Allgemeine Zeitung, Nr. 20, 23. Mai 1920.Allgemeine Zeitung 23. Mai 1920 drückte reußische Volksrat in Gera hatten ja selbst das In einer Hinsicht allerdings mußte die Geraer Regie- Aufbau. (Schluß.) Den wichtigsten Volksteil für den Aufbau bilden die tische Generalstreik mit seinen Begleiterscheinungen ist Ver- Aber nicht alle Arbeiter sind bereit, solcher Führung zu Allgemeine Zeitung 23. Mai 1920 drückte reußiſche Volksrat in Gera hatten ja ſelbſt das In einer Hinſicht allerdings mußte die Geraer Regie- Aufbau. (Schluß.) Den wichtigſten Volksteil für den Aufbau bilden die tiſche Generalſtreik mit ſeinen Begleiterſcheinungen iſt Ver- Aber nicht alle Arbeiter ſind bereit, ſolcher Führung zu <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <pb facs="#f0004" n="190"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 23. Mai 1920</fw><lb/> <p>drückte reußiſche Volksrat in Gera hatten ja ſelbſt das<lb/> größte Intereſſe daran, ſich bald wieder, wie nur recht und<lb/> billig, als alleinige Herren der Situation zu ſehen. Eine<lb/> Störung dieſer im Fluß begriffenen Entwicklung wurde<lb/> mit Recht unterlaſſen, auch gelegentliche radikale Kund-<lb/> gebungen und unfreundliche Parlamentsreden der reußiſchen<lb/> Staatsräte mit ſtarken Spitzen gegen Reich, Reichsregie-<lb/> rung und Mehrheitsſozialdemokratie wurden vernünftiger-<lb/> weiſe nicht tragiſch genommen, ſondern als Konzeſſion an<lb/> die lokale Volksſtimmung mit Stillſchweigen übergangen.<lb/> Die erhoffte Wirkung trat ein, ſehr bald ſchon konnte die<lb/> Wiederherſtellung einer der Verfaſſung des Freiſtaates ent-<lb/> ſprechenden Lage, wie ſie vor dem Unternehmen der Kapp-<lb/> leute beſtanden hatte, nach Berlin berichtet werden.</p><lb/> <p>In einer Hinſicht allerdings mußte die Geraer Regie-<lb/> rung bei ihrem Beſtreben, unkontrollierbare und wechſelnde<lb/> radikale Nebeneinflüſſe auszuſchalten, der aufgepeitſchten<lb/> Volksſtimmung Rechnung tragen, indem ſie die Aufnahme<lb/> dreier Mitglieder des Aktionsausſchuſſes in ihr Staatsrats-<lb/> kollegium beſchloß. Damit wurde einmal der Aktionsaus-<lb/> ſchuß ſeines verfaſſungswidrigen Charakters entkleidet,<lb/> vor allem aber erreicht, daß die leitenden Männer dieſes<lb/> etwas wilden Gremiums ſich in das amtliche Räderwerk<lb/> eingeſchaltet ſahen und aus verantwortungsloſen, unkon-<lb/> trolliert herumkommandierenden revolutionären Tempel-<lb/> wächtern, die alle wirkliche Arbeit am Volke und für das<lb/> Volk nur hinderten, Mitarbeiter und Mitverantwortliche<lb/> wurden. Da die gleiche Maßnahme auch in Weimar und<lb/> anderen thüringiſchen Einzelſtaaten getroffen werden mußte,<lb/> iſt wohl eine gewiſſe Redikaliſierung der thüringiſchen<lb/> Regierungen eingetreten, aber noch nicht eine Bolſchewiſie-<lb/> rung und Sowjetiſierung, wie Aengſtliche in Erfahrung ge-<lb/> bracht haben wollten. Eine ſolche wird auch vorausſichtlich<lb/> nicht kommen. Es darf hier noch einmal geſagt werden,<lb/> daß in Thüringen wieder Ruhe und Ordnung herrſchen,<lb/> ſeit die Beruhigungsunternehmungen der umherziehenden<lb/> Truppenkörper aufgehört haben und damit der Gereiztheit<lb/> der Arbeiter die Nahrung entzogen worden iſt. Es iſt drin-<lb/> gend zu wünſchen, daß dieſer Zuſtand keine neue Erſchütte-<lb/> rung erfährt und das ſchöne, große Werk des neuen Bun-<lb/> desſtaates oder, wie es ja jetzt nach der Reichsverfaſſung<lb/> heißt, des neuen „Landes“ Geſamtthüringen in Ruhe und<lb/> Frieden vollendet werden kann als ein Bauſtein für eine<lb/> hoffentlich nicht zu ferne beſſere Zukunft.</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Aufbau.</hi> </head><lb/> <byline>Von Staatsminiſter <hi rendition="#g">Graepel</hi> in Oldenburg.</byline><lb/> <argument> <p>(Schluß.)</p> </argument><lb/> <p>Den wichtigſten Volksteil für den Aufbau bilden die<lb/> Arbeiter. Hier liegt das ſchwerſte Problem. Sie wirken auf<lb/> die Teuerung ein nicht nur durch das an ſich berechtigte<lb/> Streben nach Lohnverbeſſerung, ſondern auch durch ihre ver-<lb/> hängnisvolle Politik. Sie ſtecken noch immer in den An-<lb/> ſchauungen, die erträglich waren, als unſere Wirtſchaft noch<lb/> ſtark war, und unerträglich ſind, nachdem ſie ſo namenlos<lb/> ſchwach geworden iſt. Es muß leider feſtgeſtellt werden, daß<lb/> der deutſche Arbeiter ſeine große Stunde noch nicht verſteht.<lb/> Noch niemals waren ihm die Umſtände zur Erlangung und<lb/> Befeſtigung einer würdigen Stellung im Volks- und Wirt-<lb/> ſchaftsleben ſo günſtig wie jetzt. Früher konnten die Sozial-<lb/> demokraten ſich als nicht vollberechtigt hinſtellen, denn ſie<lb/> hatten zwar dasſelbe Stimmrecht wie die übrigen Klaſſen,<lb/> aber ſie waren von der Regierung und Verwaltung aus-<lb/> geſchloſſen. Jetzt ſind ſie in der Regierung führend ver-<lb/> treten und jede Stelle ſteht ihnen offen. Ihre herrſchende<lb/> Stellung ermöglicht es ihnen, ihre wirtſchaftlichen Anſchau-<lb/> ungen zur Ausführung zu bringen und ihre ſonſtigen Ideale<lb/> zu verwirklichen, ſoweit es eben möglich iſt. Sie wollen<lb/> aber mehr; was ſie früher als eine bittere und kränkende<lb/> Ungerechtigkeit nicht ſcharf genug verurteilen konnten, die<lb/> Klaſſenvorrechte, das fordern ſie jetzt mit umgekehrten Rol-<lb/> len und ſuchen es mit Gewalt durchzuſetzen. Denn der poli-</p><lb/> <cb/> <p>tiſche Generalſtreik mit ſeinen Begleiterſcheinungen iſt Ver-<lb/> gewaltigung der Allgemeinheit. Es kommen aber noch<lb/> Folgeerſcheinungen hinzu, die Saat des Fanatismus geht<lb/> anders auf, als man wollte. Noch radikalere Führer reißen<lb/> die Maſſen zu immer weitergehenden Forderungen und<lb/> immer ſchlimmeren Kampfmitteln fort. Der Bürgerkrieg iſt<lb/> uns nicht mehr nur das drohende Geſpenſt, ſondern er iſt<lb/> uns ſchon ſchreckliche Wirklichkeit geworden. Recht und Bil-<lb/> ligkeit ſind eben unbedingte Forderungen für ein geſundes<lb/> Zuſammenleben. Daß die radikalen Sozialdemokraten zu<lb/> kurzſichtig ſind, um dies zu erkennen, oder zu ungerecht,<lb/> um es zu betätigen, das wird die Arbeiter um die Früchte<lb/> der Revolution bringen. Unterdrückung und Schreckensherr<lb/> ſchaft können nur kurze Zeit dauern. Nachdem ſie ihre ver-<lb/> heerende Wirkung getan haben, kommt mit mathematiſcher<lb/> Sicherheit die Reaktion und macht Kehraus. Ob ſie ſo er-<lb/> leuchtet ſein wird, die geſunden ſozialen Fortſchritte auf-<lb/> rechtzuerhalten, ſteht dahin.</p><lb/> <p>Aber nicht alle Arbeiter ſind bereit, ſolcher Führung zu<lb/> folgen, nicht alle organiſierten und nicht die große Maſſe<lb/> derjenigen, die ſich vom politiſchen und wirtſchaftlichen<lb/> Kampf zurückhält. Dieſe gilt es für den Aufbau zu ge-<lb/> winnen. Es iſt gewiß ſchwer, aber doch nicht unmöglich, es<lb/> darf nicht unmöglich ſein, wenn unſerem Vaterland das<lb/> Letzte und Schwerſte erſpart bleiben ſoll. Wofür ſie gewon-<lb/> nen werden ſollen, das iſt doch ihr eigenſtes Intereſſe. Sie<lb/> müſſen nur darüber aufgeklärt werden. Sie müſſen vor<lb/> allem einſehen, daß der Klaſſenkampf überholt iſt. Es heißt<lb/> jetzt nicht mehr: „Hie Arbeiter, hie Bürger!“, ſondern: „Hie<lb/> Umſtürzler, hie Aufbauer!“ Wer die Fackel des Bürger-<lb/> krieges ins Volk wirft, wer andere unterdrücken will, wer<lb/> verhindert, daß wir ruhig unſerer Arbeit nachgehen können,<lb/> wer es uns unmöglich macht, uns wieder ſatt zu eſſen, das<lb/> iſt der Feind, mag er von links oder rechts kommen, gegen<lb/> ihn müſſen ſich alle zuſammenſchließen, die heraus wollen<lb/> aus dem Elend, das uns umgibt, und dem noch größeren<lb/> Elend, das uns bedroht, mögen ſie Arbeiter oder Bürger<lb/> ſein. Dieſen Gegenſatz gibt es in Wirklichkeit gar nicht.<lb/> Der Arbeiter iſt Bürger, und zwar — jetzt wenigſtens —<lb/> ein vollberechtigter Bürger. Er gehört auch gar nicht mehr<lb/> zu den wirtſchaftlich ſchwächſten Bürgern. In dieſen Kreis<lb/> ſinkt er erſt wieder hinab, wenn unſere Produktion ſo<lb/> ruiniert wird, daß ſie keine anſtändigen Löhne mehr zahlen<lb/> kann. Sie kann ſich aber nur erholen, wenn Ordnung und<lb/> Arbeitſamkeit im Lande herrſchen. Die Arbeiter ſchneiden<lb/> ſich alſo ins eigene Fleiſch, wenn ſie politiſchen Machtgelüſten<lb/> nachjagen und leichtfertig die Erzeugung und Verteilung<lb/> der Güter durch Maſſenſtreiks ſtillſtellen. Sie ſägen den Aſt<lb/> ab, auf dem ſie ſitzen. Für den Augenblick mag man durch<lb/> Ausſtände mehr an ſich reißen können, aber ſchließlich<lb/> kommt es doch darauf an, daß möglichſt viel zur Verteilung<lb/> da iſt. Hiernach iſt alſo in erſter Linie zu ſtreben. Sollte<lb/> wieder eine Zeit kemmen, wo man den Arbeitern nicht<lb/> geben will, was das Arbeitserzeugnis hergeben kann, ſo iſt<lb/> als äußerſtes Mittel auch die gemeinſchaftliche Arbeitsver-<lb/> weigerung berechtigt, alſo ein wirtſchaftlicher Streik. Dieſes<lb/> Recht kann und ſoll den Arbeitern nicht verkümmert wer-<lb/> den, doch ſollte es nur unter Leitung einſichtiger Organi-<lb/> ſationen ausgeübt werden. In unſerer jetzigen Lage ſollte<lb/> die Einſicht dahin führen, daß unſere Wirtſchaft keine Er-<lb/> ſchütterungen ertragen kann und daß allſeitige Bereitwillig-<lb/> keit beſteht, den Arbeitern gerecht zu werden. Als politiſches<lb/> Kampfmittel iſt der Streik ein Unrecht an der Allgemein-<lb/> heit. In der Politik gibt es nur gleiches Recht für alle,<lb/> das durch den Stimmzettel ausgeübt wird. Dieſer Grundſatz<lb/> ſchlägt zugunſten der Arbeiter aus, da ſie die Maſſen ſtellen.<lb/> Politik und Wirtſchaft berühren ſich allerdings inſofern, als<lb/> die Wirtſchaftsformen durch die Rechtsſätze über das Privat-<lb/> eigentum beſtimmt werden. Wenn die Tütererzeugung da-<lb/> durch gehoben wird, daß das Privateigentum an den Produk-<lb/> tionsmitteln auf die Geſamtheit übertragen wird und ſomit<lb/> an die Stelle der kapitaliſtiſchen die ſoziale Wirtſchaftsform<lb/> tritt, ſo mag es geſchehen. Die Arbeiter müſſen aber er-<lb/> kennen, daß ſie hieran kein unmittelbares, ſondern nur ein<lb/> mittelbares und bedingtes Intereſſe haben. Es iſt hand-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0004]
Allgemeine Zeitung 23. Mai 1920
drückte reußiſche Volksrat in Gera hatten ja ſelbſt das
größte Intereſſe daran, ſich bald wieder, wie nur recht und
billig, als alleinige Herren der Situation zu ſehen. Eine
Störung dieſer im Fluß begriffenen Entwicklung wurde
mit Recht unterlaſſen, auch gelegentliche radikale Kund-
gebungen und unfreundliche Parlamentsreden der reußiſchen
Staatsräte mit ſtarken Spitzen gegen Reich, Reichsregie-
rung und Mehrheitsſozialdemokratie wurden vernünftiger-
weiſe nicht tragiſch genommen, ſondern als Konzeſſion an
die lokale Volksſtimmung mit Stillſchweigen übergangen.
Die erhoffte Wirkung trat ein, ſehr bald ſchon konnte die
Wiederherſtellung einer der Verfaſſung des Freiſtaates ent-
ſprechenden Lage, wie ſie vor dem Unternehmen der Kapp-
leute beſtanden hatte, nach Berlin berichtet werden.
In einer Hinſicht allerdings mußte die Geraer Regie-
rung bei ihrem Beſtreben, unkontrollierbare und wechſelnde
radikale Nebeneinflüſſe auszuſchalten, der aufgepeitſchten
Volksſtimmung Rechnung tragen, indem ſie die Aufnahme
dreier Mitglieder des Aktionsausſchuſſes in ihr Staatsrats-
kollegium beſchloß. Damit wurde einmal der Aktionsaus-
ſchuß ſeines verfaſſungswidrigen Charakters entkleidet,
vor allem aber erreicht, daß die leitenden Männer dieſes
etwas wilden Gremiums ſich in das amtliche Räderwerk
eingeſchaltet ſahen und aus verantwortungsloſen, unkon-
trolliert herumkommandierenden revolutionären Tempel-
wächtern, die alle wirkliche Arbeit am Volke und für das
Volk nur hinderten, Mitarbeiter und Mitverantwortliche
wurden. Da die gleiche Maßnahme auch in Weimar und
anderen thüringiſchen Einzelſtaaten getroffen werden mußte,
iſt wohl eine gewiſſe Redikaliſierung der thüringiſchen
Regierungen eingetreten, aber noch nicht eine Bolſchewiſie-
rung und Sowjetiſierung, wie Aengſtliche in Erfahrung ge-
bracht haben wollten. Eine ſolche wird auch vorausſichtlich
nicht kommen. Es darf hier noch einmal geſagt werden,
daß in Thüringen wieder Ruhe und Ordnung herrſchen,
ſeit die Beruhigungsunternehmungen der umherziehenden
Truppenkörper aufgehört haben und damit der Gereiztheit
der Arbeiter die Nahrung entzogen worden iſt. Es iſt drin-
gend zu wünſchen, daß dieſer Zuſtand keine neue Erſchütte-
rung erfährt und das ſchöne, große Werk des neuen Bun-
desſtaates oder, wie es ja jetzt nach der Reichsverfaſſung
heißt, des neuen „Landes“ Geſamtthüringen in Ruhe und
Frieden vollendet werden kann als ein Bauſtein für eine
hoffentlich nicht zu ferne beſſere Zukunft.
Aufbau.
Von Staatsminiſter Graepel in Oldenburg.
(Schluß.)
Den wichtigſten Volksteil für den Aufbau bilden die
Arbeiter. Hier liegt das ſchwerſte Problem. Sie wirken auf
die Teuerung ein nicht nur durch das an ſich berechtigte
Streben nach Lohnverbeſſerung, ſondern auch durch ihre ver-
hängnisvolle Politik. Sie ſtecken noch immer in den An-
ſchauungen, die erträglich waren, als unſere Wirtſchaft noch
ſtark war, und unerträglich ſind, nachdem ſie ſo namenlos
ſchwach geworden iſt. Es muß leider feſtgeſtellt werden, daß
der deutſche Arbeiter ſeine große Stunde noch nicht verſteht.
Noch niemals waren ihm die Umſtände zur Erlangung und
Befeſtigung einer würdigen Stellung im Volks- und Wirt-
ſchaftsleben ſo günſtig wie jetzt. Früher konnten die Sozial-
demokraten ſich als nicht vollberechtigt hinſtellen, denn ſie
hatten zwar dasſelbe Stimmrecht wie die übrigen Klaſſen,
aber ſie waren von der Regierung und Verwaltung aus-
geſchloſſen. Jetzt ſind ſie in der Regierung führend ver-
treten und jede Stelle ſteht ihnen offen. Ihre herrſchende
Stellung ermöglicht es ihnen, ihre wirtſchaftlichen Anſchau-
ungen zur Ausführung zu bringen und ihre ſonſtigen Ideale
zu verwirklichen, ſoweit es eben möglich iſt. Sie wollen
aber mehr; was ſie früher als eine bittere und kränkende
Ungerechtigkeit nicht ſcharf genug verurteilen konnten, die
Klaſſenvorrechte, das fordern ſie jetzt mit umgekehrten Rol-
len und ſuchen es mit Gewalt durchzuſetzen. Denn der poli-
tiſche Generalſtreik mit ſeinen Begleiterſcheinungen iſt Ver-
gewaltigung der Allgemeinheit. Es kommen aber noch
Folgeerſcheinungen hinzu, die Saat des Fanatismus geht
anders auf, als man wollte. Noch radikalere Führer reißen
die Maſſen zu immer weitergehenden Forderungen und
immer ſchlimmeren Kampfmitteln fort. Der Bürgerkrieg iſt
uns nicht mehr nur das drohende Geſpenſt, ſondern er iſt
uns ſchon ſchreckliche Wirklichkeit geworden. Recht und Bil-
ligkeit ſind eben unbedingte Forderungen für ein geſundes
Zuſammenleben. Daß die radikalen Sozialdemokraten zu
kurzſichtig ſind, um dies zu erkennen, oder zu ungerecht,
um es zu betätigen, das wird die Arbeiter um die Früchte
der Revolution bringen. Unterdrückung und Schreckensherr
ſchaft können nur kurze Zeit dauern. Nachdem ſie ihre ver-
heerende Wirkung getan haben, kommt mit mathematiſcher
Sicherheit die Reaktion und macht Kehraus. Ob ſie ſo er-
leuchtet ſein wird, die geſunden ſozialen Fortſchritte auf-
rechtzuerhalten, ſteht dahin.
Aber nicht alle Arbeiter ſind bereit, ſolcher Führung zu
folgen, nicht alle organiſierten und nicht die große Maſſe
derjenigen, die ſich vom politiſchen und wirtſchaftlichen
Kampf zurückhält. Dieſe gilt es für den Aufbau zu ge-
winnen. Es iſt gewiß ſchwer, aber doch nicht unmöglich, es
darf nicht unmöglich ſein, wenn unſerem Vaterland das
Letzte und Schwerſte erſpart bleiben ſoll. Wofür ſie gewon-
nen werden ſollen, das iſt doch ihr eigenſtes Intereſſe. Sie
müſſen nur darüber aufgeklärt werden. Sie müſſen vor
allem einſehen, daß der Klaſſenkampf überholt iſt. Es heißt
jetzt nicht mehr: „Hie Arbeiter, hie Bürger!“, ſondern: „Hie
Umſtürzler, hie Aufbauer!“ Wer die Fackel des Bürger-
krieges ins Volk wirft, wer andere unterdrücken will, wer
verhindert, daß wir ruhig unſerer Arbeit nachgehen können,
wer es uns unmöglich macht, uns wieder ſatt zu eſſen, das
iſt der Feind, mag er von links oder rechts kommen, gegen
ihn müſſen ſich alle zuſammenſchließen, die heraus wollen
aus dem Elend, das uns umgibt, und dem noch größeren
Elend, das uns bedroht, mögen ſie Arbeiter oder Bürger
ſein. Dieſen Gegenſatz gibt es in Wirklichkeit gar nicht.
Der Arbeiter iſt Bürger, und zwar — jetzt wenigſtens —
ein vollberechtigter Bürger. Er gehört auch gar nicht mehr
zu den wirtſchaftlich ſchwächſten Bürgern. In dieſen Kreis
ſinkt er erſt wieder hinab, wenn unſere Produktion ſo
ruiniert wird, daß ſie keine anſtändigen Löhne mehr zahlen
kann. Sie kann ſich aber nur erholen, wenn Ordnung und
Arbeitſamkeit im Lande herrſchen. Die Arbeiter ſchneiden
ſich alſo ins eigene Fleiſch, wenn ſie politiſchen Machtgelüſten
nachjagen und leichtfertig die Erzeugung und Verteilung
der Güter durch Maſſenſtreiks ſtillſtellen. Sie ſägen den Aſt
ab, auf dem ſie ſitzen. Für den Augenblick mag man durch
Ausſtände mehr an ſich reißen können, aber ſchließlich
kommt es doch darauf an, daß möglichſt viel zur Verteilung
da iſt. Hiernach iſt alſo in erſter Linie zu ſtreben. Sollte
wieder eine Zeit kemmen, wo man den Arbeitern nicht
geben will, was das Arbeitserzeugnis hergeben kann, ſo iſt
als äußerſtes Mittel auch die gemeinſchaftliche Arbeitsver-
weigerung berechtigt, alſo ein wirtſchaftlicher Streik. Dieſes
Recht kann und ſoll den Arbeitern nicht verkümmert wer-
den, doch ſollte es nur unter Leitung einſichtiger Organi-
ſationen ausgeübt werden. In unſerer jetzigen Lage ſollte
die Einſicht dahin führen, daß unſere Wirtſchaft keine Er-
ſchütterungen ertragen kann und daß allſeitige Bereitwillig-
keit beſteht, den Arbeitern gerecht zu werden. Als politiſches
Kampfmittel iſt der Streik ein Unrecht an der Allgemein-
heit. In der Politik gibt es nur gleiches Recht für alle,
das durch den Stimmzettel ausgeübt wird. Dieſer Grundſatz
ſchlägt zugunſten der Arbeiter aus, da ſie die Maſſen ſtellen.
Politik und Wirtſchaft berühren ſich allerdings inſofern, als
die Wirtſchaftsformen durch die Rechtsſätze über das Privat-
eigentum beſtimmt werden. Wenn die Tütererzeugung da-
durch gehoben wird, daß das Privateigentum an den Produk-
tionsmitteln auf die Geſamtheit übertragen wird und ſomit
an die Stelle der kapitaliſtiſchen die ſoziale Wirtſchaftsform
tritt, ſo mag es geſchehen. Die Arbeiter müſſen aber er-
kennen, daß ſie hieran kein unmittelbares, ſondern nur ein
mittelbares und bedingtes Intereſſe haben. Es iſt hand-
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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