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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der
dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem
Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik
im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern über ihr
Wesen sich kund zu geben: denken wir uns jetzt, dass die
Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten
Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für
möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck
für ihre eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse;
und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben,
wenn nicht in der Tragödie und überhaupt im Begriff des
Tragischen?

Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der
einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen
wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzu¬
leiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir
eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an
den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns
nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich
gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter
dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller
Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt.
Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung
der instinctiv-unbewussten dionysischen Weisheit in die
Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung,
wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung
ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernich¬
tung nicht berührt wird. "Wir glauben an das ewige Leben",
so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare
Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat
die Kunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden
des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der
Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über das

gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der
dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem
Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik
im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern über ihr
Wesen sich kund zu geben: denken wir uns jetzt, dass die
Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten
Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für
möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck
für ihre eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse;
und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben,
wenn nicht in der Tragödie und überhaupt im Begriff des
Tragischen?

Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der
einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen
wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzu¬
leiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir
eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an
den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns
nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich
gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter
dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller
Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt.
Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung
der instinctiv-unbewussten dionysischen Weisheit in die
Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung,
wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung
ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernich¬
tung nicht berührt wird. »Wir glauben an das ewige Leben«,
so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare
Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat
die Kunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden
des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der
Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über das

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[91/0104] gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben: denken wir uns jetzt, dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihre eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse; und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödie und überhaupt im Begriff des Tragischen? Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzu¬ leiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv-unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernich¬ tung nicht berührt wird. »Wir glauben an das ewige Leben«, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über das

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/104>, abgerufen am 10.11.2024.