehr verkehrt, die im sittlichen
Sinne geforderte allgemeine Menschenliebe nach Art der ge-
meinen „Sympathie“ zu verstehen, von der man nicht erst
aus Hume zu lernen braucht, dass sie wie die physikalische
Anziehung mit der Entfernung abnimmt, oder wie ein chemischer
Stoff mit der Ausbreitung sich verdünnt. Das rührt nicht
von weitem an den Sinn, in dem allgemeine Menschenliebe
verständlicherweise gefordert werden kann und von Verständigen
je gefordert worden ist; auch wird von dieser Forderung der
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/145>, abgerufen am 10.11.2024.
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