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Allgemeine Zeitung, Nr. 1, 1. Januar 1872.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 1. Augsburg, Montag, 1 Januar 1872.
Montags erscheint nur ein Blatt.

Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Gosen.

[Spaltenumbruch]
Uebersicht.

Die politische Lage. -- Die jüngsten Alterthumsfünde in der Umgegend von
Bologna. -- Die dritte allgemeine Conferenz und der gegenwärtige Stand der
europäischen Gradmessung. (I.) -- Duplik an Hrn. v. Reumont.
Neueste Posten. Frankfurt: Ein Handschreiben König Ludwigs von
Bayern. Brüssel: Aus beiden Kammern. Rom: Aus dem Vatican.
Rede des Papstes. Feier des päpftlichen Namenstags. Cardinal Amat. Bu-
karest:
Die Eisenbahnfrage auf der Straße und in der Kammer. -- Ver-
schiedenes. -- Industrie, Handel und Verkehr.



Telegraphische Berichte.

In die Akademie wurden gewählt: Herzog von
Aumale mit 27 gegen eine Stimme, Roussel mit 17 gegen 12 Stimmen, welche
auf Bielcastel fielen, Littre mit 17 gegen 12 Stimmen, welche Taillandier, und
Lomenie mit 15 gegen 14 Stimmen, welche Edmond About erhielt.


Getreidemarkt. Schwacher Marktbesnch. Auswärtigen No-
tirungen zufolge Preise um 1/4 Fr. gewichen. Prima-Ungarweizen 361/4--371/4. Ausstich 38
(pro 200 Zollpfund frauco Romanshorn oder Rorschach verzollt).


Baumwollbericht. Tagesumsatz 10,000 Ballen, hievon
2000 B. für Speculation Tendenz: unverändert. Schwimmende amerikauische 401,000 B.,
oftindische 187,0 0 B. Heute Feiertag. Wochenumsatz 53,000 B., zum Export verkauft
9000 B., Export 10,000 B., Consum 39,000 B., Vorrath 567,000 B.


Goldagio 108 7/8 , Baumwolle 20, Petroleum in Pbila-
delphia 22.



Börsenberichte.

(Börse.)

Die beschleunigte Behandlung der Bankvorlage
in der Nationalversammlung gab der gestrigen Reprise heute neue Kräste, und obgleich die
Prolongation noch immer sehr theuer zu sein droht, wollte doch die Nachfrage bis zu Ende
nicht ermatten. Schluß sehr fest: Rente [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]6.02, Anleihe 90.95 (mit 3/4 Fr. Hausse), Ita-
liener 69.70, Foncier 952, Mobilier 523, spanischer Mobilier 496, Pays-Bas schwächer,
887. Von Bahnen waren namentlich Lombarden verlangt und erreichten 462, Autrichiens
868, Norb 980, Lyon 850. Goldprämie 10 Fr. pro Mille, Wechsel auf London 25.65.

Der vom 28 Dec. früh datirte Wochenausweis der Bank von Frankreich
constatirt noch einen Grart von 75 Mill onen für den Notenumlauf, indem derselbe bis
zu jenem Augenblick von 2304 auf 2325 Millionen gestiegen war. Das Portefeuille hatte
sich in derselben Zeit von 294 auf 326 und in den Sue[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]ursalen von 394 auf 401 Mill
gehoben, während der Baarporrath um etwas weniger als eine Million auf 634.6 Mill
zurückgegangen war. Die lausenden Rechnungen des Staats waren von 154 auf 156
und die des Pariser Handels von 235 auf 250 Millionen gestiegen. Das Debet der
Stadt Paris hat sich wieder um 4 Millionen vermindert und beträgt jetzt nur noch
196 Millionen.



Die politische Lage.*)

g. Vor uns liegt ein Bändchen politischer Briefe, vor wenigen Tagen erst
in Paris ausgegeben. Es sind Erörterungen politischer Fragen, die in Form von
Briefen während des letzten Sommers im "Temps" erschienen und nun gesammelt,
in trefflicher Ausstattung, zum zweitenmal das Licht der Welt erblicken. Wie sich
das genannte Blatt durch ruhige, leidenschaftslose und sachkundige Erörterung
neben dem "J. des Debats" unter seinen Pariser Collegen auszeichnet, so sind
auch die zehn Briefe frei von bloßen Phrasen wie von chauvinistischen Ideen und
grundlosen Illusionen; dabei spricht aus ihnen ein edler, nach der Wiederaufrich-
tung der Größe Frankreichs strebender Geist.

Der anonyme Verfasser bespricht zuerst die äußere und innere Lage Frank-
reichs. Das Heil Frankreichs erblickt er in der Lösung der drei brennenden Fragen:
über die Form der Regierung, die religiöse und die sociale Frage. Er will eine
conservative Republik oder Beibehaltung des gegenwärtigen Zustandes bis die
Zeit die definitive Lösung dieser Frage vorbereitet habe. In religiöser Beziehung
verlangt er vollständige Loslösung der Kirche vom Staat und freiwillige Enthal-
tung vom politischen Parteileben, ohne jedoch auch nur anzudeuten in welcher
Weise die schwierige Trennung der Kirche vom Staate durchzuführen sei. Die so-
ciale Frage will er durch unentgeltliche Erziehung und Unterricht der armen Be-
völkerung, wie durch Förderung aller Anstalten welche zur Hebung des Wohl-
standes, zur Beförderung der Sparsamkeit und der Sittlichkeit dienen, unschädlich
gemacht haben. Werde auf diese Weise die innere Neconstruction des Staats fort-
schreiten, dann werde Frankreich auch bald unter den Mächten wieder seinen alten Platz
einnehmen. In der äußern Politik aber müsse es seine Aufmerksamkeit den orien-
talischen Dingen zuwenden, hiezu sei dringend nothwendig daß es einen fähigen
Botschafter nach Konstantinopel und tüchtige Agenten an die Consularplätze sende;
ferner daß es die Flotte, als das nothwendigste Erforderniß um im Orlent mit
Nachdruck auftreten zu können, in jeder Weise pflege; endlich daß es eine Politik
verfolge welche, sich fern haltend von allen religiösen Fragen, durch Unparteilichkeit
zwischen allen Bekenntnissen, durch thätige und uneigennützige Verwaltung wie
[Spaltenumbruch] durch gute Justiz sich auszeichne. Der Verfasser ist ein eifriger Anhänger der fran-
zösisch-englischen Allianz, welche er als für beide Theile insbesondere mit Rücksicht
auf die orientalischen Dinge vortheilhaft darstellt. In Folge dessen bekämpft er
auch die von der französischen Regierung beabsichtigte Kündigung des englisch-
französischen Handelsvertrags. Er meint daß die diplomatische Niederlage welche
England im Jahre 1870 durch Kündigung der bekannten Stipulationen des Pariser
Friedens erlitt, durch die Erklärung welche England unterm 17 Januar 1871 auf
der Pontus-Conferenz abgab: daß keine Macht sich von Vertragsverpflichtungen
befreien, noch deren Bestimmungen abändern könne, außer mit formeller Zustimmung
aller Contrahenten und durch freundschaftliches Abkommen, schlecht verdeckt wurde,
da gerade jene Conferenzen nur den Willen Rußlands zu protokolliren gehabt
hätten.

Bei Besprechung der politischen Lage Rußlands, welcher der dritte Brief ge-
widmet ist, geht der Anonymus von der während des Kriegs offenkundig gewor-
denen preußisch-russischen Allianz aus. Er sieht die russische Politik allein auf den
Orient gerichtet, in allen Lagen verfolge Rußland dieses eine Ziel; er bespricht
dann die Mittel welche dasselbe zur Verfolgung seines Ziels anwendet, die fähige
Diplomatie, die Benützung des Racengeistes und der Religion. Längst sei alles
vorbereitet, Rußland suche nur nach einer tauglichen Allianz, da die Allianz mit
Preußen für die orientalische Frage nutzlos, weil Deutschland hiebei nicht direct
betheiligt sei. Die Ereignisse von 1870, welche die Politik Europa's zerrissen, haben
damit auch die Wege für die russische Orientpolitik geebnet.

Eine längere Abhandlung (Brief 4, 5 und 6) ist der Lage der Türkei ge-
widmet. In der Erhaltung der Türkei erblickt der Verfasser die Aufgabe der West-
mächte, da außerdem der Bosporus in die Hände der russischen Macht fallen und
die slavische Woge sich im Mittelmeer ausbreiten und Westeuropa einschließen
würde. Der Bestand des türkischen Reichs und der Schutz ihrer Nationalen seinen
die beiden Aufgaben Europa's der Türkei gegenüber. Er bespricht dann die Capi-
tulationen, jene Verträge welche zwischen der Pforte und den christlichen Mächten
zum Schutz ihrer Nationalen abgeschlossen wurden, und gegen welche sich die Politik
Fuad und Aali Pascha's hauptsächlich richtete, nachdem sie gesehen daß die West-
mächte um jeden Preis den Bestand der osmanischen Regierung zu schützen beab-
sichtigen. Um die Aufhebung der Capitulationen vorzubereiten, ward der Hatti
Humajum von 1858 gegeben, jene bekannte von den Gesandten in Konstantinopel,
hauptsächlich von Lord Stratford de Redeliffe, redigirte Reformacte der Türkei, die
aber ebenso wie sein Vorfahrer, der Hattischerif von Gälhane, todte Buchstaben
blieben. Der Verfasser, welcher die orientalischen Verhältnisse gründlich kennt,
vertritt den Capitulationen gegenüber den einzig richtigen Standpunkt: solange
die Capitulationen bestehen, kann das türkische Reich nicht ein gleichberechtigtes
Glied im europäischen Staatenconcert bilden; ihre Aufhebung aber kann erst dann
zugestanden werden wenn die schon so oft in Aussicht gestellten Reformen im ge-
sammten Staatswesen zur Wahrheit geworden sind. Nur unter dieser Voraus-
setzung erfolgte im Pariser Frieden 1856 die Aufnahme der Türkei in die Reihe
der Großmächte. Die sich hieran schließende Schilderung der Verwaltung, der
Justiz, der Armee und Flotte, des Unterrichtswesens, der öffentlichen Arbeiten,
der Steuern und Finanzen gehört zu den besten Theilen des Buches; mit wenigen
aber klaren Worten wird der Zustand des in jeder Beziehung im Argen liegenden
Staatswesens gezeichnet. Diese Zustände sind den Lesern dieser Blätter nicht unbe-
kannt, bilden ja doch seit vielen Jahren ihre hervorragend unterrichteten Veiträge
aus dem Orient einen wichtigen Bestandtheil ihres Inhalts. Die äußere Lage der
Türkei ist durch die Ereignisse des letzten Jahres vollständig verändert worden.
Sie mußte sich dem Willen Rußlands fügen und alle Garantien aufgeben welche
der Pariser Friede ihr zugesichert hatte. Rußland stellt seine Pontusflotte und den
Kriegshasen von Nicolajeff wieder her, innerhalb 48 Stunden kann dann ein
Armeecorps zur Ausschiffung auf den Höhen von Hunkiar Iskelessi bereit sein, wo
seine Truppen 1839 angesichts der Sommerpalais Frankreichs und Englands in
Therapia lagerten. Befestigte Lager zu beiden Seiten des Bosporus sind daher
dringendes Bedürfniß. Es ist schade daß der Verfasser einen unveränderten Abdruck
einer neuen Bearbeitung vorgezogen hat; in Folge dessen findet das Erscheinen des
Buches die politische Lage in manchen Punkten verändert. Dieß namentlich bezüg-
lich der Türkei: Aali Pascha starb an demselben Tage (10 August) von dem der
fünfte Brief datirt ist, die innere Reformfrage ist in ein neues Stadium getreten,
Msgr. Franchi ist mit seinen Forderungen abgewiesen worden, der bulgarische
Kirchenstreit ist beigelegt, die Beziehungen zu Rußland sind vielfach klarer geworden.
Freilich ist es bis jetzt noch nicht ganz klar ob in dem Scheitern der Mission Franchi
ein Sieg Frankreichs zu erkennen, wie der Verfasser anzunehmen geneigt ist. Die
einzige Möglichkeit zur Verjüngung des osmanischen Reichs -- und damit zur fried-
lichen Lösung der orientalienischen Frage -- erblickt der Verfasser darin daß wirk-
liche Reformen auch ernst ausgeführt werden, was bloß unter der Voraussetzung mög-
lich sei daß nicht nur Ideen und Capitalien, sondern auch Menschen, ihre Arme und
ihre Intelligenz, aus Europa entlehnt werden. Man kann gegen diesen Satz nichts

*) Lettres diplomatiques. Coup d'oeil sur l'Europe au lendemain de la guerre, par l'auteur des lettres militaires publiees dans le Temps pendant le stege.
Paris. Henri Plon.
1872. S. 166. 12.

[Abbildung]
Allgemeine Zeitung.
Nr. 1. Augsburg, Montag, 1 Januar 1872.
Montags erſcheint nur ein Blatt.

Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Goſen.

[Spaltenumbruch]
Ueberſicht.

Die politiſche Lage. — Die jüngſten Alterthumsfünde in der Umgegend von
Bologna. — Die dritte allgemeine Conferenz und der gegenwärtige Stand der
europäiſchen Gradmeſſung. (I.) — Duplik an Hrn. v. Reumont.
Neueſte Poſten. Frankfurt: Ein Handſchreiben König Ludwigs von
Bayern. Brüſſel: Aus beiden Kammern. Rom: Aus dem Vatican.
Rede des Papſtes. Feier des päpftlichen Namenstags. Cardinal Amat. Bu-
kareſt:
Die Eiſenbahnfrage auf der Straße und in der Kammer. — Ver-
ſchiedenes. — Induſtrie, Handel und Verkehr.



Telegraphiſche Berichte.

In die Akademie wurden gewählt: Herzog von
Aumale mit 27 gegen eine Stimme, Rouſſel mit 17 gegen 12 Stimmen, welche
auf Bielcaſtel fielen, Littré mit 17 gegen 12 Stimmen, welche Taillandier, und
Loménie mit 15 gegen 14 Stimmen, welche Edmond About erhielt.


Getreidemarkt. Schwacher Marktbeſnch. Auswärtigen No-
tirungen zufolge Preiſe um ¼ Fr. gewichen. Prima-Ungarweizen 36¼—37¼. Ausſtich 38
(pro 200 Zollpfund frauco Romanshorn oder Rorſchach verzollt).


Baumwollbericht. Tagesumſatz 10,000 Ballen, hievon
2000 B. für Speculation Tendenz: unverändert. Schwimmende amerikauiſche 401,000 B.,
oftindiſche 187,0 0 B. Heute Feiertag. Wochenumſatz 53,000 B., zum Export verkauft
9000 B., Export 10,000 B., Conſum 39,000 B., Vorrath 567,000 B.


Goldagio 108⅞, Baumwolle 20, Petroleum in Pbila-
delphia 22.



Börſenberichte.

(Börſe.)

Die beſchleunigte Behandlung der Bankvorlage
in der Nationalverſammlung gab der geſtrigen Repriſe heute neue Kräſte, und obgleich die
Prolongation noch immer ſehr theuer zu ſein droht, wollte doch die Nachfrage bis zu Ende
nicht ermatten. Schluß ſehr feſt: Rente [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]6.02, Anleihe 90.95 (mit ¾ Fr. Hauſſe), Ita-
liener 69.70, Foncier 952, Mobilier 523, ſpaniſcher Mobilier 496, Pays-Bas ſchwächer,
887. Von Bahnen waren namentlich Lombarden verlangt und erreichten 462, Autrichiens
868, Norb 980, Lyon 850. Goldprämie 10 Fr. pro Mille, Wechſel auf London 25.65.

Der vom 28 Dec. früh datirte Wochenausweis der Bank von Frankreich
conſtatirt noch einen Grart von 75 Mill onen für den Notenumlauf, indem derſelbe bis
zu jenem Augenblick von 2304 auf 2325 Millionen geſtiegen war. Das Portefeuille hatte
ſich in derſelben Zeit von 294 auf 326 und in den Sue[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]urſalen von 394 auf 401 Mill
gehoben, während der Baarporrath um etwas weniger als eine Million auf 634.6 Mill
zurückgegangen war. Die lauſenden Rechnungen des Staats waren von 154 auf 156
und die des Pariſer Handels von 235 auf 250 Millionen geſtiegen. Das Debet der
Stadt Paris hat ſich wieder um 4 Millionen vermindert und beträgt jetzt nur noch
196 Millionen.



Die politiſche Lage.*)

g. Vor uns liegt ein Bändchen politiſcher Briefe, vor wenigen Tagen erſt
in Paris ausgegeben. Es ſind Erörterungen politiſcher Fragen, die in Form von
Briefen während des letzten Sommers im „Temps“ erſchienen und nun geſammelt,
in trefflicher Ausſtattung, zum zweitenmal das Licht der Welt erblicken. Wie ſich
das genannte Blatt durch ruhige, leidenſchaftsloſe und ſachkundige Erörterung
neben dem „J. des Débats“ unter ſeinen Pariſer Collegen auszeichnet, ſo ſind
auch die zehn Briefe frei von bloßen Phraſen wie von chauviniſtiſchen Ideen und
grundloſen Illuſionen; dabei ſpricht aus ihnen ein edler, nach der Wiederaufrich-
tung der Größe Frankreichs ſtrebender Geiſt.

Der anonyme Verfaſſer beſpricht zuerſt die äußere und innere Lage Frank-
reichs. Das Heil Frankreichs erblickt er in der Löſung der drei brennenden Fragen:
über die Form der Regierung, die religiöſe und die ſociale Frage. Er will eine
conſervative Republik oder Beibehaltung des gegenwärtigen Zuſtandes bis die
Zeit die definitive Löſung dieſer Frage vorbereitet habe. In religiöſer Beziehung
verlangt er vollſtändige Loslöſung der Kirche vom Staat und freiwillige Enthal-
tung vom politiſchen Parteileben, ohne jedoch auch nur anzudeuten in welcher
Weiſe die ſchwierige Trennung der Kirche vom Staate durchzuführen ſei. Die ſo-
ciale Frage will er durch unentgeltliche Erziehung und Unterricht der armen Be-
völkerung, wie durch Förderung aller Anſtalten welche zur Hebung des Wohl-
ſtandes, zur Beförderung der Sparſamkeit und der Sittlichkeit dienen, unſchädlich
gemacht haben. Werde auf dieſe Weiſe die innere Neconſtruction des Staats fort-
ſchreiten, dann werde Frankreich auch bald unter den Mächten wieder ſeinen alten Platz
einnehmen. In der äußern Politik aber müſſe es ſeine Aufmerkſamkeit den orien-
taliſchen Dingen zuwenden, hiezu ſei dringend nothwendig daß es einen fähigen
Botſchafter nach Konſtantinopel und tüchtige Agenten an die Conſularplätze ſende;
ferner daß es die Flotte, als das nothwendigſte Erforderniß um im Orlent mit
Nachdruck auftreten zu können, in jeder Weiſe pflege; endlich daß es eine Politik
verfolge welche, ſich fern haltend von allen religiöſen Fragen, durch Unparteilichkeit
zwiſchen allen Bekenntniſſen, durch thätige und uneigennützige Verwaltung wie
[Spaltenumbruch] durch gute Juſtiz ſich auszeichne. Der Verfaſſer iſt ein eifriger Anhänger der fran-
zöſiſch-engliſchen Allianz, welche er als für beide Theile insbeſondere mit Rückſicht
auf die orientaliſchen Dinge vortheilhaft darſtellt. In Folge deſſen bekämpft er
auch die von der franzöſiſchen Regierung beabſichtigte Kündigung des engliſch-
franzöſiſchen Handelsvertrags. Er meint daß die diplomatiſche Niederlage welche
England im Jahre 1870 durch Kündigung der bekannten Stipulationen des Pariſer
Friedens erlitt, durch die Erklärung welche England unterm 17 Januar 1871 auf
der Pontus-Conferenz abgab: daß keine Macht ſich von Vertragsverpflichtungen
befreien, noch deren Beſtimmungen abändern könne, außer mit formeller Zuſtimmung
aller Contrahenten und durch freundſchaftliches Abkommen, ſchlecht verdeckt wurde,
da gerade jene Conferenzen nur den Willen Rußlands zu protokolliren gehabt
hätten.

Bei Beſprechung der politiſchen Lage Rußlands, welcher der dritte Brief ge-
widmet iſt, geht der Anonymus von der während des Kriegs offenkundig gewor-
denen preußiſch-ruſſiſchen Allianz aus. Er ſieht die ruſſiſche Politik allein auf den
Orient gerichtet, in allen Lagen verfolge Rußland dieſes eine Ziel; er beſpricht
dann die Mittel welche dasſelbe zur Verfolgung ſeines Ziels anwendet, die fähige
Diplomatie, die Benützung des Racengeiſtes und der Religion. Längſt ſei alles
vorbereitet, Rußland ſuche nur nach einer tauglichen Allianz, da die Allianz mit
Preußen für die orientaliſche Frage nutzlos, weil Deutſchland hiebei nicht direct
betheiligt ſei. Die Ereigniſſe von 1870, welche die Politik Europa’s zerriſſen, haben
damit auch die Wege für die ruſſiſche Orientpolitik geebnet.

Eine längere Abhandlung (Brief 4, 5 und 6) iſt der Lage der Türkei ge-
widmet. In der Erhaltung der Türkei erblickt der Verfaſſer die Aufgabe der Weſt-
mächte, da außerdem der Bosporus in die Hände der ruſſiſchen Macht fallen und
die ſlaviſche Woge ſich im Mittelmeer ausbreiten und Weſteuropa einſchließen
würde. Der Beſtand des türkiſchen Reichs und der Schutz ihrer Nationalen ſeinen
die beiden Aufgaben Europa’s der Türkei gegenüber. Er beſpricht dann die Capi-
tulationen, jene Verträge welche zwiſchen der Pforte und den chriſtlichen Mächten
zum Schutz ihrer Nationalen abgeſchloſſen wurden, und gegen welche ſich die Politik
Fuad und Aali Paſcha’s hauptſächlich richtete, nachdem ſie geſehen daß die Weſt-
mächte um jeden Preis den Beſtand der osmaniſchen Regierung zu ſchützen beab-
ſichtigen. Um die Aufhebung der Capitulationen vorzubereiten, ward der Hatti
Humajum von 1858 gegeben, jene bekannte von den Geſandten in Konſtantinopel,
hauptſächlich von Lord Stratford de Redeliffe, redigirte Reformacte der Türkei, die
aber ebenſo wie ſein Vorfahrer, der Hattiſcherif von Gälhane, todte Buchſtaben
blieben. Der Verfaſſer, welcher die orientaliſchen Verhältniſſe gründlich kennt,
vertritt den Capitulationen gegenüber den einzig richtigen Standpunkt: ſolange
die Capitulationen beſtehen, kann das türkiſche Reich nicht ein gleichberechtigtes
Glied im europäiſchen Staatenconcert bilden; ihre Aufhebung aber kann erſt dann
zugeſtanden werden wenn die ſchon ſo oft in Ausſicht geſtellten Reformen im ge-
ſammten Staatsweſen zur Wahrheit geworden ſind. Nur unter dieſer Voraus-
ſetzung erfolgte im Pariſer Frieden 1856 die Aufnahme der Türkei in die Reihe
der Großmächte. Die ſich hieran ſchließende Schilderung der Verwaltung, der
Juſtiz, der Armee und Flotte, des Unterrichtsweſens, der öffentlichen Arbeiten,
der Steuern und Finanzen gehört zu den beſten Theilen des Buches; mit wenigen
aber klaren Worten wird der Zuſtand des in jeder Beziehung im Argen liegenden
Staatsweſens gezeichnet. Dieſe Zuſtände ſind den Leſern dieſer Blätter nicht unbe-
kannt, bilden ja doch ſeit vielen Jahren ihre hervorragend unterrichteten Veiträge
aus dem Orient einen wichtigen Beſtandtheil ihres Inhalts. Die äußere Lage der
Türkei iſt durch die Ereigniſſe des letzten Jahres vollſtändig verändert worden.
Sie mußte ſich dem Willen Rußlands fügen und alle Garantien aufgeben welche
der Pariſer Friede ihr zugeſichert hatte. Rußland ſtellt ſeine Pontusflotte und den
Kriegshaſen von Nicolajeff wieder her, innerhalb 48 Stunden kann dann ein
Armeecorps zur Ausſchiffung auf den Höhen von Hunkiar Iskeleſſi bereit ſein, wo
ſeine Truppen 1839 angeſichts der Sommerpalais Frankreichs und Englands in
Therapia lagerten. Befeſtigte Lager zu beiden Seiten des Bosporus ſind daher
dringendes Bedürfniß. Es iſt ſchade daß der Verfaſſer einen unveränderten Abdruck
einer neuen Bearbeitung vorgezogen hat; in Folge deſſen findet das Erſcheinen des
Buches die politiſche Lage in manchen Punkten verändert. Dieß namentlich bezüg-
lich der Türkei: Aali Paſcha ſtarb an demſelben Tage (10 Auguſt) von dem der
fünfte Brief datirt iſt, die innere Reformfrage iſt in ein neues Stadium getreten,
Mſgr. Franchi iſt mit ſeinen Forderungen abgewieſen worden, der bulgariſche
Kirchenſtreit iſt beigelegt, die Beziehungen zu Rußland ſind vielfach klarer geworden.
Freilich iſt es bis jetzt noch nicht ganz klar ob in dem Scheitern der Miſſion Franchi
ein Sieg Frankreichs zu erkennen, wie der Verfaſſer anzunehmen geneigt iſt. Die
einzige Möglichkeit zur Verjüngung des osmaniſchen Reichs — und damit zur fried-
lichen Löſung der orientalieniſchen Frage — erblickt der Verfaſſer darin daß wirk-
liche Reformen auch ernſt ausgeführt werden, was bloß unter der Vorausſetzung mög-
lich ſei daß nicht nur Ideen und Capitalien, ſondern auch Menſchen, ihre Arme und
ihre Intelligenz, aus Europa entlehnt werden. Man kann gegen dieſen Satz nichts

*) Lettres diplomatiques. Coup d’œil sur l’Europe au lendemain de la guerre, par l’auteur des lettres militaires publiées dans le Temps pendant le stége.
Paris. Henri Plon.
1872. S. 166. 12.
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[0001] [Abbildung] Allgemeine Zeitung. Nr. 1. Augsburg, Montag, 1 Januar 1872. ☛ Montags erſcheint nur ein Blatt. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Goſen. Ueberſicht. Die politiſche Lage. — Die jüngſten Alterthumsfünde in der Umgegend von Bologna. — Die dritte allgemeine Conferenz und der gegenwärtige Stand der europäiſchen Gradmeſſung. (I.) — Duplik an Hrn. v. Reumont. Neueſte Poſten. Frankfurt: Ein Handſchreiben König Ludwigs von Bayern. Brüſſel: Aus beiden Kammern. Rom: Aus dem Vatican. Rede des Papſtes. Feier des päpftlichen Namenstags. Cardinal Amat. Bu- kareſt: Die Eiſenbahnfrage auf der Straße und in der Kammer. — Ver- ſchiedenes. — Induſtrie, Handel und Verkehr. Telegraphiſche Berichte. (*) Paris, 30 Dec. In die Akademie wurden gewählt: Herzog von Aumale mit 27 gegen eine Stimme, Rouſſel mit 17 gegen 12 Stimmen, welche auf Bielcaſtel fielen, Littré mit 17 gegen 12 Stimmen, welche Taillandier, und Loménie mit 15 gegen 14 Stimmen, welche Edmond About erhielt. * Lindau, 30 Dec. Getreidemarkt. Schwacher Marktbeſnch. Auswärtigen No- tirungen zufolge Preiſe um ¼ Fr. gewichen. Prima-Ungarweizen 36¼—37¼. Ausſtich 38 (pro 200 Zollpfund frauco Romanshorn oder Rorſchach verzollt). * Liverpool, 29 Dec. Baumwollbericht. Tagesumſatz 10,000 Ballen, hievon 2000 B. für Speculation Tendenz: unverändert. Schwimmende amerikauiſche 401,000 B., oftindiſche 187,0 0 B. Heute Feiertag. Wochenumſatz 53,000 B., zum Export verkauft 9000 B., Export 10,000 B., Conſum 39,000 B., Vorrath 567,000 B. * New-York, 29 Dec. Goldagio 108⅞, Baumwolle 20, Petroleum in Pbila- delphia 22. Börſenberichte. § Paris, 29 Dec. (Börſe.) Die beſchleunigte Behandlung der Bankvorlage in der Nationalverſammlung gab der geſtrigen Repriſe heute neue Kräſte, und obgleich die Prolongation noch immer ſehr theuer zu ſein droht, wollte doch die Nachfrage bis zu Ende nicht ermatten. Schluß ſehr feſt: Rente _6.02, Anleihe 90.95 (mit ¾ Fr. Hauſſe), Ita- liener 69.70, Foncier 952, Mobilier 523, ſpaniſcher Mobilier 496, Pays-Bas ſchwächer, 887. Von Bahnen waren namentlich Lombarden verlangt und erreichten 462, Autrichiens 868, Norb 980, Lyon 850. Goldprämie 10 Fr. pro Mille, Wechſel auf London 25.65. Der vom 28 Dec. früh datirte Wochenausweis der Bank von Frankreich conſtatirt noch einen Grart von 75 Mill onen für den Notenumlauf, indem derſelbe bis zu jenem Augenblick von 2304 auf 2325 Millionen geſtiegen war. Das Portefeuille hatte ſich in derſelben Zeit von 294 auf 326 und in den Sue_urſalen von 394 auf 401 Mill gehoben, während der Baarporrath um etwas weniger als eine Million auf 634.6 Mill zurückgegangen war. Die lauſenden Rechnungen des Staats waren von 154 auf 156 und die des Pariſer Handels von 235 auf 250 Millionen geſtiegen. Das Debet der Stadt Paris hat ſich wieder um 4 Millionen vermindert und beträgt jetzt nur noch 196 Millionen. Die politiſche Lage. *) g. Vor uns liegt ein Bändchen politiſcher Briefe, vor wenigen Tagen erſt in Paris ausgegeben. Es ſind Erörterungen politiſcher Fragen, die in Form von Briefen während des letzten Sommers im „Temps“ erſchienen und nun geſammelt, in trefflicher Ausſtattung, zum zweitenmal das Licht der Welt erblicken. Wie ſich das genannte Blatt durch ruhige, leidenſchaftsloſe und ſachkundige Erörterung neben dem „J. des Débats“ unter ſeinen Pariſer Collegen auszeichnet, ſo ſind auch die zehn Briefe frei von bloßen Phraſen wie von chauviniſtiſchen Ideen und grundloſen Illuſionen; dabei ſpricht aus ihnen ein edler, nach der Wiederaufrich- tung der Größe Frankreichs ſtrebender Geiſt. Der anonyme Verfaſſer beſpricht zuerſt die äußere und innere Lage Frank- reichs. Das Heil Frankreichs erblickt er in der Löſung der drei brennenden Fragen: über die Form der Regierung, die religiöſe und die ſociale Frage. Er will eine conſervative Republik oder Beibehaltung des gegenwärtigen Zuſtandes bis die Zeit die definitive Löſung dieſer Frage vorbereitet habe. In religiöſer Beziehung verlangt er vollſtändige Loslöſung der Kirche vom Staat und freiwillige Enthal- tung vom politiſchen Parteileben, ohne jedoch auch nur anzudeuten in welcher Weiſe die ſchwierige Trennung der Kirche vom Staate durchzuführen ſei. Die ſo- ciale Frage will er durch unentgeltliche Erziehung und Unterricht der armen Be- völkerung, wie durch Förderung aller Anſtalten welche zur Hebung des Wohl- ſtandes, zur Beförderung der Sparſamkeit und der Sittlichkeit dienen, unſchädlich gemacht haben. Werde auf dieſe Weiſe die innere Neconſtruction des Staats fort- ſchreiten, dann werde Frankreich auch bald unter den Mächten wieder ſeinen alten Platz einnehmen. In der äußern Politik aber müſſe es ſeine Aufmerkſamkeit den orien- taliſchen Dingen zuwenden, hiezu ſei dringend nothwendig daß es einen fähigen Botſchafter nach Konſtantinopel und tüchtige Agenten an die Conſularplätze ſende; ferner daß es die Flotte, als das nothwendigſte Erforderniß um im Orlent mit Nachdruck auftreten zu können, in jeder Weiſe pflege; endlich daß es eine Politik verfolge welche, ſich fern haltend von allen religiöſen Fragen, durch Unparteilichkeit zwiſchen allen Bekenntniſſen, durch thätige und uneigennützige Verwaltung wie durch gute Juſtiz ſich auszeichne. Der Verfaſſer iſt ein eifriger Anhänger der fran- zöſiſch-engliſchen Allianz, welche er als für beide Theile insbeſondere mit Rückſicht auf die orientaliſchen Dinge vortheilhaft darſtellt. 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Er ſieht die ruſſiſche Politik allein auf den Orient gerichtet, in allen Lagen verfolge Rußland dieſes eine Ziel; er beſpricht dann die Mittel welche dasſelbe zur Verfolgung ſeines Ziels anwendet, die fähige Diplomatie, die Benützung des Racengeiſtes und der Religion. Längſt ſei alles vorbereitet, Rußland ſuche nur nach einer tauglichen Allianz, da die Allianz mit Preußen für die orientaliſche Frage nutzlos, weil Deutſchland hiebei nicht direct betheiligt ſei. Die Ereigniſſe von 1870, welche die Politik Europa’s zerriſſen, haben damit auch die Wege für die ruſſiſche Orientpolitik geebnet. Eine längere Abhandlung (Brief 4, 5 und 6) iſt der Lage der Türkei ge- widmet. In der Erhaltung der Türkei erblickt der Verfaſſer die Aufgabe der Weſt- mächte, da außerdem der Bosporus in die Hände der ruſſiſchen Macht fallen und die ſlaviſche Woge ſich im Mittelmeer ausbreiten und Weſteuropa einſchließen würde. Der Beſtand des türkiſchen Reichs und der Schutz ihrer Nationalen ſeinen die beiden Aufgaben Europa’s der Türkei gegenüber. Er beſpricht dann die Capi- tulationen, jene Verträge welche zwiſchen der Pforte und den chriſtlichen Mächten zum Schutz ihrer Nationalen abgeſchloſſen wurden, und gegen welche ſich die Politik Fuad und Aali Paſcha’s hauptſächlich richtete, nachdem ſie geſehen daß die Weſt- mächte um jeden Preis den Beſtand der osmaniſchen Regierung zu ſchützen beab- ſichtigen. Um die Aufhebung der Capitulationen vorzubereiten, ward der Hatti Humajum von 1858 gegeben, jene bekannte von den Geſandten in Konſtantinopel, hauptſächlich von Lord Stratford de Redeliffe, redigirte Reformacte der Türkei, die aber ebenſo wie ſein Vorfahrer, der Hattiſcherif von Gälhane, todte Buchſtaben blieben. Der Verfaſſer, welcher die orientaliſchen Verhältniſſe gründlich kennt, vertritt den Capitulationen gegenüber den einzig richtigen Standpunkt: ſolange die Capitulationen beſtehen, kann das türkiſche Reich nicht ein gleichberechtigtes Glied im europäiſchen Staatenconcert bilden; ihre Aufhebung aber kann erſt dann zugeſtanden werden wenn die ſchon ſo oft in Ausſicht geſtellten Reformen im ge- ſammten Staatsweſen zur Wahrheit geworden ſind. Nur unter dieſer Voraus- ſetzung erfolgte im Pariſer Frieden 1856 die Aufnahme der Türkei in die Reihe der Großmächte. Die ſich hieran ſchließende Schilderung der Verwaltung, der Juſtiz, der Armee und Flotte, des Unterrichtsweſens, der öffentlichen Arbeiten, der Steuern und Finanzen gehört zu den beſten Theilen des Buches; mit wenigen aber klaren Worten wird der Zuſtand des in jeder Beziehung im Argen liegenden Staatsweſens gezeichnet. Dieſe Zuſtände ſind den Leſern dieſer Blätter nicht unbe- kannt, bilden ja doch ſeit vielen Jahren ihre hervorragend unterrichteten Veiträge aus dem Orient einen wichtigen Beſtandtheil ihres Inhalts. Die äußere Lage der Türkei iſt durch die Ereigniſſe des letzten Jahres vollſtändig verändert worden. Sie mußte ſich dem Willen Rußlands fügen und alle Garantien aufgeben welche der Pariſer Friede ihr zugeſichert hatte. Rußland ſtellt ſeine Pontusflotte und den Kriegshaſen von Nicolajeff wieder her, innerhalb 48 Stunden kann dann ein Armeecorps zur Ausſchiffung auf den Höhen von Hunkiar Iskeleſſi bereit ſein, wo ſeine Truppen 1839 angeſichts der Sommerpalais Frankreichs und Englands in Therapia lagerten. Befeſtigte Lager zu beiden Seiten des Bosporus ſind daher dringendes Bedürfniß. Es iſt ſchade daß der Verfaſſer einen unveränderten Abdruck einer neuen Bearbeitung vorgezogen hat; in Folge deſſen findet das Erſcheinen des Buches die politiſche Lage in manchen Punkten verändert. 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Coup d’œil sur l’Europe au lendemain de la guerre, par l’auteur des lettres militaires publiées dans le Temps pendant le stége. Paris. Henri Plon. 1872. S. 166. 12.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine01_1872
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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 1, 1. Januar 1872, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine01_1872/1>, abgerufen am 15.05.2024.