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Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 11. Januar 1872.

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voran, und dieß sind gerade Eigenschaften die einem Beamten noththun, wenn
man jenen wichtigen Posten würdig und, soweit es wenigstens die Umstände ge-
statten, segensreich ausfüllen soll.

In unseren Preßverhältnissen gehen bei dem nun bald beginnenden Neu-
jahr alten St. manche Veränderungen vor, die auch wohl für Sie von Interesse
sein werden. Vor allen Dingen ist zu constatiren daß die bis jetzt hier bestehende
Trubnikow'sche Telegraphenagentur in den letzten Zügen liegt. Die hiesigen
Zeitungen bezogen bisher gemeinschaftlich, nach einem Abkommen mit dem Wolff'-
schen Büreau in Berlin, von diesem die erforderlichen Depeschen, und zwar in der
Art daß ein von den Redactionen erwählter Bevollmächtigter die geschäftlichen
Angelegenheiten mit dem Wolff'schen Büreau leitete. Nebenher war als Ab-
leger der "Börsenzeitung" auch eine russische Telegraphenagentur seit mehreren
Jahren ins Leben getreten, welche, da sie einem und demselben Herrn diente,
nämlich dem Hrn. Trubnikow, auch meist nur meldete was in den Kram dieses
Herrn und der "Börsenzeitung" paßte. Die Lügen dieser Trubnikow'schen Tele-
graphenagentur aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges sind noch heut in
aller Erinnerung. Nach ihren Telegrammen bestanden die Wolff'schen Depeschen
über die deutschen Erfolge nur aus Lügen, von ihr stammt auch die seiner Zeit
vielbesprochene famose Devesche von der Gefangennahme einer 40,000 Mann
starken deutschen Armee. Man glaubte hier in russischen Kreisen gern an die
Lügen der Trubnikow'schen Telegramme, obwohl das tägliche Vorschreiten der
deutschen Truppen nach Paris jedem Unbefangenen über die Unwahrheiten hätte
die Augen öffnen müssen. Der Witz aus dem Mund eines hiesigen
deutschen Kaufmanns lag daher nicht allzufern, welcher letztere einem
Russen, der, eine französische Siegesdepesche des Trubnikow'schen Bureau's
in der Hand schwingend, die Wolff'schen Mittheilungen höhnend Lügentele-
gramme nannte, erwiederte: "Nun, wir sind ganz zufrieden mit den Lügen,
wenn die deutsche Armee sich mit denselben nur so nach und nach bis nach
Paris fortlügt!" Daß sich eine Agentur wie die Trubnikow'sche nicht lange
halten konnte, liegt auf der Hand. Auch die Verbindung mit dem Wolff'schen
Bureau litt an manchen Inconvenienzen, so coulant letzteres auch, trotz des ge-
ringen Vortheils welchen es von der Geschäftsverbindung hatte, den Redactionen
entgegenkam. Das Inslebentreten einer neuen "internationalen Telegraphen-
Agentur" vom 1 Januar ab wird daher hier gern willkommen geheißen. Das
Unternehmen steht auf äußerst soliden Grundlagen und in Verbindung mit den
bedeutendsten Agenturen, mit Wolff in Berlin, Reuter in London und Havas in
Paris. An seine Spitze haben sich reiche russische Kaufleute gestellt, deren Namen
einen achtbaren Klang haben. In Folge dessen haben die hiesigen Redactionen,
nach freundschaftlichster Lösung ihrer mit dem Wolff'schen Bureau bestehenden Ver-
bindung, mit der neuen Telegraphenagentur einen längeren Contract abgeschlossen.

Mit dem Neujahr tritt auch ein neues politisches Organ ins Leben, auf
welches ich Ihre Aufmerksamkeit lenken will. Es ist eine Wochenschrift für Politik,
Staatsrechtskunde und Nationalökonomie, welche unter dem Namen "Der Bürger"
erscheinen und jeden Sommer drei Monate pausiren wird. Man sagt: daß die
Zeitschrift aus dem Anitschkow'schen Palais (des Thronfolgers) begünstigt wird.
Weß Geistes Kind das Organ sein dürfte, geht am besten aus dem Namen des
Herausgebers und Redacteurs hervor, welcher der berüchtigte Professor Gradowski,
der Leitartikelschreiber des "Golos," ist, dem die hiesige Universität zwei Schand-
flecken zu danken hat, den einen daß Gradowski den Antrag stellte: Hrn. Thiers,
als er bei seiner vorjährigen Rundreise auch am hiesigen Hof weilte um für eine
Intervention zu betteln, zum Ehrenmitgliede der Akademie zu ernennen -- einen
Antrag der glücklicherweise abgelehnt wurde; der andere: daß die hiesige Univer-
sität in ihrem Jahresbericht die Leitartikel des "Golos" ihm als verdienstliche Ar-
beit angerechnet hat. Man wird gespannt sein dürfen auf die Haltung der neuen
Wochenschrift, nachdem in den Regionen seiner Protectionskreise ein anderer Wind
zu wehen begonnen und sogar Hr. Katkow seine Vergangenheit zu verläugnen kein
Bedenken getragen hat, denn die Gründungsidee datirt aus einer Zeit in welcher
alle diese Thatsachen noch nicht vorlagen.

Der Kaiser hat wie alljährlich viele Einkäufe zum heurigen Weihnachtsfeste
gemacht. Es ist aufgefallen daß er dabei nur deutsche Fabricate und einige öster-
reichische Industrie-Artikel ausgewählt, französische Artikel aber mit Consequenz
beiseite geschoben und deren Ankauf abgelehnt hat. Es geschah dieß, wie man
versichert, nicht bloß in den Fällen wenn ihm der französische Ursprung zufällig be-
kannt wurde, sondern er pflegte sich bei jeder Sache ganz ausdrücklich nach dem Ur-
sprung derselben zu erkundigen.

Der hier wegen Diebstahls an Büchern zur Deportation nach Sibirien ver-
urtheilte bekannte Bibliomane Professor Pichler ist dieser Tage mit einem Trans-
port anderer Gefangener nach Sibirien abgegangen. Man hatte erwartet daß er
ein Gnadengesuch einreichen, und daß es dann mit einer Beförderung über die
Gränze sein Bewenden haben werde. Er hat indeß den Weg der Gnade verschmäht
und sich dem Strafurtheil gefügt.

Sie erinnern sich wohl aus einer meiner letzten Correspondenzen der eigen-
thümlichen Verhältnisse unter denen der Gouverneur von Livland, v. Lysander, seine
Entlassung genommen hat. Ich kann Ihnen heute melden: daß die Regierung
in Bezug auf die Wiederbesetzung dieses Postens sich nicht in geringer Verlegen-
heit befindet, indem schon sehr vielen tüchtigen Beamten die Gouverneurstelle an-
geboten worden ist, keiner solche aber übernehmen will nachdem die Vorgänge
näher bekannt geworden sind welche Hrn. v. Lysander zum Rücktritt veranlaßten.

Nach der neuesten Volkszählung in Rußland stellt sich die Bevölkerung Mos-
kau's auf mehr als 600,000 Einwohner heraus, die St. Peterburgs auf 666,915
Seelen. Unter letzteren befindet sich aber das Militär, so daß sich die Bevölkerung
der beiden Hauptstädte ziemlich die Wage zu halten scheint. Die Zahlen dürften
Ihnen, da jetzt so eben in Deutschland die Volkszählung stattgefunden hat, zu ver-
gleichenden Betrachtungen nicht ohne Interesse sein.

Die Vorbereitungen zu dem in diesem Frühjahr hier stattfindenden statisti-
schen Congreß gehen rasch vorwärts. Die Vorbereitungscommission hat schon
acht Sitzungen gehalten und beinahe ihre Aufgabe vollendet. Die weitern An-
ordnungen liegen in den Händen der Organisationscommission, bei der ein Minister
den Vorsitz übernimmt und die ein detaillirtes Programm der Arbeiten des Con-
gresses aufstellen wird, die in 5 Sectionen zerfallen: 1) Statistik überhaupt, 2) Be-
völkerung, 3) Industrie, 4) Verkehr, 5) Justiz. Die Organisationscommission be-
steht aus 30 Mitgliedern.



Proceß wegen Ermordung der Geiseln der Commune.

Vor dem sechsten Kriegsgericht unter dem
Vorsitz des Obersten Delaporte kommt heute die Affaire der Ermordung der Geiseln.
im Gefängnisse La Roquette
zur Verhandlung. Man weiß daß diese Geiseln u. a.
der Erzbischof von Paris, Msgr. Darboy, der erste Präsident des Pariser Appellhofs
Bonjean und eine Anzahl von Priestern waren, die bis dahin der Politik völlig fremd
geblieben. Der Proceß ist gegen 24 Angeklagte gerichtet, von denen jedoch nur 23.
anwesend sind. Der vierundzwanzigste ist flüchtig, und es muß gegen ihn in conturaa-
ciam
verfahren werden. Die Hauptangeklagten sind der 57jährige Isidore Francois,
unter der Commune Director des Gefängnisses von La Roquette, seines Zeichens ein
Kistenmacher, Ramain, Obergefängnißwärter, Picon und Langbein, beide Gefängniß-
wärter von La Roquette, ferner zwei Frauen, Zelie Grandel, Geliebte von Francois,
und Marguerite Gaindair, genannt La Chaise. Die Anklageschrift sagt folgendes:

"Am 24 Mai wurde in den Tiefen eines Pariser Gefängnisses ein großes Ver-
brechen begangen, und die Erinnerung daran macht noch heut alle ehrbaren Herzen er-
beben. Sechs Opfer, aus den angesehensten und tugendhaftesten Mitgliedern des Richter-
standes und des Klerus ausgewählt, wurden im Schatten von einer Handvoll wüthender
Trunkenbolde und untergeordneter Agenten niedergemetzelt, die den Befehlen der scheuß-
lichen Commune gehorchten. Eine sehr schwer zu führende Untersuchung hat ergeben daß
das Drama des 24 Mai sich kraft eines Scheinurtheils vollzog, welches von einem im-
provisirten Kriegsgericht in der Mairie des 10. Arrondissement gefällt worden war,
woselbst diejenigen Mitglieder der Commune welche noch nicht die Flucht ergriffen
sich seit dem Morgen hingeflüchtet hatten. Dort, am Boulevard Voltaire, befanden sich
Delescluze, Ranvier, Ferre u. a. Als sie sahen daß sie verloren waren, daß die Ra-
tionalgarden "Verrath" schrieen, befahlen sie die Ermordung der Geiseln. So gedachten
sie das Mißtrauen zu ersticken welches schon drohend um sie zu grollen begann, und
gleichzeitig wollten sie den Instincten der Rache genügen von denen sie belebt waren.
Da also war es wo Genton dieses Schein-Kriegsgericht errichtete, zu dessen Präsident
man ihn ernannte. An seiner Seite nahmen ein Sergent der Föderirten und ein alter
Nationalgardist Platz. Die Verurtheilung der Geiseln wurde ausgesprochen, die Hin-
richtung sollte unverzüglich erfolgen; sie erfolgte. Ein Peloton aus den Reihen der
Föderirten begab sich nach dem Kerker, und dort wurden ihm die Opfer durch den ersten
Angeklagten Francois und den ihm zur Seite sitzenden Ramain ausgeliefert."

Der
Anklage-Act geht nun auf den 18 März zurück und auf die Verhaftungen welche an
jenem Tage schon gemacht wurden. Er findet dieselben gewissermaßen logisch, nicht aber
die des Erzbischofs, der am 21 März, und des Präsidenten Bonjean, der am 4 April
ohne Grund, ohne Mandat und ohne Recht verhaftet wurde. Er gedenkt dann des
famosen Commune-Decrets vom 5 April, welches die Erschießung der Geiseln für gewisse
Fälle androht, und entwirft überhaupt eine Geschichte der Grausamkeiten und der Gräuel
die unter der Commune an der Tagesordnung waren. "Täglich fordert man in den
exaltirten Journalen wie in den Sitzungen des Stadthauses den Tod der Geiseln. Ver-
gebens verlangten die Geiseln Richter; man antwortete ihnen: "Die Commune voll-
zieht nicht Gerechtigkeit, sondern die Revolution." Deputationen der Plebs ver-
sicherten sich täglich auf der Registratur daß beim Namensaufruf keine der Geiseln fehle.
Schon am 12 Mai waren sie aus Mazas nach La Roquette übergeführt worden. Raoul
Rigault, Dacosta und ein gewisser Garraud leiteten die Uebersiedlung, welche im offenen
Wagen vor sich gieng und die Unglücklichen den Wuthausbrüchen der zornigen Menge
aussetzte. Von diesem Tag an wurde das Verbrechen vorbereitet. Vor dem Gefängniß-
thor placirte man sechs Compagnien Föderirter aus dem 180. und 206. Bataillon, die
bis zum 27 Mai dort blieben. Sie wurden commandirt von einem gewissen Verige,
einem schoflen Trunkenbold, der nicht erwählt, sondern von Ranvier besonders ausgesucht
worden war. Verige recrutirte Männer in seiner Truppe und commandirte das Feuer.
Als er nicht Freiwillige genug auftreiben konnte, wandte er sich an Genton, der aus den
verschiedenen Corps der Vengeurs de Flourens, der Lascars und der Fils du Pere-
Duchene Freiwillige schaffte. Die Mannschaften im ganzen waren feig, und um ihnen
zu zeigen daß man keine Verantwortlichkeit scheue, schritt man zum Meuchelmorde. Nach-
dem das Schein-Kriegsgericht, vor das man die Geiseln nicht vorgefordert hatte, sein
Urtheil gefällt, zog Genton zwischen 4 und 5 Uhr an der Spitze des Hinrichtungs-
Pelotons nach La Roquette. Auf dem Wege begegnet er der Frau La Chaise, welche
Marketenderin im 66. Bataillon war. Ihr erzählte er zu welchem Unternehmen er
ausziehe. Sie trat mit in das Gefängniß ein. Sie wollte indeß nicht daß das Ba-
taillon ausschließlich aus Soldaten des 66. Bataillons gebildet werde, die, wie sie sagte,
schon am Morgen einen ihrer Officiere erschossen und somit genug Verantwortlichkeit
auf sich geladen hätten. Verige, der das Commando übernommen hatte, stand ihr bei,
und so gelang es ihr mit einer Anzahl Nationalgarden des 66. Bataillons das Ge-
fängniß wieder zu verlassen. Vor La Roquette hatte sich eine beträchtliche Anzahl von
Nationalgardisten inzwischen versammelt, an welche noch die Löhnung ausgezahlt worden
war. Die Frauen hatten, wie immer, an der Vertheilung theilgenommen, dann
hatte man gemeinsam gekneipt, und bald war alle Welt berauscht. Gegen 7 Uhr
langten etwa 50 bewaffnete Männer an, von drei Mitgliedern der Commune begleitet.
Zwei Officiere führten sie. Einer von ihnen wurde erkannt; es ist der Angeklagte
Pigere. Dieß war das eigentliche Hinrichtungs-Peloton. Genton hatte schon im Laufe
des Tages eine Ordre an Francois gebracht, welche Darboy, den Abbe Deguerry und
Vonjean als zu Erschießende bezeichnete, und hinzufügte: "ferner drei andere Geiseln
nach freier Wahl." Francois hatte Scrupel und wollte die Wahl nicht treffen; aber
am Abend brachten die Delegirten dieselbe unvollständige Weisung wieder mit sich.
Francois mußte eingestehen daß er kein Gefängniß-Register führe. Endlich nach langem
Suchen fand man die Ueberweisungslisten der Geiseln aus Mazas, und ein Delegirter
nahm nach Gutdünken drei Namen daraus, um sie der Hinrichtungsliste hinzuzufügen.
Den Leuten in der Registratur dauerte dieß zu lange. Pigere zog seinen Säbel, und
zwang Ramain die Geiseln selbst abzuholen. Die sechs Opfer traten aus ihren
Zellen. Bonjean wollte noch einmal in die seinige zurückkehren; aber Ramain rief ihm
zu: "Für das was man mit Ihnen machen will sind Sie gut genug gekleidet." In-
zwischen war das Peloton bereit. Als die Geiseln zu ihm stießen, wurden sie mit ob-
scönen Beleidigungen überschüttet, und so schob man sie brutal nach dem äußeren Rund-
wege des Gefängnisses. Darboy, Bonjean und der Abbe A[unleserliches Material - 2 Zeichen fehlen]ard versuchten zu sprechen.
aber es unterbrach sie eine so starke Fluth von Schmähungen, daß einer der Föderirten
zu seinen Genossen sagte: "Schweigt, ihr wißt nicht was euch morgen passiren kann!"
Der Erzbischof kniete nieder, und ertheilte seinen Leidensgefährten noch einmal den
Segen. Dann setzte sich das Häuflein in Marsch, geführt von Ramain, der, die Hände
in den Hosentaschen, dahinschritt als handle es sich um das gewöhnlichste Ding von der
Welt. Ihm folgte der Abbe Allard, die Todtenpsalmen murmelnd, dann Darboy und

voran, und dieß ſind gerade Eigenſchaften die einem Beamten noththun, wenn
man jenen wichtigen Poſten würdig und, ſoweit es wenigſtens die Umſtände ge-
ſtatten, ſegensreich ausfüllen ſoll.

In unſeren Preßverhältniſſen gehen bei dem nun bald beginnenden Neu-
jahr alten St. manche Veränderungen vor, die auch wohl für Sie von Intereſſe
ſein werden. Vor allen Dingen iſt zu conſtatiren daß die bis jetzt hier beſtehende
Trubnikow’ſche Telegraphenagentur in den letzten Zügen liegt. Die hieſigen
Zeitungen bezogen bisher gemeinſchaftlich, nach einem Abkommen mit dem Wolff’-
ſchen Büreau in Berlin, von dieſem die erforderlichen Depeſchen, und zwar in der
Art daß ein von den Redactionen erwählter Bevollmächtigter die geſchäftlichen
Angelegenheiten mit dem Wolff’ſchen Büreau leitete. Nebenher war als Ab-
leger der „Börſenzeitung“ auch eine ruſſiſche Telegraphenagentur ſeit mehreren
Jahren ins Leben getreten, welche, da ſie einem und demſelben Herrn diente,
nämlich dem Hrn. Trubnikow, auch meiſt nur meldete was in den Kram dieſes
Herrn und der „Börſenzeitung“ paßte. Die Lügen dieſer Trubnikow’ſchen Tele-
graphenagentur aus der Zeit des deutſch-franzöſiſchen Krieges ſind noch heut in
aller Erinnerung. Nach ihren Telegrammen beſtanden die Wolff’ſchen Depeſchen
über die deutſchen Erfolge nur aus Lügen, von ihr ſtammt auch die ſeiner Zeit
vielbeſprochene famoſe Deveſche von der Gefangennahme einer 40,000 Mann
ſtarken deutſchen Armee. Man glaubte hier in ruſſiſchen Kreiſen gern an die
Lügen der Trubnikow’ſchen Telegramme, obwohl das tägliche Vorſchreiten der
deutſchen Truppen nach Paris jedem Unbefangenen über die Unwahrheiten hätte
die Augen öffnen müſſen. Der Witz aus dem Mund eines hieſigen
deutſchen Kaufmanns lag daher nicht allzufern, welcher letztere einem
Ruſſen, der, eine franzöſiſche Siegesdepeſche des Trubnikow’ſchen Bureau’s
in der Hand ſchwingend, die Wolff’ſchen Mittheilungen höhnend Lügentele-
gramme nannte, erwiederte: „Nun, wir ſind ganz zufrieden mit den Lügen,
wenn die deutſche Armee ſich mit denſelben nur ſo nach und nach bis nach
Paris fortlügt!“ Daß ſich eine Agentur wie die Trubnikow’ſche nicht lange
halten konnte, liegt auf der Hand. Auch die Verbindung mit dem Wolff’ſchen
Bureau litt an manchen Inconvenienzen, ſo coulant letzteres auch, trotz des ge-
ringen Vortheils welchen es von der Geſchäftsverbindung hatte, den Redactionen
entgegenkam. Das Inslebentreten einer neuen „internationalen Telegraphen-
Agentur“ vom 1 Januar ab wird daher hier gern willkommen geheißen. Das
Unternehmen ſteht auf äußerſt ſoliden Grundlagen und in Verbindung mit den
bedeutendſten Agenturen, mit Wolff in Berlin, Reuter in London und Havas in
Paris. An ſeine Spitze haben ſich reiche ruſſiſche Kaufleute geſtellt, deren Namen
einen achtbaren Klang haben. In Folge deſſen haben die hieſigen Redactionen,
nach freundſchaftlichſter Löſung ihrer mit dem Wolff’ſchen Bureau beſtehenden Ver-
bindung, mit der neuen Telegraphenagentur einen längeren Contract abgeſchloſſen.

Mit dem Neujahr tritt auch ein neues politiſches Organ ins Leben, auf
welches ich Ihre Aufmerkſamkeit lenken will. Es iſt eine Wochenſchrift für Politik,
Staatsrechtskunde und Nationalökonomie, welche unter dem Namen „Der Bürger“
erſcheinen und jeden Sommer drei Monate pauſiren wird. Man ſagt: daß die
Zeitſchrift aus dem Anitſchkow’ſchen Palais (des Thronfolgers) begünſtigt wird.
Weß Geiſtes Kind das Organ ſein dürfte, geht am beſten aus dem Namen des
Herausgebers und Redacteurs hervor, welcher der berüchtigte Profeſſor Gradowski,
der Leitartikelſchreiber des „Golos,“ iſt, dem die hieſige Univerſität zwei Schand-
flecken zu danken hat, den einen daß Gradowski den Antrag ſtellte: Hrn. Thiers,
als er bei ſeiner vorjährigen Rundreiſe auch am hieſigen Hof weilte um für eine
Intervention zu betteln, zum Ehrenmitgliede der Akademie zu ernennen — einen
Antrag der glücklicherweiſe abgelehnt wurde; der andere: daß die hieſige Univer-
ſität in ihrem Jahresbericht die Leitartikel des „Golos“ ihm als verdienſtliche Ar-
beit angerechnet hat. Man wird geſpannt ſein dürfen auf die Haltung der neuen
Wochenſchrift, nachdem in den Regionen ſeiner Protectionskreiſe ein anderer Wind
zu wehen begonnen und ſogar Hr. Katkow ſeine Vergangenheit zu verläugnen kein
Bedenken getragen hat, denn die Gründungsidee datirt aus einer Zeit in welcher
alle dieſe Thatſachen noch nicht vorlagen.

Der Kaiſer hat wie alljährlich viele Einkäufe zum heurigen Weihnachtsfeſte
gemacht. Es iſt aufgefallen daß er dabei nur deutſche Fabricate und einige öſter-
reichiſche Induſtrie-Artikel ausgewählt, franzöſiſche Artikel aber mit Conſequenz
beiſeite geſchoben und deren Ankauf abgelehnt hat. Es geſchah dieß, wie man
verſichert, nicht bloß in den Fällen wenn ihm der franzöſiſche Urſprung zufällig be-
kannt wurde, ſondern er pflegte ſich bei jeder Sache ganz ausdrücklich nach dem Ur-
ſprung derſelben zu erkundigen.

Der hier wegen Diebſtahls an Büchern zur Deportation nach Sibirien ver-
urtheilte bekannte Bibliomane Profeſſor Pichler iſt dieſer Tage mit einem Trans-
port anderer Gefangener nach Sibirien abgegangen. Man hatte erwartet daß er
ein Gnadengeſuch einreichen, und daß es dann mit einer Beförderung über die
Gränze ſein Bewenden haben werde. Er hat indeß den Weg der Gnade verſchmäht
und ſich dem Strafurtheil gefügt.

Sie erinnern ſich wohl aus einer meiner letzten Correſpondenzen der eigen-
thümlichen Verhältniſſe unter denen der Gouverneur von Livland, v. Lyſander, ſeine
Entlaſſung genommen hat. Ich kann Ihnen heute melden: daß die Regierung
in Bezug auf die Wiederbeſetzung dieſes Poſtens ſich nicht in geringer Verlegen-
heit befindet, indem ſchon ſehr vielen tüchtigen Beamten die Gouverneurſtelle an-
geboten worden iſt, keiner ſolche aber übernehmen will nachdem die Vorgänge
näher bekannt geworden ſind welche Hrn. v. Lyſander zum Rücktritt veranlaßten.

Nach der neueſten Volkszählung in Rußland ſtellt ſich die Bevölkerung Mos-
kau’s auf mehr als 600,000 Einwohner heraus, die St. Peterburgs auf 666,915
Seelen. Unter letzteren befindet ſich aber das Militär, ſo daß ſich die Bevölkerung
der beiden Hauptſtädte ziemlich die Wage zu halten ſcheint. Die Zahlen dürften
Ihnen, da jetzt ſo eben in Deutſchland die Volkszählung ſtattgefunden hat, zu ver-
gleichenden Betrachtungen nicht ohne Intereſſe ſein.

Die Vorbereitungen zu dem in dieſem Frühjahr hier ſtattfindenden ſtatiſti-
ſchen Congreß gehen raſch vorwärts. Die Vorbereitungscommiſſion hat ſchon
acht Sitzungen gehalten und beinahe ihre Aufgabe vollendet. Die weitern An-
ordnungen liegen in den Händen der Organiſationscommiſſion, bei der ein Miniſter
den Vorſitz übernimmt und die ein detaillirtes Programm der Arbeiten des Con-
greſſes aufſtellen wird, die in 5 Sectionen zerfallen: 1) Statiſtik überhaupt, 2) Be-
völkerung, 3) Induſtrie, 4) Verkehr, 5) Juſtiz. Die Organiſationscommiſſion be-
ſteht aus 30 Mitgliedern.



Proceß wegen Ermordung der Geiſeln der Commune.

Vor dem ſechsten Kriegsgericht unter dem
Vorſitz des Oberſten Delaporte kommt heute die Affaire der Ermordung der Geiſeln.
im Gefängniſſe La Roquette
zur Verhandlung. Man weiß daß dieſe Geiſeln u. a.
der Erzbiſchof von Paris, Mſgr. Darboy, der erſte Präſident des Pariſer Appellhofs
Bonjean und eine Anzahl von Prieſtern waren, die bis dahin der Politik völlig fremd
geblieben. Der Proceß iſt gegen 24 Angeklagte gerichtet, von denen jedoch nur 23.
anweſend ſind. Der vierundzwanzigſte iſt flüchtig, und es muß gegen ihn in conturaa-
ciam
verfahren werden. Die Hauptangeklagten ſind der 57jährige Iſidore François,
unter der Commune Director des Gefängniſſes von La Roquette, ſeines Zeichens ein
Kiſtenmacher, Ramain, Obergefängnißwärter, Picon und Langbein, beide Gefängniß-
wärter von La Roquette, ferner zwei Frauen, Zélie Grandel, Geliebte von François,
und Marguérite Gaindair, genannt La Chaiſe. Die Anklageſchrift ſagt folgendes:

„Am 24 Mai wurde in den Tiefen eines Pariſer Gefängniſſes ein großes Ver-
brechen begangen, und die Erinnerung daran macht noch heut alle ehrbaren Herzen er-
beben. Sechs Opfer, aus den angeſehenſten und tugendhafteſten Mitgliedern des Richter-
ſtandes und des Klerus ausgewählt, wurden im Schatten von einer Handvoll wüthender
Trunkenbolde und untergeordneter Agenten niedergemetzelt, die den Befehlen der ſcheuß-
lichen Commune gehorchten. Eine ſehr ſchwer zu führende Unterſuchung hat ergeben daß
das Drama des 24 Mai ſich kraft eines Scheinurtheils vollzog, welches von einem im-
proviſirten Kriegsgericht in der Mairie des 10. Arrondiſſement gefällt worden war,
woſelbſt diejenigen Mitglieder der Commune welche noch nicht die Flucht ergriffen
ſich ſeit dem Morgen hingeflüchtet hatten. Dort, am Boulevard Voltaire, befanden ſich
Delescluze, Ranvier, Ferré u. a. Als ſie ſahen daß ſie verloren waren, daß die Ra-
tionalgarden „Verrath“ ſchrieen, befahlen ſie die Ermordung der Geiſeln. So gedachten
ſie das Mißtrauen zu erſticken welches ſchon drohend um ſie zu grollen begann, und
gleichzeitig wollten ſie den Inſtincten der Rache genügen von denen ſie belebt waren.
Da alſo war es wo Genton dieſes Schein-Kriegsgericht errichtete, zu deſſen Präſident
man ihn ernannte. An ſeiner Seite nahmen ein Sergent der Föderirten und ein alter
Nationalgardiſt Platz. Die Verurtheilung der Geiſeln wurde ausgeſprochen, die Hin-
richtung ſollte unverzüglich erfolgen; ſie erfolgte. Ein Peloton aus den Reihen der
Föderirten begab ſich nach dem Kerker, und dort wurden ihm die Opfer durch den erſten
Angeklagten François und den ihm zur Seite ſitzenden Ramain ausgeliefert.“

Der
Anklage-Act geht nun auf den 18 März zurück und auf die Verhaftungen welche an
jenem Tage ſchon gemacht wurden. Er findet dieſelben gewiſſermaßen logiſch, nicht aber
die des Erzbiſchofs, der am 21 März, und des Präſidenten Bonjean, der am 4 April
ohne Grund, ohne Mandat und ohne Recht verhaftet wurde. Er gedenkt dann des
famoſen Commune-Decrets vom 5 April, welches die Erſchießung der Geiſeln für gewiſſe
Fälle androht, und entwirft überhaupt eine Geſchichte der Grauſamkeiten und der Gräuel
die unter der Commune an der Tagesordnung waren. „Täglich fordert man in den
exaltirten Journalen wie in den Sitzungen des Stadthauſes den Tod der Geiſeln. Ver-
gebens verlangten die Geiſeln Richter; man antwortete ihnen: „Die Commune voll-
zieht nicht Gerechtigkeit, ſondern die Revolution.“ Deputationen der Plebs ver-
ſicherten ſich täglich auf der Regiſtratur daß beim Namensaufruf keine der Geiſeln fehle.
Schon am 12 Mai waren ſie aus Mazas nach La Roquette übergeführt worden. Raoul
Rigault, Dacoſta und ein gewiſſer Garraud leiteten die Ueberſiedlung, welche im offenen
Wagen vor ſich gieng und die Unglücklichen den Wuthausbrüchen der zornigen Menge
ausſetzte. Von dieſem Tag an wurde das Verbrechen vorbereitet. Vor dem Gefängniß-
thor placirte man ſechs Compagnien Föderirter aus dem 180. und 206. Bataillon, die
bis zum 27 Mai dort blieben. Sie wurden commandirt von einem gewiſſen Vérige,
einem ſchoflen Trunkenbold, der nicht erwählt, ſondern von Ranvier beſonders ausgeſucht
worden war. Vérige recrutirte Männer in ſeiner Truppe und commandirte das Feuer.
Als er nicht Freiwillige genug auftreiben konnte, wandte er ſich an Genton, der aus den
verſchiedenen Corps der Vengeurs de Flourens, der Lascars und der Fils du Père-
Duchêne Freiwillige ſchaffte. Die Mannſchaften im ganzen waren feig, und um ihnen
zu zeigen daß man keine Verantwortlichkeit ſcheue, ſchritt man zum Meuchelmorde. Nach-
dem das Schein-Kriegsgericht, vor das man die Geiſeln nicht vorgefordert hatte, ſein
Urtheil gefällt, zog Genton zwiſchen 4 und 5 Uhr an der Spitze des Hinrichtungs-
Pelotons nach La Roquette. Auf dem Wege begegnet er der Frau La Chaiſe, welche
Marketenderin im 66. Bataillon war. Ihr erzählte er zu welchem Unternehmen er
ausziehe. Sie trat mit in das Gefängniß ein. Sie wollte indeß nicht daß das Ba-
taillon ausſchließlich aus Soldaten des 66. Bataillons gebildet werde, die, wie ſie ſagte,
ſchon am Morgen einen ihrer Officiere erſchoſſen und ſomit genug Verantwortlichkeit
auf ſich geladen hätten. Vérige, der das Commando übernommen hatte, ſtand ihr bei,
und ſo gelang es ihr mit einer Anzahl Nationalgarden des 66. Bataillons das Ge-
fängniß wieder zu verlaſſen. Vor La Roquette hatte ſich eine beträchtliche Anzahl von
Nationalgardiſten inzwiſchen verſammelt, an welche noch die Löhnung ausgezahlt worden
war. Die Frauen hatten, wie immer, an der Vertheilung theilgenommen, dann
hatte man gemeinſam gekneipt, und bald war alle Welt berauſcht. Gegen 7 Uhr
langten etwa 50 bewaffnete Männer an, von drei Mitgliedern der Commune begleitet.
Zwei Officiere führten ſie. Einer von ihnen wurde erkannt; es iſt der Angeklagte
Pigère. Dieß war das eigentliche Hinrichtungs-Peloton. Genton hatte ſchon im Laufe
des Tages eine Ordre an François gebracht, welche Darboy, den Abbé Deguerry und
Vonjean als zu Erſchießende bezeichnete, und hinzufügte: „ferner drei andere Geiſeln
nach freier Wahl.“ François hatte Scrupel und wollte die Wahl nicht treffen; aber
am Abend brachten die Delegirten dieſelbe unvollſtändige Weiſung wieder mit ſich.
François mußte eingeſtehen daß er kein Gefängniß-Regiſter führe. Endlich nach langem
Suchen fand man die Ueberweiſungsliſten der Geiſeln aus Mazas, und ein Delegirter
nahm nach Gutdünken drei Namen daraus, um ſie der Hinrichtungsliſte hinzuzufügen.
Den Leuten in der Regiſtratur dauerte dieß zu lange. Pigère zog ſeinen Säbel, und
zwang Ramain die Geiſeln ſelbſt abzuholen. Die ſechs Opfer traten aus ihren
Zellen. Bonjean wollte noch einmal in die ſeinige zurückkehren; aber Ramain rief ihm
zu: „Für das was man mit Ihnen machen will ſind Sie gut genug gekleidet.“ In-
zwiſchen war das Peloton bereit. Als die Geiſeln zu ihm ſtießen, wurden ſie mit ob-
ſcönen Beleidigungen überſchüttet, und ſo ſchob man ſie brutal nach dem äußeren Rund-
wege des Gefängniſſes. Darboy, Bonjean und der Abbé A[unleserliches Material – 2 Zeichen fehlen]ard verſuchten zu ſprechen.
aber es unterbrach ſie eine ſo ſtarke Fluth von Schmähungen, daß einer der Föderirten
zu ſeinen Genoſſen ſagte: „Schweigt, ihr wißt nicht was euch morgen paſſiren kann!“
Der Erzbiſchof kniete nieder, und ertheilte ſeinen Leidensgefährten noch einmal den
Segen. Dann ſetzte ſich das Häuflein in Marſch, geführt von Ramain, der, die Hände
in den Hoſentaſchen, dahinſchritt als handle es ſich um das gewöhnlichſte Ding von der
Welt. Ihm folgte der Abbé Allard, die Todtenpſalmen murmelnd, dann Darboy und

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Trubnikow&#x2019;&#x017F;che Telegraphenagentur in den letzten Zügen liegt. Die hie&#x017F;igen<lb/>
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&#x017F;chen Büreau in Berlin, von die&#x017F;em die erforderlichen Depe&#x017F;chen, und zwar in der<lb/>
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&#x017F;tarken deut&#x017F;chen Armee. Man glaubte hier in ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Krei&#x017F;en gern an die<lb/>
Lügen der Trubnikow&#x2019;&#x017F;chen Telegramme, obwohl das tägliche Vor&#x017F;chreiten der<lb/>
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welches ich Ihre Aufmerk&#x017F;amkeit lenken will. Es i&#x017F;t eine Wochen&#x017F;chrift für Politik,<lb/>
Staatsrechtskunde und Nationalökonomie, welche unter dem Namen &#x201E;Der Bürger&#x201C;<lb/>
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Weß Gei&#x017F;tes Kind das Organ &#x017F;ein dürfte, geht am be&#x017F;ten aus dem Namen des<lb/>
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&#x017F;ität in ihrem Jahresbericht die Leitartikel des &#x201E;Golos&#x201C; ihm als verdien&#x017F;tliche Ar-<lb/>
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Bedenken getragen hat, denn die Gründungsidee datirt aus einer Zeit in welcher<lb/>
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reichi&#x017F;che Indu&#x017F;trie-Artikel ausgewählt, franzö&#x017F;i&#x017F;che Artikel aber mit Con&#x017F;equenz<lb/>
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&#x017F;prung der&#x017F;elben zu erkundigen.</p>
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urtheilte bekannte Bibliomane Profe&#x017F;&#x017F;or Pichler i&#x017F;t die&#x017F;er Tage mit einem Trans-<lb/>
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Gränze &#x017F;ein Bewenden haben werde. Er hat indeß den Weg der Gnade ver&#x017F;chmäht<lb/>
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&#x017F;chen Congreß gehen ra&#x017F;ch vorwärts. Die Vorbereitungscommi&#x017F;&#x017F;ion hat &#x017F;chon<lb/>
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&#x017F;teht aus 30 Mitgliedern.</p>
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Vor&#x017F;itz des Ober&#x017F;ten Delaporte kommt heute die Affaire der <hi rendition="#g">Ermordung der Gei&#x017F;eln.<lb/>
im Gefängni&#x017F;&#x017F;e La Roquette</hi> zur Verhandlung. Man weiß daß die&#x017F;e Gei&#x017F;eln u. a.<lb/>
der Erzbi&#x017F;chof von Paris, M&#x017F;gr. Darboy, der er&#x017F;te Prä&#x017F;ident des Pari&#x017F;er Appellhofs<lb/>
Bonjean und eine Anzahl von Prie&#x017F;tern waren, die bis dahin der Politik völlig fremd<lb/>
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ciam</hi> verfahren werden. Die Hauptangeklagten &#x017F;ind der 57jährige I&#x017F;idore Fran<hi rendition="#aq">ç</hi>ois,<lb/>
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Ki&#x017F;tenmacher, Ramain, Obergefängnißwärter, Picon und Langbein, beide Gefängniß-<lb/>
wärter von La Roquette, ferner zwei Frauen, Z<hi rendition="#aq">é</hi>lie Grandel, Geliebte von Fran<hi rendition="#aq">ç</hi>ois,<lb/>
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Anklage-Act geht nun auf den 18 März zurück und auf die Verhaftungen welche an<lb/>
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Fälle androht, und entwirft überhaupt eine Ge&#x017F;chichte der Grau&#x017F;amkeiten und der Gräuel<lb/>
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&#x017F;icherten &#x017F;ich täglich auf der Regi&#x017F;tratur daß beim Namensaufruf keine der Gei&#x017F;eln fehle.<lb/>
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thor placirte man &#x017F;echs Compagnien Föderirter aus dem 180. und 206. Bataillon, die<lb/>
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[147/0003] voran, und dieß ſind gerade Eigenſchaften die einem Beamten noththun, wenn man jenen wichtigen Poſten würdig und, ſoweit es wenigſtens die Umſtände ge- ſtatten, ſegensreich ausfüllen ſoll. In unſeren Preßverhältniſſen gehen bei dem nun bald beginnenden Neu- jahr alten St. manche Veränderungen vor, die auch wohl für Sie von Intereſſe ſein werden. Vor allen Dingen iſt zu conſtatiren daß die bis jetzt hier beſtehende Trubnikow’ſche Telegraphenagentur in den letzten Zügen liegt. Die hieſigen Zeitungen bezogen bisher gemeinſchaftlich, nach einem Abkommen mit dem Wolff’- ſchen Büreau in Berlin, von dieſem die erforderlichen Depeſchen, und zwar in der Art daß ein von den Redactionen erwählter Bevollmächtigter die geſchäftlichen Angelegenheiten mit dem Wolff’ſchen Büreau leitete. Nebenher war als Ab- leger der „Börſenzeitung“ auch eine ruſſiſche Telegraphenagentur ſeit mehreren Jahren ins Leben getreten, welche, da ſie einem und demſelben Herrn diente, nämlich dem Hrn. Trubnikow, auch meiſt nur meldete was in den Kram dieſes Herrn und der „Börſenzeitung“ paßte. Die Lügen dieſer Trubnikow’ſchen Tele- graphenagentur aus der Zeit des deutſch-franzöſiſchen Krieges ſind noch heut in aller Erinnerung. Nach ihren Telegrammen beſtanden die Wolff’ſchen Depeſchen über die deutſchen Erfolge nur aus Lügen, von ihr ſtammt auch die ſeiner Zeit vielbeſprochene famoſe Deveſche von der Gefangennahme einer 40,000 Mann ſtarken deutſchen Armee. Man glaubte hier in ruſſiſchen Kreiſen gern an die Lügen der Trubnikow’ſchen Telegramme, obwohl das tägliche Vorſchreiten der deutſchen Truppen nach Paris jedem Unbefangenen über die Unwahrheiten hätte die Augen öffnen müſſen. Der Witz aus dem Mund eines hieſigen deutſchen Kaufmanns lag daher nicht allzufern, welcher letztere einem Ruſſen, der, eine franzöſiſche Siegesdepeſche des Trubnikow’ſchen Bureau’s in der Hand ſchwingend, die Wolff’ſchen Mittheilungen höhnend Lügentele- gramme nannte, erwiederte: „Nun, wir ſind ganz zufrieden mit den Lügen, wenn die deutſche Armee ſich mit denſelben nur ſo nach und nach bis nach Paris fortlügt!“ Daß ſich eine Agentur wie die Trubnikow’ſche nicht lange halten konnte, liegt auf der Hand. Auch die Verbindung mit dem Wolff’ſchen Bureau litt an manchen Inconvenienzen, ſo coulant letzteres auch, trotz des ge- ringen Vortheils welchen es von der Geſchäftsverbindung hatte, den Redactionen entgegenkam. Das Inslebentreten einer neuen „internationalen Telegraphen- Agentur“ vom 1 Januar ab wird daher hier gern willkommen geheißen. Das Unternehmen ſteht auf äußerſt ſoliden Grundlagen und in Verbindung mit den bedeutendſten Agenturen, mit Wolff in Berlin, Reuter in London und Havas in Paris. An ſeine Spitze haben ſich reiche ruſſiſche Kaufleute geſtellt, deren Namen einen achtbaren Klang haben. In Folge deſſen haben die hieſigen Redactionen, nach freundſchaftlichſter Löſung ihrer mit dem Wolff’ſchen Bureau beſtehenden Ver- bindung, mit der neuen Telegraphenagentur einen längeren Contract abgeſchloſſen. Mit dem Neujahr tritt auch ein neues politiſches Organ ins Leben, auf welches ich Ihre Aufmerkſamkeit lenken will. Es iſt eine Wochenſchrift für Politik, Staatsrechtskunde und Nationalökonomie, welche unter dem Namen „Der Bürger“ erſcheinen und jeden Sommer drei Monate pauſiren wird. Man ſagt: daß die Zeitſchrift aus dem Anitſchkow’ſchen Palais (des Thronfolgers) begünſtigt wird. Weß Geiſtes Kind das Organ ſein dürfte, geht am beſten aus dem Namen des Herausgebers und Redacteurs hervor, welcher der berüchtigte Profeſſor Gradowski, der Leitartikelſchreiber des „Golos,“ iſt, dem die hieſige Univerſität zwei Schand- flecken zu danken hat, den einen daß Gradowski den Antrag ſtellte: Hrn. Thiers, als er bei ſeiner vorjährigen Rundreiſe auch am hieſigen Hof weilte um für eine Intervention zu betteln, zum Ehrenmitgliede der Akademie zu ernennen — einen Antrag der glücklicherweiſe abgelehnt wurde; der andere: daß die hieſige Univer- ſität in ihrem Jahresbericht die Leitartikel des „Golos“ ihm als verdienſtliche Ar- beit angerechnet hat. Man wird geſpannt ſein dürfen auf die Haltung der neuen Wochenſchrift, nachdem in den Regionen ſeiner Protectionskreiſe ein anderer Wind zu wehen begonnen und ſogar Hr. Katkow ſeine Vergangenheit zu verläugnen kein Bedenken getragen hat, denn die Gründungsidee datirt aus einer Zeit in welcher alle dieſe Thatſachen noch nicht vorlagen. Der Kaiſer hat wie alljährlich viele Einkäufe zum heurigen Weihnachtsfeſte gemacht. Es iſt aufgefallen daß er dabei nur deutſche Fabricate und einige öſter- reichiſche Induſtrie-Artikel ausgewählt, franzöſiſche Artikel aber mit Conſequenz beiſeite geſchoben und deren Ankauf abgelehnt hat. Es geſchah dieß, wie man verſichert, nicht bloß in den Fällen wenn ihm der franzöſiſche Urſprung zufällig be- kannt wurde, ſondern er pflegte ſich bei jeder Sache ganz ausdrücklich nach dem Ur- ſprung derſelben zu erkundigen. Der hier wegen Diebſtahls an Büchern zur Deportation nach Sibirien ver- urtheilte bekannte Bibliomane Profeſſor Pichler iſt dieſer Tage mit einem Trans- port anderer Gefangener nach Sibirien abgegangen. Man hatte erwartet daß er ein Gnadengeſuch einreichen, und daß es dann mit einer Beförderung über die Gränze ſein Bewenden haben werde. Er hat indeß den Weg der Gnade verſchmäht und ſich dem Strafurtheil gefügt. Sie erinnern ſich wohl aus einer meiner letzten Correſpondenzen der eigen- thümlichen Verhältniſſe unter denen der Gouverneur von Livland, v. Lyſander, ſeine Entlaſſung genommen hat. Ich kann Ihnen heute melden: daß die Regierung in Bezug auf die Wiederbeſetzung dieſes Poſtens ſich nicht in geringer Verlegen- heit befindet, indem ſchon ſehr vielen tüchtigen Beamten die Gouverneurſtelle an- geboten worden iſt, keiner ſolche aber übernehmen will nachdem die Vorgänge näher bekannt geworden ſind welche Hrn. v. Lyſander zum Rücktritt veranlaßten. Nach der neueſten Volkszählung in Rußland ſtellt ſich die Bevölkerung Mos- kau’s auf mehr als 600,000 Einwohner heraus, die St. Peterburgs auf 666,915 Seelen. Unter letzteren befindet ſich aber das Militär, ſo daß ſich die Bevölkerung der beiden Hauptſtädte ziemlich die Wage zu halten ſcheint. Die Zahlen dürften Ihnen, da jetzt ſo eben in Deutſchland die Volkszählung ſtattgefunden hat, zu ver- gleichenden Betrachtungen nicht ohne Intereſſe ſein. Die Vorbereitungen zu dem in dieſem Frühjahr hier ſtattfindenden ſtatiſti- ſchen Congreß gehen raſch vorwärts. Die Vorbereitungscommiſſion hat ſchon acht Sitzungen gehalten und beinahe ihre Aufgabe vollendet. Die weitern An- ordnungen liegen in den Händen der Organiſationscommiſſion, bei der ein Miniſter den Vorſitz übernimmt und die ein detaillirtes Programm der Arbeiten des Con- greſſes aufſtellen wird, die in 5 Sectionen zerfallen: 1) Statiſtik überhaupt, 2) Be- völkerung, 3) Induſtrie, 4) Verkehr, 5) Juſtiz. Die Organiſationscommiſſion be- ſteht aus 30 Mitgliedern. Proceß wegen Ermordung der Geiſeln der Commune. * Verſailles, 8 Jan. Vor dem ſechsten Kriegsgericht unter dem Vorſitz des Oberſten Delaporte kommt heute die Affaire der Ermordung der Geiſeln. im Gefängniſſe La Roquette zur Verhandlung. Man weiß daß dieſe Geiſeln u. a. der Erzbiſchof von Paris, Mſgr. Darboy, der erſte Präſident des Pariſer Appellhofs Bonjean und eine Anzahl von Prieſtern waren, die bis dahin der Politik völlig fremd geblieben. Der Proceß iſt gegen 24 Angeklagte gerichtet, von denen jedoch nur 23. anweſend ſind. Der vierundzwanzigſte iſt flüchtig, und es muß gegen ihn in conturaa- ciam verfahren werden. Die Hauptangeklagten ſind der 57jährige Iſidore François, unter der Commune Director des Gefängniſſes von La Roquette, ſeines Zeichens ein Kiſtenmacher, Ramain, Obergefängnißwärter, Picon und Langbein, beide Gefängniß- wärter von La Roquette, ferner zwei Frauen, Zélie Grandel, Geliebte von François, und Marguérite Gaindair, genannt La Chaiſe. Die Anklageſchrift ſagt folgendes: „Am 24 Mai wurde in den Tiefen eines Pariſer Gefängniſſes ein großes Ver- brechen begangen, und die Erinnerung daran macht noch heut alle ehrbaren Herzen er- beben. Sechs Opfer, aus den angeſehenſten und tugendhafteſten Mitgliedern des Richter- ſtandes und des Klerus ausgewählt, wurden im Schatten von einer Handvoll wüthender Trunkenbolde und untergeordneter Agenten niedergemetzelt, die den Befehlen der ſcheuß- lichen Commune gehorchten. Eine ſehr ſchwer zu führende Unterſuchung hat ergeben daß das Drama des 24 Mai ſich kraft eines Scheinurtheils vollzog, welches von einem im- proviſirten Kriegsgericht in der Mairie des 10. Arrondiſſement gefällt worden war, woſelbſt diejenigen Mitglieder der Commune welche noch nicht die Flucht ergriffen ſich ſeit dem Morgen hingeflüchtet hatten. Dort, am Boulevard Voltaire, befanden ſich Delescluze, Ranvier, Ferré u. a. Als ſie ſahen daß ſie verloren waren, daß die Ra- tionalgarden „Verrath“ ſchrieen, befahlen ſie die Ermordung der Geiſeln. So gedachten ſie das Mißtrauen zu erſticken welches ſchon drohend um ſie zu grollen begann, und gleichzeitig wollten ſie den Inſtincten der Rache genügen von denen ſie belebt waren. Da alſo war es wo Genton dieſes Schein-Kriegsgericht errichtete, zu deſſen Präſident man ihn ernannte. An ſeiner Seite nahmen ein Sergent der Föderirten und ein alter Nationalgardiſt Platz. Die Verurtheilung der Geiſeln wurde ausgeſprochen, die Hin- richtung ſollte unverzüglich erfolgen; ſie erfolgte. Ein Peloton aus den Reihen der Föderirten begab ſich nach dem Kerker, und dort wurden ihm die Opfer durch den erſten Angeklagten François und den ihm zur Seite ſitzenden Ramain ausgeliefert.“ Der Anklage-Act geht nun auf den 18 März zurück und auf die Verhaftungen welche an jenem Tage ſchon gemacht wurden. Er findet dieſelben gewiſſermaßen logiſch, nicht aber die des Erzbiſchofs, der am 21 März, und des Präſidenten Bonjean, der am 4 April ohne Grund, ohne Mandat und ohne Recht verhaftet wurde. Er gedenkt dann des famoſen Commune-Decrets vom 5 April, welches die Erſchießung der Geiſeln für gewiſſe Fälle androht, und entwirft überhaupt eine Geſchichte der Grauſamkeiten und der Gräuel die unter der Commune an der Tagesordnung waren. „Täglich fordert man in den exaltirten Journalen wie in den Sitzungen des Stadthauſes den Tod der Geiſeln. Ver- gebens verlangten die Geiſeln Richter; man antwortete ihnen: „Die Commune voll- zieht nicht Gerechtigkeit, ſondern die Revolution.“ Deputationen der Plebs ver- ſicherten ſich täglich auf der Regiſtratur daß beim Namensaufruf keine der Geiſeln fehle. Schon am 12 Mai waren ſie aus Mazas nach La Roquette übergeführt worden. Raoul Rigault, Dacoſta und ein gewiſſer Garraud leiteten die Ueberſiedlung, welche im offenen Wagen vor ſich gieng und die Unglücklichen den Wuthausbrüchen der zornigen Menge ausſetzte. Von dieſem Tag an wurde das Verbrechen vorbereitet. Vor dem Gefängniß- thor placirte man ſechs Compagnien Föderirter aus dem 180. und 206. Bataillon, die bis zum 27 Mai dort blieben. Sie wurden commandirt von einem gewiſſen Vérige, einem ſchoflen Trunkenbold, der nicht erwählt, ſondern von Ranvier beſonders ausgeſucht worden war. Vérige recrutirte Männer in ſeiner Truppe und commandirte das Feuer. Als er nicht Freiwillige genug auftreiben konnte, wandte er ſich an Genton, der aus den verſchiedenen Corps der Vengeurs de Flourens, der Lascars und der Fils du Père- Duchêne Freiwillige ſchaffte. Die Mannſchaften im ganzen waren feig, und um ihnen zu zeigen daß man keine Verantwortlichkeit ſcheue, ſchritt man zum Meuchelmorde. Nach- dem das Schein-Kriegsgericht, vor das man die Geiſeln nicht vorgefordert hatte, ſein Urtheil gefällt, zog Genton zwiſchen 4 und 5 Uhr an der Spitze des Hinrichtungs- Pelotons nach La Roquette. Auf dem Wege begegnet er der Frau La Chaiſe, welche Marketenderin im 66. Bataillon war. Ihr erzählte er zu welchem Unternehmen er ausziehe. Sie trat mit in das Gefängniß ein. Sie wollte indeß nicht daß das Ba- taillon ausſchließlich aus Soldaten des 66. Bataillons gebildet werde, die, wie ſie ſagte, ſchon am Morgen einen ihrer Officiere erſchoſſen und ſomit genug Verantwortlichkeit auf ſich geladen hätten. Vérige, der das Commando übernommen hatte, ſtand ihr bei, und ſo gelang es ihr mit einer Anzahl Nationalgarden des 66. Bataillons das Ge- fängniß wieder zu verlaſſen. Vor La Roquette hatte ſich eine beträchtliche Anzahl von Nationalgardiſten inzwiſchen verſammelt, an welche noch die Löhnung ausgezahlt worden war. Die Frauen hatten, wie immer, an der Vertheilung theilgenommen, dann hatte man gemeinſam gekneipt, und bald war alle Welt berauſcht. Gegen 7 Uhr langten etwa 50 bewaffnete Männer an, von drei Mitgliedern der Commune begleitet. Zwei Officiere führten ſie. Einer von ihnen wurde erkannt; es iſt der Angeklagte Pigère. Dieß war das eigentliche Hinrichtungs-Peloton. Genton hatte ſchon im Laufe des Tages eine Ordre an François gebracht, welche Darboy, den Abbé Deguerry und Vonjean als zu Erſchießende bezeichnete, und hinzufügte: „ferner drei andere Geiſeln nach freier Wahl.“ François hatte Scrupel und wollte die Wahl nicht treffen; aber am Abend brachten die Delegirten dieſelbe unvollſtändige Weiſung wieder mit ſich. François mußte eingeſtehen daß er kein Gefängniß-Regiſter führe. Endlich nach langem Suchen fand man die Ueberweiſungsliſten der Geiſeln aus Mazas, und ein Delegirter nahm nach Gutdünken drei Namen daraus, um ſie der Hinrichtungsliſte hinzuzufügen. Den Leuten in der Regiſtratur dauerte dieß zu lange. Pigère zog ſeinen Säbel, und zwang Ramain die Geiſeln ſelbſt abzuholen. Die ſechs Opfer traten aus ihren Zellen. Bonjean wollte noch einmal in die ſeinige zurückkehren; aber Ramain rief ihm zu: „Für das was man mit Ihnen machen will ſind Sie gut genug gekleidet.“ In- zwiſchen war das Peloton bereit. Als die Geiſeln zu ihm ſtießen, wurden ſie mit ob- ſcönen Beleidigungen überſchüttet, und ſo ſchob man ſie brutal nach dem äußeren Rund- wege des Gefängniſſes. Darboy, Bonjean und der Abbé A__ard verſuchten zu ſprechen. aber es unterbrach ſie eine ſo ſtarke Fluth von Schmähungen, daß einer der Föderirten zu ſeinen Genoſſen ſagte: „Schweigt, ihr wißt nicht was euch morgen paſſiren kann!“ Der Erzbiſchof kniete nieder, und ertheilte ſeinen Leidensgefährten noch einmal den Segen. Dann ſetzte ſich das Häuflein in Marſch, geführt von Ramain, der, die Hände in den Hoſentaſchen, dahinſchritt als handle es ſich um das gewöhnlichſte Ding von der Welt. Ihm folgte der Abbé Allard, die Todtenpſalmen murmelnd, dann Darboy und

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 11. Januar 1872, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine11_1872/3>, abgerufen am 12.06.2024.