Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776.gen waren fast immer niedergeschlagen; doch wenn sie sie aufhob, war ihr Blick zwar sehr durchdrin- gend, aber ihre Augen fielen sogleich wieder ehrbar- lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng weder in Sammt noch Seide, aber das allerfeinste Leinen, die ausgesuchtesten Spitzen, die Chitse er- ster Sorte, obgleich sictsamer Farbe, dienten, eine sehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erhöhen, die, ohne daß es schien, doch sehr sorgfältig gepflegt wurden. Sie sprach sehr wenig, eigentlich, weil sie nicht viel zu sprechen wuste; aber diese Einfalt diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie schien aus verschämter Zurückhaltung zu schweigen, indem sie sanft seufzete, und das Haupt langsam seitwärts sinken ließ. Mit diesem jungen Frauenzimmer unterhielt sich Honig H 4
gen waren faſt immer niedergeſchlagen; doch wenn ſie ſie aufhob, war ihr Blick zwar ſehr durchdrin- gend, aber ihre Augen fielen ſogleich wieder ehrbar- lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng weder in Sammt noch Seide, aber das allerfeinſte Leinen, die ausgeſuchteſten Spitzen, die Chitſe er- ſter Sorte, obgleich ſictſamer Farbe, dienten, eine ſehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erhoͤhen, die, ohne daß es ſchien, doch ſehr ſorgfaͤltig gepflegt wurden. Sie ſprach ſehr wenig, eigentlich, weil ſie nicht viel zu ſprechen wuſte; aber dieſe Einfalt diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie ſchien aus verſchaͤmter Zuruͤckhaltung zu ſchweigen, indem ſie ſanft ſeufzete, und das Haupt langſam ſeitwaͤrts ſinken ließ. Mit dieſem jungen Frauenzimmer unterhielt ſich Honig H 4
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gen waren faſt immer niedergeſchlagen; doch wenn
ſie ſie aufhob, war ihr Blick zwar ſehr durchdrin-
gend, aber ihre Augen fielen ſogleich wieder ehrbar-
lich nieder. Sie trieb keine Kleiderpracht, und gieng
weder in Sammt noch Seide, aber das allerfeinſte
Leinen, die ausgeſuchteſten Spitzen, die Chitſe er-
ſter Sorte, obgleich ſictſamer Farbe, dienten, eine
ſehr zarte Haut und eine volle Wange, zu erhoͤhen,
die, ohne daß es ſchien, doch ſehr ſorgfaͤltig gepflegt
wurden. Sie ſprach ſehr wenig, eigentlich, weil
ſie nicht viel zu ſprechen wuſte; aber dieſe Einfalt
diente ihr zu einer frommen Koketterie. Sie ſchien
aus verſchaͤmter Zuruͤckhaltung zu ſchweigen, indem
ſie ſanft ſeufzete, und das Haupt langſam ſeitwaͤrts
ſinken ließ.
Mit dieſem jungen Frauenzimmer unterhielt ſich
Saͤugling der Sohn, wenn ihre Mutter ſeinen
Vater oder er ſie beſuchte, welches faſt woͤchentlich
geſchahe. Unterdeſſen die Frau Gertrudtinn mit
Sebaldus uͤber theologiſche Materien diſputirte, wie
ſie denn in der Dogmatik, ſo gut wie in der Polemik,
bewandert war, oder unterdeſſen ſie mit ſeinem Va-
ter die Materie von Hypotheken und Pfandbriefen
abhandelte; pflegte Saͤugling mit der Jungfer
Anaſtaſia die ſuͤſſen Gedanken zu theilen, die wie
Honig
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Zitationshilfe: | Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776, S. 117[116]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/127>, abgerufen am 17.06.2024. |