Allgemeine Zeitung, Nr. 165, 13. Juni 1860.[Spaltenumbruch]
Paris, 11 Jun. Donnerstags erstes Auschlußfest: Heerschau, Italien. x Turin, 10 Jun. Vorgestern starb die Gräfin Stakelberg, die Genua, 8 Jun. Ich war gut unterrichtet als ich Ihnen gestern [Spaltenumbruch]
Paris, 11 Jun. Donnerſtags erſtes Auſchlußfeſt: Heerſchau, Italien. × Turin, 10 Jun. Vorgeſtern ſtarb die Gräfin Stakelberg, die ∆ Genua, 8 Jun. Ich war gut unterrichtet als ich Ihnen geſtern <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jComment" n="3"> <pb facs="#f0007" n="2751"/> <cb/> </div> <div type="jComment" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Paris,</hi> 11 Jun.</dateline> <p>Donnerſtags <hi rendition="#g">erſtes</hi> Auſchlußfeſt: Heerſchau,<lb/> kaiſerliche Feſtrede, Feuerwerk, glänzende Illumination. Freitags begeben<lb/> ſich der Kaiſer und die Kaiſerin über Plombi<hi rendition="#aq">è</hi>res nach Baden zu der Zuſam-<lb/> menkunft mit dem Prinz-Regenten. Die ruſſiſche Diplomatie rühmt ſich dieſe<lb/> Annäherung, welche unter den hier reſidirenden Engländern und Belgiern ein<lb/> ſchwer zu beſchreibendes Aufſehen erregt, zu Stande gebracht zu haben. Ueber<lb/> die Beſetzung eines Punktes von Palermo durch die Engländer iſt man noch<lb/> nicht vollkommen aufgeklärt, obgleich eine ſpätere Depeſche die erſte Nachricht,<lb/> welche die höchſten Regierungskreiſe ſehr aufgebracht hat, zu dementiren<lb/> ſcheint. — Der <hi rendition="#g">Courrier de Paris</hi> konnte ſich nicht retten, indem er auf An-<lb/> dringen des Miniſteriums des Innern einen dieſem mißliebigen Mann über<lb/> Bord warf, oder ihn aus der Politik zum Feuilleton degradirte. Sein Artikel<lb/> über Arbeitercoalitionen, welche unlängſt im belgiſchen Parlament meiſterhaft<lb/> discutirt worden ſind, wurde hervorgeſucht um ihm eine Verwarnung zu er-<lb/> theilen. Er hatte freilich geſagt: das franzöſiſche Geſetz hierüber, welches be-<lb/> kanntlich äußerſt hart gegen die Arbeiter iſt und die Fabricanten in gleichen<lb/> Fällen durchſchlüpfen läßt, ſtehe nicht im Einklang mit der Civiliſation. In<lb/> der heutigen Sitzung des geſetzgebenden Körpers, wo die Regierung ihren<lb/> Geſetzentwurf bezüglich der fatalen Eiſenbahn Graiſſeſac-Beziers zurückzog,<lb/> benützte Hr. Picard, republicaniſcher Abgeordneter für Paris, die Anmeldung<lb/> des Geſetzes über die Aufhebung des Verbots der Ausfuhr von Baumrinde<lb/> um die Regierung über jene Verwarnung zu interpelliren. Im Augenblick,<lb/> ſagte er, wo man ſich mit Freihandelsgrundſätzen brüſtet, müſſe man auch den<lb/> Arbeitern die freie Discuſſion in Sachen der Löhne zugeſtehen. Es ſey über-<lb/> aus peinlich zu ſehen daß ein Journal und ein Journaliſt, welche es in der<lb/> Sorgfalt um die Intereſſen der arbeitenden Claſſen der Regierung wenigſtens<lb/> gleich thun wollen, wegen eines freiſinnigen Artikels über Arbeitercoalitionen<lb/> verwarnt werden, und noch dazu von einem Miniſter welcher das Recht auf<lb/> Arbeit verfochten hat. Die Heiterkeit womit die Kammer dieſe Anſpielung<lb/> aufnahm, bewog den Präſidenten den Redner zur Ordnung zu rufen, weil<lb/> die Regierung abweſend ſey. Es fehlte nämlich Hr. Baroche. Hr. Picard<lb/> entgegnete: in dieſem Saal ſey die Regierung auch ohne Commiſſäre jederzeit<lb/> und im Ueberfluß anweſend. Die Deputirten drängten ſich um den unheru-<lb/> fenen Redner um ihm ihre Zuſtimmung auszuſprechen. Die Händel und<lb/> Schwierigkeiten des Courrier de Paris mit der Behörde verhindern ihn nicht<lb/> ein inſpirirtes Blatt zu ſeyn, und an der betreffenden Stelle ſogar Hrn. Gu<hi rendition="#aq">é</hi>-<lb/> roult und die <hi rendition="#g">Opinion nationale</hi> aus der Gunſt zu verdrängen. Hr.<lb/> Gu<hi rendition="#aq">é</hi>roult hat ſich bereits heiſer geſchrieen, er iſt abgenützt, und wird nächſtens<lb/> weggeworfen werden. Er arbeitet und ſchlägt darauf los wie ein Marktträ-<lb/> ger, ein <hi rendition="#aq">fort des Halles.</hi> Man findet ihn compromittirend, weil er die Re-<lb/> volution nach außen und den Servilismus im Innern mit gleicher Tactloſig-<lb/> keit übertreibt. Der Hof und die Regierung können als ihren Freund nicht<lb/> einen ungezogenen Menſchen anerkennen welcher öffentlich der Freiheit Fuß-<lb/> tritte verſetzt um ſeiner Livr<hi rendition="#aq">é</hi>e, wie er irrthümlich meint, Ehre zu machen.<lb/> Die Rolle kann und muß beſſer geſpielt werden. Der Regierung wird ohne<lb/> Zweifel beſſer gedient wenn ihre Journaliſten die Sprache gebrauchen um zu<lb/> verbergen was ſie denken, z. B. ſich für die Freiheit zanken, Belgien und den<lb/> Rhein verſchmähen. Dieſe Manier wird für den Augenblick hohen Orts<lb/> vorgezogen, und auch der Prinz Napoleon ſoll die neue Politik mit Wärme<lb/> billigen. Man verſichert ſogar er habe dem Courrier de Paris vor kurzem<lb/> den beſchwichtigenden Artikel über Belgien und den Rhein inſpirirt. Ver-<lb/> ſpürt man es ſchon daß die About, Gu<hi rendition="#aq">é</hi>roult und alle die alten und jungen<lb/> Marktſchreier viel mehr geſchadet als genützt haben?</p> </div> </div><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Italien.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>× <hi rendition="#b">Turin,</hi> 10 Jun.</dateline> <p>Vorgeſtern ſtarb die Gräfin Stakelberg, die<lb/> Gemahlin des ruſſiſchen Geſandten an unſerm Hof. — Der Dampfer „Utile,“<lb/> der, wie ich Ihnen berichtet, in der Nacht vom 25 auf den 26 Mai Genna<lb/> mit Waffen und Munition beladen verließ, kehrte nach Genua am 6 Jun.<lb/> zurück. Er iſt von den Revolutionären für 70,000 Fr. angekanſt, um Ga-<lb/> ribaldi ſtets mit Material unterſtützen zu können; dießmal hatte er 2000<lb/> Gewehre und 10,000 Patronen. Die Mannſchaft wurde von Lavarella,<lb/> einem Livorneſer, commandirt. Es waren 15 Mann. Außerdem hatten ſie<lb/> 60 Freiwillige, unter denen ſich der Oberſt Fardella, ein Sicilianer, befand.<lb/> Schon Commandant eines engliſchen Regiments des <hi rendition="#aq">Turkish contingent</hi> in<lb/> der Krim, Bruder des bekannten Marcheſe Torrearta, der Hauptmann Vaſ-<lb/> ſalli, zwei ungariſche Officiere, vier oder ſünf hohe Militärs, der <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Cric-<lb/> chio, einige Genueſer und Sicilianer und zwei Tiroler. Am 29 Morgens<lb/> mußte er bei Cagliari Anker werfen, und zwar in Mitte der ſardiniſchen<lb/> Flotte. Gegen 10 Uhr kam die fanitariſche Geſchäftsbarca, und der Arzt<lb/> ſchrie: „Palermo iſt von Garibaldi erobert!“ Und die Regierung begünſtigt<lb/> die Revolution nicht! ſie weiß nichts davon! Am 31 begegegnete er einem<lb/> engliſchen Schooner; man frug nach Neuigkeiten; die Engländer wußten<lb/> nichts als daß ſie einen neapolitaniſchen Kreuzer geſehen. Und die Eng-<lb/> länder wiſſen nichts von Unterſtützung der Revolution. Alles dieſes berichte<lb/> ich Ihnen aus authentiſcher Quelle. Derſelbe „Utile“ iſt in Genna wieder<lb/><cb/> angekommen, um ſchwerbeladen in kürzeſter Zeit abfahren zu können. Daß<lb/> die Dotation der ſardiniſchen Krone auf 10 Millionen Lire gegen vier ne-<lb/> gative Stimmen votirt wurde, iſt Ihnen ſchon bekannt, vielleicht aber nicht<lb/> daß mehrere lombardiſche und centralitalieniſche Deputirte vor der Abſtim-<lb/> mung die Verſammlung verließen, um nicht abſtimmen und nicht paſſiv da-<lb/> ſtehen zu müſſen. Die Verfolgungen des Klerus dauern fort. Kein Tag<lb/> ohne Verhaftungen von Geiſtlichen. Farini treibt es bis zum äußerſten, und<lb/> es iſt ſehr zu befürchten daß der Erfolg umſchlage. Der Cardinal Corſi<lb/> iſt noch immer ein Gefangener, und unſer ſchon ſeit zehn Jahren verbannter<lb/> Erzbiſchof überſchickt ihm folgenden Brief, den ich erhalten konnte: <cit><quote>„Eminenz!<lb/> Durchdrungen vom tiefſten Schmerz über die Gewalt die in dieſem Augen-<lb/> blicken Ihrer verehrten Perſon angethan wird, ſegne ich die göttliche Vor-<lb/> ſehung dafür daß Ew. Eminenz meine Diöceſe heiligt durch das ſo glanzvolle<lb/> Beiſpiel apoſtoliſcher Feſtigkeit, das Sie in Mitte derſelben bekunden, das<lb/> für Gott ein Opfer und für die Menſchen ein Gegenſtand der Bewunderung<lb/> iſt. Ich werfe mich im Geiſte nieder um Ihre Fußſtapfen zu küſſen, und ob-<lb/> wohl ich begreife daß Sie in Turin ſind um Verfolgung zu leiden, ſo bitte ich<lb/> Sie doch, und erkläre dieß, ſich mit aller meiner erzbiſchöflichen Macht be-<lb/> kleidet zu betrachten. Mit dieſem entſpreche ich wenigſtens vielleicht irgend-<lb/> einem frommen Vater, der es wagen wird Sie zu bitten den heil. Geiſt auf<lb/> das Haupt ſeiner Söhne während dieſer Tage herunter zu rufen, jenen Hei-<lb/> ligmacher der einzig mit der Fülle ſeiner Gaben uns unverletzbar machen<lb/> kann gegen die Nachſtellungen eines Jahrhunderts, das, die Heuchelei mit<lb/> der Treuloſigkeit verbindend, ſich anſchickt den wildeſten und verzweifeltſten<lb/> Kampf gegen die Kirche zu kämpfen. Könnte doch mein ehrerbietiges<lb/> Entgegenbieten dieſer meiner Gefühle Ihre Seelenſchmerzen lindern! Ge-<lb/> ſtatten Sie mir Ihnen meine tiefe Verehrung zu bekunden, indem ich Ihren<lb/> heiligen Purpur küſſe, und mich rühme zu ſeyn ꝛc.</quote><bibl>Lyon am Tage Gregors<lb/><hi rendition="#aq">VII</hi> 1860. † Luigi, Erzbiſchof von Turin.“</bibl></cit></p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>∆ <hi rendition="#b">Genua,</hi> 8 Jun.</dateline> <p>Ich war gut unterrichtet als ich Ihnen geſtern<lb/> mittheilte daß ſich hier und in Cagliari eine zweite Expedition nach Sicilien<lb/> vorbereite, um die Streitkräfte Garibaldi’s zu verſtärken. Geſtern Nachts<lb/> iſt nämlich der amerikaniſche Clipper „Swallow“ mit ungefähr 350 Frei-<lb/> ſchärlern, Waffen und Munition in aller Stille nach Sicilien ausgelaufen.<lb/> Die Behörden wußten freilich davon, aber ſie gaben den Leitern des Unter-<lb/> nehmens zu verſtehen daß die Organe der Regierung nur dann einſchreiten<lb/> würden wenn man die Sache mit Lärmen und Aufſehen betriebe. Dieſer<lb/> freundſchaftliche Wink war genügend um die Einſchiffung ohne Eclat und<lb/> geräuſchlos auszuführen. Gegen Mitternacht verſammelten ſich die Frei-<lb/> ſchärler in zwei Oſterien nahe der Via Carlo Alberto unfern des Hafens.<lb/> Ein Adjutant Medici’s, der mittlerweile nach Cagliari abgegangen war,<lb/> zahlte den Leuten einen zehntägigen Sold im Betrage von 6 Lire, und ver-<lb/> theilte unter ſie Lebensmittel und Wein. Dann wurden ſie in Abtheilungen<lb/> von 10 bis 20 Mann eingeſchifft, und zwar in bürgerlicher Kleidung, ohne<lb/> Waffen. Gegen 2 Uhr Morgens ſtach die „Swallow“ in See, ohne von den<lb/> Behörden im mindeſten beläſtigt zu werden. In ihren Schiffspapieren hieß<lb/> es daß ſie „Auswanderer“ nach den franzöſiſchen Colonien in Afrika führe.<lb/> Der Clipper führte zwei Achtzehnpfünder, vier Zwölfpfünder und drei ſechs-<lb/> pfündige Geſchütze, ſo wie eine Menge Handwaffen nebſt Munition an Bord,<lb/> und war daher für „unvorhergeſehene Fälle“ vorbereitet. Der Capitän, von<lb/> Cuba gebürtig, ſoll ein perſönlicher Freund Garibaldi’s ſeyn. Hier wußte<lb/> und weiß niemand von dieſem Nachſchub, außer die „Eingeweihten,“ worunter<lb/> es freilich auch Leute gibt die ihre oſtenſiblen Plaudereien nicht zurückhalten<lb/> können. Der Clipper „Swallow“ ſoll auf der Höhe von Capo Carbonara —<lb/> ein bezeichnender Name — an der Südſpitze der Inſel Sardiniens, mit zwei<lb/> andern Expeditionsſchiffen unter dem perſönlichen Befehl Medici’s zuſammen-<lb/> treffen. — Von älteren Berichten aus Sicilien liegt uns heute das Bulletin<lb/> Garibaldi’s über die Treffen bei Calatafimi, Alc<hi rendition="#aq">á</hi>mo und Partenico vor.<lb/> „Nachdem wir den Feind,“ heißt es darin, „bei Calatafimi geſchlagen hatten,<lb/> der ſich übrigens tapfer wehrte, ſetzten wir am 16 Mai unſern Marſch nach<lb/> Alcamo fort, das wir am 17 Morgens nach einem hartnäckigen Kampf gleich-<lb/> falls einnahmen, und rückten bis Partenico vor. Am 18 erſchienen aber von<lb/> Palermo ſehr bedeutende feindliche Streitkräfte, und ich beſchloß einen Schein-<lb/> rückzug nach Corleone zu unternehmen, um den Feind über meine wahre Ab-<lb/> ſicht zu täuſchen. Es war ein Nachtmarſch, der mit bewunderungswürdiger<lb/> Ordnung ausgeführt wurde. Ueberall kamen uns die Einwohner mit Er-<lb/> friſchungen und mit dem beſten Willen entgegen. Von Corleone warfen wir<lb/> uns rechts in die Gebirge, wo es nur für Maulthiere gangbare Wege gibt,<lb/> die überdieß durch den Regen grundlos geworden waren. Die Geſchütze<lb/> mußten zerlegt und theils auf Maulthieren, theils auf den Schultern meiner<lb/> Soldaten fortgeſchafft werden. Die Nachhut grub hinter ſich die Wege ab,<lb/> oder legte Verhaue an. So waren wir vor jeder Verfolgung ſicher, denn es<lb/> führt kein anderer Weg durch die Berge. Ueberdieß glandten die Neapolita-<lb/> ner daß wir gegen Vita oder in das Salemithal zurückgewichen ſeyen, woher<lb/> wir kamen. Die Neapolitaner ſandten in letzterer Richtung ein Corps von<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2751/0007]
Paris, 11 Jun. Donnerſtags erſtes Auſchlußfeſt: Heerſchau,
kaiſerliche Feſtrede, Feuerwerk, glänzende Illumination. Freitags begeben
ſich der Kaiſer und die Kaiſerin über Plombières nach Baden zu der Zuſam-
menkunft mit dem Prinz-Regenten. Die ruſſiſche Diplomatie rühmt ſich dieſe
Annäherung, welche unter den hier reſidirenden Engländern und Belgiern ein
ſchwer zu beſchreibendes Aufſehen erregt, zu Stande gebracht zu haben. Ueber
die Beſetzung eines Punktes von Palermo durch die Engländer iſt man noch
nicht vollkommen aufgeklärt, obgleich eine ſpätere Depeſche die erſte Nachricht,
welche die höchſten Regierungskreiſe ſehr aufgebracht hat, zu dementiren
ſcheint. — Der Courrier de Paris konnte ſich nicht retten, indem er auf An-
dringen des Miniſteriums des Innern einen dieſem mißliebigen Mann über
Bord warf, oder ihn aus der Politik zum Feuilleton degradirte. Sein Artikel
über Arbeitercoalitionen, welche unlängſt im belgiſchen Parlament meiſterhaft
discutirt worden ſind, wurde hervorgeſucht um ihm eine Verwarnung zu er-
theilen. Er hatte freilich geſagt: das franzöſiſche Geſetz hierüber, welches be-
kanntlich äußerſt hart gegen die Arbeiter iſt und die Fabricanten in gleichen
Fällen durchſchlüpfen läßt, ſtehe nicht im Einklang mit der Civiliſation. In
der heutigen Sitzung des geſetzgebenden Körpers, wo die Regierung ihren
Geſetzentwurf bezüglich der fatalen Eiſenbahn Graiſſeſac-Beziers zurückzog,
benützte Hr. Picard, republicaniſcher Abgeordneter für Paris, die Anmeldung
des Geſetzes über die Aufhebung des Verbots der Ausfuhr von Baumrinde
um die Regierung über jene Verwarnung zu interpelliren. Im Augenblick,
ſagte er, wo man ſich mit Freihandelsgrundſätzen brüſtet, müſſe man auch den
Arbeitern die freie Discuſſion in Sachen der Löhne zugeſtehen. Es ſey über-
aus peinlich zu ſehen daß ein Journal und ein Journaliſt, welche es in der
Sorgfalt um die Intereſſen der arbeitenden Claſſen der Regierung wenigſtens
gleich thun wollen, wegen eines freiſinnigen Artikels über Arbeitercoalitionen
verwarnt werden, und noch dazu von einem Miniſter welcher das Recht auf
Arbeit verfochten hat. Die Heiterkeit womit die Kammer dieſe Anſpielung
aufnahm, bewog den Präſidenten den Redner zur Ordnung zu rufen, weil
die Regierung abweſend ſey. Es fehlte nämlich Hr. Baroche. Hr. Picard
entgegnete: in dieſem Saal ſey die Regierung auch ohne Commiſſäre jederzeit
und im Ueberfluß anweſend. Die Deputirten drängten ſich um den unheru-
fenen Redner um ihm ihre Zuſtimmung auszuſprechen. Die Händel und
Schwierigkeiten des Courrier de Paris mit der Behörde verhindern ihn nicht
ein inſpirirtes Blatt zu ſeyn, und an der betreffenden Stelle ſogar Hrn. Gué-
roult und die Opinion nationale aus der Gunſt zu verdrängen. Hr.
Guéroult hat ſich bereits heiſer geſchrieen, er iſt abgenützt, und wird nächſtens
weggeworfen werden. Er arbeitet und ſchlägt darauf los wie ein Marktträ-
ger, ein fort des Halles. Man findet ihn compromittirend, weil er die Re-
volution nach außen und den Servilismus im Innern mit gleicher Tactloſig-
keit übertreibt. Der Hof und die Regierung können als ihren Freund nicht
einen ungezogenen Menſchen anerkennen welcher öffentlich der Freiheit Fuß-
tritte verſetzt um ſeiner Livrée, wie er irrthümlich meint, Ehre zu machen.
Die Rolle kann und muß beſſer geſpielt werden. Der Regierung wird ohne
Zweifel beſſer gedient wenn ihre Journaliſten die Sprache gebrauchen um zu
verbergen was ſie denken, z. B. ſich für die Freiheit zanken, Belgien und den
Rhein verſchmähen. Dieſe Manier wird für den Augenblick hohen Orts
vorgezogen, und auch der Prinz Napoleon ſoll die neue Politik mit Wärme
billigen. Man verſichert ſogar er habe dem Courrier de Paris vor kurzem
den beſchwichtigenden Artikel über Belgien und den Rhein inſpirirt. Ver-
ſpürt man es ſchon daß die About, Guéroult und alle die alten und jungen
Marktſchreier viel mehr geſchadet als genützt haben?
Italien.
× Turin, 10 Jun. Vorgeſtern ſtarb die Gräfin Stakelberg, die
Gemahlin des ruſſiſchen Geſandten an unſerm Hof. — Der Dampfer „Utile,“
der, wie ich Ihnen berichtet, in der Nacht vom 25 auf den 26 Mai Genna
mit Waffen und Munition beladen verließ, kehrte nach Genua am 6 Jun.
zurück. Er iſt von den Revolutionären für 70,000 Fr. angekanſt, um Ga-
ribaldi ſtets mit Material unterſtützen zu können; dießmal hatte er 2000
Gewehre und 10,000 Patronen. Die Mannſchaft wurde von Lavarella,
einem Livorneſer, commandirt. Es waren 15 Mann. Außerdem hatten ſie
60 Freiwillige, unter denen ſich der Oberſt Fardella, ein Sicilianer, befand.
Schon Commandant eines engliſchen Regiments des Turkish contingent in
der Krim, Bruder des bekannten Marcheſe Torrearta, der Hauptmann Vaſ-
ſalli, zwei ungariſche Officiere, vier oder ſünf hohe Militärs, der Dr. Cric-
chio, einige Genueſer und Sicilianer und zwei Tiroler. Am 29 Morgens
mußte er bei Cagliari Anker werfen, und zwar in Mitte der ſardiniſchen
Flotte. Gegen 10 Uhr kam die fanitariſche Geſchäftsbarca, und der Arzt
ſchrie: „Palermo iſt von Garibaldi erobert!“ Und die Regierung begünſtigt
die Revolution nicht! ſie weiß nichts davon! Am 31 begegegnete er einem
engliſchen Schooner; man frug nach Neuigkeiten; die Engländer wußten
nichts als daß ſie einen neapolitaniſchen Kreuzer geſehen. Und die Eng-
länder wiſſen nichts von Unterſtützung der Revolution. Alles dieſes berichte
ich Ihnen aus authentiſcher Quelle. Derſelbe „Utile“ iſt in Genna wieder
angekommen, um ſchwerbeladen in kürzeſter Zeit abfahren zu können. Daß
die Dotation der ſardiniſchen Krone auf 10 Millionen Lire gegen vier ne-
gative Stimmen votirt wurde, iſt Ihnen ſchon bekannt, vielleicht aber nicht
daß mehrere lombardiſche und centralitalieniſche Deputirte vor der Abſtim-
mung die Verſammlung verließen, um nicht abſtimmen und nicht paſſiv da-
ſtehen zu müſſen. Die Verfolgungen des Klerus dauern fort. Kein Tag
ohne Verhaftungen von Geiſtlichen. Farini treibt es bis zum äußerſten, und
es iſt ſehr zu befürchten daß der Erfolg umſchlage. Der Cardinal Corſi
iſt noch immer ein Gefangener, und unſer ſchon ſeit zehn Jahren verbannter
Erzbiſchof überſchickt ihm folgenden Brief, den ich erhalten konnte: „Eminenz!
Durchdrungen vom tiefſten Schmerz über die Gewalt die in dieſem Augen-
blicken Ihrer verehrten Perſon angethan wird, ſegne ich die göttliche Vor-
ſehung dafür daß Ew. Eminenz meine Diöceſe heiligt durch das ſo glanzvolle
Beiſpiel apoſtoliſcher Feſtigkeit, das Sie in Mitte derſelben bekunden, das
für Gott ein Opfer und für die Menſchen ein Gegenſtand der Bewunderung
iſt. Ich werfe mich im Geiſte nieder um Ihre Fußſtapfen zu küſſen, und ob-
wohl ich begreife daß Sie in Turin ſind um Verfolgung zu leiden, ſo bitte ich
Sie doch, und erkläre dieß, ſich mit aller meiner erzbiſchöflichen Macht be-
kleidet zu betrachten. Mit dieſem entſpreche ich wenigſtens vielleicht irgend-
einem frommen Vater, der es wagen wird Sie zu bitten den heil. Geiſt auf
das Haupt ſeiner Söhne während dieſer Tage herunter zu rufen, jenen Hei-
ligmacher der einzig mit der Fülle ſeiner Gaben uns unverletzbar machen
kann gegen die Nachſtellungen eines Jahrhunderts, das, die Heuchelei mit
der Treuloſigkeit verbindend, ſich anſchickt den wildeſten und verzweifeltſten
Kampf gegen die Kirche zu kämpfen. Könnte doch mein ehrerbietiges
Entgegenbieten dieſer meiner Gefühle Ihre Seelenſchmerzen lindern! Ge-
ſtatten Sie mir Ihnen meine tiefe Verehrung zu bekunden, indem ich Ihren
heiligen Purpur küſſe, und mich rühme zu ſeyn ꝛc. Lyon am Tage Gregors
VII 1860. † Luigi, Erzbiſchof von Turin.“
∆ Genua, 8 Jun. Ich war gut unterrichtet als ich Ihnen geſtern
mittheilte daß ſich hier und in Cagliari eine zweite Expedition nach Sicilien
vorbereite, um die Streitkräfte Garibaldi’s zu verſtärken. Geſtern Nachts
iſt nämlich der amerikaniſche Clipper „Swallow“ mit ungefähr 350 Frei-
ſchärlern, Waffen und Munition in aller Stille nach Sicilien ausgelaufen.
Die Behörden wußten freilich davon, aber ſie gaben den Leitern des Unter-
nehmens zu verſtehen daß die Organe der Regierung nur dann einſchreiten
würden wenn man die Sache mit Lärmen und Aufſehen betriebe. Dieſer
freundſchaftliche Wink war genügend um die Einſchiffung ohne Eclat und
geräuſchlos auszuführen. Gegen Mitternacht verſammelten ſich die Frei-
ſchärler in zwei Oſterien nahe der Via Carlo Alberto unfern des Hafens.
Ein Adjutant Medici’s, der mittlerweile nach Cagliari abgegangen war,
zahlte den Leuten einen zehntägigen Sold im Betrage von 6 Lire, und ver-
theilte unter ſie Lebensmittel und Wein. Dann wurden ſie in Abtheilungen
von 10 bis 20 Mann eingeſchifft, und zwar in bürgerlicher Kleidung, ohne
Waffen. Gegen 2 Uhr Morgens ſtach die „Swallow“ in See, ohne von den
Behörden im mindeſten beläſtigt zu werden. In ihren Schiffspapieren hieß
es daß ſie „Auswanderer“ nach den franzöſiſchen Colonien in Afrika führe.
Der Clipper führte zwei Achtzehnpfünder, vier Zwölfpfünder und drei ſechs-
pfündige Geſchütze, ſo wie eine Menge Handwaffen nebſt Munition an Bord,
und war daher für „unvorhergeſehene Fälle“ vorbereitet. Der Capitän, von
Cuba gebürtig, ſoll ein perſönlicher Freund Garibaldi’s ſeyn. Hier wußte
und weiß niemand von dieſem Nachſchub, außer die „Eingeweihten,“ worunter
es freilich auch Leute gibt die ihre oſtenſiblen Plaudereien nicht zurückhalten
können. Der Clipper „Swallow“ ſoll auf der Höhe von Capo Carbonara —
ein bezeichnender Name — an der Südſpitze der Inſel Sardiniens, mit zwei
andern Expeditionsſchiffen unter dem perſönlichen Befehl Medici’s zuſammen-
treffen. — Von älteren Berichten aus Sicilien liegt uns heute das Bulletin
Garibaldi’s über die Treffen bei Calatafimi, Alcámo und Partenico vor.
„Nachdem wir den Feind,“ heißt es darin, „bei Calatafimi geſchlagen hatten,
der ſich übrigens tapfer wehrte, ſetzten wir am 16 Mai unſern Marſch nach
Alcamo fort, das wir am 17 Morgens nach einem hartnäckigen Kampf gleich-
falls einnahmen, und rückten bis Partenico vor. Am 18 erſchienen aber von
Palermo ſehr bedeutende feindliche Streitkräfte, und ich beſchloß einen Schein-
rückzug nach Corleone zu unternehmen, um den Feind über meine wahre Ab-
ſicht zu täuſchen. Es war ein Nachtmarſch, der mit bewunderungswürdiger
Ordnung ausgeführt wurde. Ueberall kamen uns die Einwohner mit Er-
friſchungen und mit dem beſten Willen entgegen. Von Corleone warfen wir
uns rechts in die Gebirge, wo es nur für Maulthiere gangbare Wege gibt,
die überdieß durch den Regen grundlos geworden waren. Die Geſchütze
mußten zerlegt und theils auf Maulthieren, theils auf den Schultern meiner
Soldaten fortgeſchafft werden. Die Nachhut grub hinter ſich die Wege ab,
oder legte Verhaue an. So waren wir vor jeder Verfolgung ſicher, denn es
führt kein anderer Weg durch die Berge. Ueberdieß glandten die Neapolita-
ner daß wir gegen Vita oder in das Salemithal zurückgewichen ſeyen, woher
wir kamen. Die Neapolitaner ſandten in letzterer Richtung ein Corps von
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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