Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 31. Januar 1850.[Spaltenumbruch]
der Gegenstand nicht vorhanden ist. Die Fabel des Robespierre besteht in Die eigentlich handelnden Personen sind Vadier, Therese Cabarrus, Dem Volk ist auffallenderweise gar keine Rolle im Robespierre an- Entschiedene Armuth der Handlung ist demnach ein Vorwurf welchen Und gleichwohl ist der Robespierre ein großes Werk, und von gewal- Die größte Stärke Griepenkerls besteht indessen in der Situations- Noch mächtiger ist der Eindruck der Schlußscene des dritten Actes. Der große und wirkungsreiche dramatische Apparat mit welchem der Gleichwohl ist dieser vierte Act keineswegs überflüssig, er bildet viel- Tallien spricht von dem Dolch der Charlotte Corday, Vadier aber Inzwischen hat man Danton und seine Freunde fallen lassen, und Ich bin in der Schilderung meiner Eindrücke vielleicht zu ausführlich [Spaltenumbruch]
der Gegenſtand nicht vorhanden iſt. Die Fabel des Robespierre beſteht in Die eigentlich handelnden Perſonen ſind Vadier, Thereſe Cabarrus, Dem Volk iſt auffallenderweiſe gar keine Rolle im Robespierre an- Entſchiedene Armuth der Handlung iſt demnach ein Vorwurf welchen Und gleichwohl iſt der Robespierre ein großes Werk, und von gewal- Die größte Stärke Griepenkerls beſteht indeſſen in der Situations- Noch mächtiger iſt der Eindruck der Schlußſcene des dritten Actes. Der große und wirkungsreiche dramatiſche Apparat mit welchem der Gleichwohl iſt dieſer vierte Act keineswegs überflüſſig, er bildet viel- Tallien ſpricht von dem Dolch der Charlotte Corday, Vadier aber Inzwiſchen hat man Danton und ſeine Freunde fallen laſſen, und Ich bin in der Schilderung meiner Eindrücke vielleicht zu ausführlich <TEI> <text> <body> <div> <p> <floatingText> <body> <div type="jCulturalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <p><pb facs="#f0011" n="491"/><cb/> der Gegenſtand nicht vorhanden iſt. Die Fabel des Robespierre beſteht in<lb/> einer Reihe von epiſodiſchen Ewigniſſen, welche lediglich durch den un-<lb/> ſichtbaren Faden der politiſchen Geſchichte Frankreichs locker zuſammen-<lb/> gehalten werden. Die Kenntniß der franzöſiſchen Revolutionsgeſchichte<lb/> wird bei dem Robespierre vorausgeſetzt; ohne dieſe Kenntniß iſt das Grie-<lb/> penkerlſche Trauerſpiel unverſtändlich, zerfällt dasſelbe in eine Anzahl<lb/> aufeinander folgender Erſcheinungen, von denen keine durch die andere ge-<lb/> nügend motivirt wird. Gerade die beiden Hauptperſonen des Stücks,<lb/> Danron und Robespierre ſelbſt, verhalten ſich faſt durchaus leidend, zu-<lb/> mal der erſtere, obgleich er es an großen Redensarten und pomphaft an-<lb/> gekündigten Vorſätzen nicht fehlen läßt. Das iſt hiſtoriſch, zugegeben;<lb/> aber es iſt nicht dramatiſch. Kaum anders iſt es mit Robespierre. Seine<lb/> Rolle iſt im Grunde genommen nur eine pſychologiſche, ein Seelenkampf.<lb/> Wo er eingreift in die Ereigniſſe, da iſt es St. Juſt welcher ihm die Hand<lb/> führt. Selbſtthätig tritt Robespierre nur ein einzigesmal auf, bei dem<lb/> Feſte des höchſten Weſens, und bei dieſer froſtigen Ceremonie erſcheint er<lb/> äußerſt unbedeutend.</p><lb/> <p>Die eigentlich handelnden Perſonen ſind Vadier, Thereſe Cabarrus,<lb/> und etwa Fouquier Tinville, welcher mit ſeinen Gendarmen die Bühne faſt<lb/> gar nicht verläßt. Der alte Vadier iſt es welcher die Kataſtrophe vorbe-<lb/> reitet, verzögert, und im rechten Augenblick herbeiführt, er bildet das<lb/> Schwungrad der dramatiſchen Maſchine, und obgleich von dem Dichter in<lb/> den Hintergrund geſtellt, unzweifelhaft die weitaus am beſten gezeichnete<lb/> Figur des Stücks.</p><lb/> <p>Dem Volk iſt auffallenderweiſe gar keine Rolle im Robespierre an-<lb/> gewieſen. Hr. Griepenkerl gebraucht dasſelbe höchſtens als eine ärmliche<lb/> Staffage. In der ganzen Erſcheinung des Bolks auf der Bühne keine<lb/> Spur von Selbſtthätigkeit, von Willen, von Leidenſchaft, und am aller-<lb/> wenigſten von Einfluß auf den Gang der dramatiſchen Handlung. Wir<lb/> hören allerdings viel reden vom Volk, aber wir nehmen nirgends die Fä-<lb/> den wahr welche von dem Markte in das Cabinet, in den Salon oder in<lb/> den Senat herüberreichen.</p><lb/> <p>Entſchiedene Armuth der Handlung iſt demnach ein Vorwurf welchen<lb/> wir dem Robespierre ſchon auf der Schwelle machen müſſen. Damit iſt<lb/> aber keineswegs geſagt daß im Robespierre nicht genug geſchehe. Im<lb/> Gegentheil, er wimmelt von Ereigniſſen. Verhaftungen, Befreiungen,<lb/> Kerkerſcenen, Tafelſcenen, Verſchwörungen, Piſtolenſchüſſe, Marktauf-<lb/> tritte u. ſ. w. jagen einander in dem ganzen Stücke dergeſtalt, daß die<lb/> Bühne keinen Augenblick leer davon wird. Es fehlt nichts als der breite<lb/> Hauptſtrom der Handlung in welchen alle jene kleinen Bäche münden,<lb/> jener Hauptſtrom wird wenigſtens nicht über die Bühne geleitet, er fließt<lb/> vielmehr ſo weit hinter den Couliſſen weg daß das Ohr kaum ein entfern-<lb/> tes Rauſchen vernimmt.</p><lb/> <p>Und gleichwohl iſt der Robespierre ein großes Werk, und von gewal-<lb/> tiger Wirkung. Wenn es dem Dichter nicht gelungen iſt die volle Har-<lb/> monie eines in ſich abgeſchloſſenen Kunſtwerks zu erreichen, ſo treten uns<lb/> dafür unzählige Einzelheiten ſeines Drama’s in wunderbarer Vollendung<lb/> entgegen. Ich habe ſchon oben die mit Meiſterhand geſchaffene Figur Va-<lb/> diers genannt. Nächſt Vadier der gelungenſte Charakter des Stücks iſt<lb/> Mamin, der Vertreter eines gewiſſen ſchmarotzenden Straßenproletariats,<lb/> feige, niederträchtig, beuteluſtig, frech, aber mit Schlauheit, Menſchen-<lb/> kenntniß und Bettlerhumor reichlich ausgeſtattet. Thereſe Cabarrus, die<lb/> begeiſterte Republicanerin, und Lucile, das vom ſüßeſten Liebeszauber um-<lb/> fangene Weib des ſchönen ſchwärmeriſchen Camille Desmoulins, ſind<lb/> gleichfalls herrliche Bilder aus einer reichen dichteriſchen Welt. Robes-<lb/> pierre ſelbſt, der als ein kalter Fanatiker der Idee in der Geſchichte da-<lb/> ſteht, iſt in dem Griepenkerlſchen Trauerſpiel vielleicht zu ſehr Gefühls-<lb/> menſch, als daß wir einen richtig aufgefaßten Charakter in ihm erkennen<lb/> könnten. Ueber eine ſo ſcharf umriſſene hiſtoriſche Perſönlichkeit aber wie<lb/> die Robespierre’s darf ſich die Feder des Dichters keine Gewalt anmaßen,<lb/> die geſchichtliche Treue iſt hier vielmehr gebieteriſche Pflicht, deren Ver-<lb/> letzung ſich an dem Werke des Uebertreters empfindlich rächen muß. Was<lb/> die Figur Dantons betrifft, ſo muß ich mich jedes Urtheils über dieſelbe<lb/> enthalten, da es faſt unmöglich war die über alle Begriffe erbärmliche<lb/> Darſtellung des Schauſpielers welchem dieſe Rolle in die Hände gefallen,<lb/> von der Schöpfung des Dichters ſo weit abzulöſen daß ein freier Blick auf<lb/> die letztere möglich geweſen wäre.</p><lb/> <p>Die größte Stärke Griepenkerls beſteht indeſſen in der Situations-<lb/> malerei. Jeder Act, mit Ausnahme des vierten, bringt uns irgendeinen<lb/> Auftritt von erſchütternder, von überwältigender Wirkung, erſchütternd,<lb/> überwältigend ſogar in der ziemlich mittelmäßigen Darſtellung auf unſe-<lb/> rer Bühne. Zweimal iſt Lucile die Trägerin ſolcher Scenen, das erſtemal<lb/> bei der Verhaftung ihres Camille, das zweitemal nach ſeiner Verurthei-<lb/> lung. Sie kann ihn nicht retten, ſie will wenigſtens mit ihm ſterben.<lb/> Selbſt der Gedanke an das ſchlafende Kind daheim, welches beim Erwachen<lb/><cb/> den Vater und die Mutter mit ſeinen großen Augen vergebens ſuchen<lb/> wird, macht ſie keinen Augenblick irre in ihrem Entſchluß. Wie aber den<lb/> Tod finden den ſie ſucht? Die Guillotine iſt nicht da für die Lebensmüden.<lb/> Plötzlich kommt es über die Verzweiſelnde wie eine Offenbarung. Sie<lb/> ſtürzt ſich unter das Volk mit dem Rufe: es lebe der König! und bricht<lb/> bewußtlos zu ſammen.</p><lb/> <p>Noch mächtiger iſt der Eindruck der Schlußſcene des dritten Actes.<lb/> Das Urtheil über Danton und ſeine Freunde iſt geſprochen, der verhäng-<lb/> nißvolle Karren wartet auf ſie. Mit dem Becher in der Hand nimmt Ca-<lb/> mille Desmoulins mit kurzen und von langen Pauſen unterbrochenen<lb/> Verſen Abſchied vom Leben. Die Verſe ſind einfach, ſie ſind unbedeutend<lb/> wenn man will, aber es klingt eine unausſprechliche Wehmuth aus ihnen<lb/> hervor, die Luſt der Welt, die Freude des Daſeyns legt damit einen letzten<lb/> ſchauerlichen Proteſt ein gegen den männlichen Todesmuth. „Auf Wie-<lb/> derſehen ihr Freunde, ſagt Danton nach der letzten Umarmung, auf Wie-<lb/> derſehen — wenn ſich unſere Köpfe im Korb küſſen.“</p><lb/> <p>Der große und wirkungsreiche dramatiſche Apparat mit welchem der<lb/> dritte Act ſchließt, läßt den folgenden Act, der faſt lediglich durch die Vor-<lb/> bereitung und Abhaltung der Feier zu Ehren des höchſten Weſens aus-<lb/> gefüllt wird, zwiefach kalt und leer erſcheinen. Der vierte Act, die gefähr-<lb/> liche Klippe der tragiſchen Poeſie, iſt im Robespierre durchaus verfehlt;<lb/> dir Handlung ſteht darin gänzlich ſtill, und wir müſſen uns ſtatt ihrer<lb/> einen mehr oder weniger prunkhaften Aufzug genügen laſſen, wie wir<lb/> deren in den Opern neuern Styls bis zum Ueberdruß zu ſehen bekommen.</p><lb/> <p>Gleichwohl iſt dieſer vierte Act keineswegs überflüſſig, er bildet viel-<lb/> mehr den eigentlichen Hebel der Kataſtrophe. Wie iſt Robespierre zu<lb/> ſtürzen? haben ſich Tallien, Barras, Freron mehr als einmal gefragt,<lb/> ohne die rechte Antwort zu finden. Es iſt noch nicht Zeit, hat ihnen Va-<lb/> dier beharrlich entgegnet; es iſt noch nicht Zeit Partei zu machen, und<lb/> alles was bis jetzt Partei macht iſt Guillotinenfutter.</p><lb/> <p>Tallien ſpricht von dem Dolch der Charlotte Corday, Vadier aber<lb/> ſchüttelt den Kopf und erklärt daß er eine beſſere Waffe kenne um Robes-<lb/> pierre zu tödten — nämlich die Lächerlichkeit. Man verſchwört ſich den<lb/> Mann des Schreckens lächerlich zu machen, lächerlich durch den Zweifel<lb/> ob er mehr ſey als ein Halbmann, und durch die Ausbeutung ſeines bis<lb/> in den Myſticismus hinüberſpielenden religiöſen Hanges. Das Feſt des<lb/> höchſten Weſens gibt dieſem Plan einen erwünſchten Vorwand. Die Ver-<lb/> ſchwornen erſcheinen bei der Feier um dieſelbe zu parodiren, um Pfeile des<lb/> Spotts in das Volk zu ſchleudern, welche natürlich auf Robespierre zu-<lb/> rückprallen müſſen. Auf dieſe Weiſe enthält der vierte Act die eigentliche,<lb/> aber freilich ziemlich ſchwach ausgefallene Motivirung der Kataſtrophe.</p><lb/> <p>Inzwiſchen hat man Danton und ſeine Freunde fallen laſſen, und<lb/> wer weiß wie lange man noch auf Zeit und Gelegenheit zum Angriff auf<lb/> den gemeinſchaftlichen Feind warten würde, wenn nicht Tallien zuletzt ſo-<lb/> gar das Haupt ſeiner Geliebten von dem Fallbeile bedroht ſähe, und wenn<lb/> nicht der alte Vadier während der feuchten Nächte den Schnupfen bekom-<lb/> men hätte, die er unter freiem Himmel zugebracht, weil er ſich zu Hauſe<lb/> nicht mehr ficher fühlt. Heute noch muß Robespierre fallen, ſonſt ſtirbt<lb/> morgen Thereſe Cabarrus — dieſer Gedanke gibt den Ausſchlag. Man<lb/> entſchließt ſich zum Sturmlauf gegen den Dictator, und Robespierre ſtürzt<lb/> weil die von Vadier angelegten Minen den Boden unter ſeinen Füßen<lb/> ausgehöhlt haben. Nicht an ſeinen blutigen Thaten, nicht an ſeiner Selbſt-<lb/> überſchätzung, nicht an ſeiner Herrſchſucht ſehen wir Robespierre unter-<lb/> gehen, ſondern an ſeinem Gottesglauben, und an ſeiner Ueberzeugung<lb/> daß der Staat, daß die Freiheit eine religiöſe Baſis haben müſſe. Wenn<lb/> ich dieſe Idee des Dichters hervorhebe, ſo geſchieht es nicht um den Maß-<lb/> ſtab der theologiſchen Polizei an dieſelbe zu legen, ſondern um anzuer-<lb/> kennen daß eine hochtragiſche Weihe auf ihr ruht. Hiſtoriſche Rückſichten<lb/> bei Seite laſſend finden wir in jener Auffaſſung des Endes Robespierre’s<lb/> die höchſte dichteriſche Verklärung, deren der Gegenſtand fähig war. Ro-<lb/> bespierre iſt nicht mehr ein gemeines Opfer der Rache, ſein Tod iſt nicht<lb/> mehr die bloße Sühne einer blutigen Schuld, er ſtirbt auch nicht mehr an<lb/> einem politiſchen Rechnungsfehler, ſondern das Märtyrerthum eines gro-<lb/> ßen ſchönen Glaubens ſpielt verſöhnend in ſeine letzte Stunde hinüber,<lb/> und adelt das Schaffot auf welchem er endet. „Nichts mehr von Partei“<lb/> — ſagt der alte Badier indem er ſich von dem Anblick des gefällten Fein-<lb/> des ſchaudernd abwendet.</p><lb/> <p>Ich bin in der Schilderung meiner Eindrücke vielleicht zu ausführlich<lb/> geweſen, allein es iſt ſchwer, es iſt unmöglich ein anſchauliches Bild des<lb/> Robespierre mit weniger Federſtrichen zu geben. Er hat unüber treffliche<lb/> Schönheiten neben großen Schwächen; er iſt ein Werk des Genie, welches<lb/> von der dramatiſchen Kunſt nicht ſelten im Stich gelaſſen worden iſt, Licht<lb/> und Schatten ſchillern darin ſo unſtät durcheinander, daß es oft der größ-<lb/> ten Aufmerkſamkeit bedarf um die Gebiete beider von einander zu unter-<lb/> ſcheiden.</p><lb/> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [491/0011]
der Gegenſtand nicht vorhanden iſt. Die Fabel des Robespierre beſteht in
einer Reihe von epiſodiſchen Ewigniſſen, welche lediglich durch den un-
ſichtbaren Faden der politiſchen Geſchichte Frankreichs locker zuſammen-
gehalten werden. Die Kenntniß der franzöſiſchen Revolutionsgeſchichte
wird bei dem Robespierre vorausgeſetzt; ohne dieſe Kenntniß iſt das Grie-
penkerlſche Trauerſpiel unverſtändlich, zerfällt dasſelbe in eine Anzahl
aufeinander folgender Erſcheinungen, von denen keine durch die andere ge-
nügend motivirt wird. Gerade die beiden Hauptperſonen des Stücks,
Danron und Robespierre ſelbſt, verhalten ſich faſt durchaus leidend, zu-
mal der erſtere, obgleich er es an großen Redensarten und pomphaft an-
gekündigten Vorſätzen nicht fehlen läßt. Das iſt hiſtoriſch, zugegeben;
aber es iſt nicht dramatiſch. Kaum anders iſt es mit Robespierre. Seine
Rolle iſt im Grunde genommen nur eine pſychologiſche, ein Seelenkampf.
Wo er eingreift in die Ereigniſſe, da iſt es St. Juſt welcher ihm die Hand
führt. Selbſtthätig tritt Robespierre nur ein einzigesmal auf, bei dem
Feſte des höchſten Weſens, und bei dieſer froſtigen Ceremonie erſcheint er
äußerſt unbedeutend.
Die eigentlich handelnden Perſonen ſind Vadier, Thereſe Cabarrus,
und etwa Fouquier Tinville, welcher mit ſeinen Gendarmen die Bühne faſt
gar nicht verläßt. Der alte Vadier iſt es welcher die Kataſtrophe vorbe-
reitet, verzögert, und im rechten Augenblick herbeiführt, er bildet das
Schwungrad der dramatiſchen Maſchine, und obgleich von dem Dichter in
den Hintergrund geſtellt, unzweifelhaft die weitaus am beſten gezeichnete
Figur des Stücks.
Dem Volk iſt auffallenderweiſe gar keine Rolle im Robespierre an-
gewieſen. Hr. Griepenkerl gebraucht dasſelbe höchſtens als eine ärmliche
Staffage. In der ganzen Erſcheinung des Bolks auf der Bühne keine
Spur von Selbſtthätigkeit, von Willen, von Leidenſchaft, und am aller-
wenigſten von Einfluß auf den Gang der dramatiſchen Handlung. Wir
hören allerdings viel reden vom Volk, aber wir nehmen nirgends die Fä-
den wahr welche von dem Markte in das Cabinet, in den Salon oder in
den Senat herüberreichen.
Entſchiedene Armuth der Handlung iſt demnach ein Vorwurf welchen
wir dem Robespierre ſchon auf der Schwelle machen müſſen. Damit iſt
aber keineswegs geſagt daß im Robespierre nicht genug geſchehe. Im
Gegentheil, er wimmelt von Ereigniſſen. Verhaftungen, Befreiungen,
Kerkerſcenen, Tafelſcenen, Verſchwörungen, Piſtolenſchüſſe, Marktauf-
tritte u. ſ. w. jagen einander in dem ganzen Stücke dergeſtalt, daß die
Bühne keinen Augenblick leer davon wird. Es fehlt nichts als der breite
Hauptſtrom der Handlung in welchen alle jene kleinen Bäche münden,
jener Hauptſtrom wird wenigſtens nicht über die Bühne geleitet, er fließt
vielmehr ſo weit hinter den Couliſſen weg daß das Ohr kaum ein entfern-
tes Rauſchen vernimmt.
Und gleichwohl iſt der Robespierre ein großes Werk, und von gewal-
tiger Wirkung. Wenn es dem Dichter nicht gelungen iſt die volle Har-
monie eines in ſich abgeſchloſſenen Kunſtwerks zu erreichen, ſo treten uns
dafür unzählige Einzelheiten ſeines Drama’s in wunderbarer Vollendung
entgegen. Ich habe ſchon oben die mit Meiſterhand geſchaffene Figur Va-
diers genannt. Nächſt Vadier der gelungenſte Charakter des Stücks iſt
Mamin, der Vertreter eines gewiſſen ſchmarotzenden Straßenproletariats,
feige, niederträchtig, beuteluſtig, frech, aber mit Schlauheit, Menſchen-
kenntniß und Bettlerhumor reichlich ausgeſtattet. Thereſe Cabarrus, die
begeiſterte Republicanerin, und Lucile, das vom ſüßeſten Liebeszauber um-
fangene Weib des ſchönen ſchwärmeriſchen Camille Desmoulins, ſind
gleichfalls herrliche Bilder aus einer reichen dichteriſchen Welt. Robes-
pierre ſelbſt, der als ein kalter Fanatiker der Idee in der Geſchichte da-
ſteht, iſt in dem Griepenkerlſchen Trauerſpiel vielleicht zu ſehr Gefühls-
menſch, als daß wir einen richtig aufgefaßten Charakter in ihm erkennen
könnten. Ueber eine ſo ſcharf umriſſene hiſtoriſche Perſönlichkeit aber wie
die Robespierre’s darf ſich die Feder des Dichters keine Gewalt anmaßen,
die geſchichtliche Treue iſt hier vielmehr gebieteriſche Pflicht, deren Ver-
letzung ſich an dem Werke des Uebertreters empfindlich rächen muß. Was
die Figur Dantons betrifft, ſo muß ich mich jedes Urtheils über dieſelbe
enthalten, da es faſt unmöglich war die über alle Begriffe erbärmliche
Darſtellung des Schauſpielers welchem dieſe Rolle in die Hände gefallen,
von der Schöpfung des Dichters ſo weit abzulöſen daß ein freier Blick auf
die letztere möglich geweſen wäre.
Die größte Stärke Griepenkerls beſteht indeſſen in der Situations-
malerei. Jeder Act, mit Ausnahme des vierten, bringt uns irgendeinen
Auftritt von erſchütternder, von überwältigender Wirkung, erſchütternd,
überwältigend ſogar in der ziemlich mittelmäßigen Darſtellung auf unſe-
rer Bühne. Zweimal iſt Lucile die Trägerin ſolcher Scenen, das erſtemal
bei der Verhaftung ihres Camille, das zweitemal nach ſeiner Verurthei-
lung. Sie kann ihn nicht retten, ſie will wenigſtens mit ihm ſterben.
Selbſt der Gedanke an das ſchlafende Kind daheim, welches beim Erwachen
den Vater und die Mutter mit ſeinen großen Augen vergebens ſuchen
wird, macht ſie keinen Augenblick irre in ihrem Entſchluß. Wie aber den
Tod finden den ſie ſucht? Die Guillotine iſt nicht da für die Lebensmüden.
Plötzlich kommt es über die Verzweiſelnde wie eine Offenbarung. Sie
ſtürzt ſich unter das Volk mit dem Rufe: es lebe der König! und bricht
bewußtlos zu ſammen.
Noch mächtiger iſt der Eindruck der Schlußſcene des dritten Actes.
Das Urtheil über Danton und ſeine Freunde iſt geſprochen, der verhäng-
nißvolle Karren wartet auf ſie. Mit dem Becher in der Hand nimmt Ca-
mille Desmoulins mit kurzen und von langen Pauſen unterbrochenen
Verſen Abſchied vom Leben. Die Verſe ſind einfach, ſie ſind unbedeutend
wenn man will, aber es klingt eine unausſprechliche Wehmuth aus ihnen
hervor, die Luſt der Welt, die Freude des Daſeyns legt damit einen letzten
ſchauerlichen Proteſt ein gegen den männlichen Todesmuth. „Auf Wie-
derſehen ihr Freunde, ſagt Danton nach der letzten Umarmung, auf Wie-
derſehen — wenn ſich unſere Köpfe im Korb küſſen.“
Der große und wirkungsreiche dramatiſche Apparat mit welchem der
dritte Act ſchließt, läßt den folgenden Act, der faſt lediglich durch die Vor-
bereitung und Abhaltung der Feier zu Ehren des höchſten Weſens aus-
gefüllt wird, zwiefach kalt und leer erſcheinen. Der vierte Act, die gefähr-
liche Klippe der tragiſchen Poeſie, iſt im Robespierre durchaus verfehlt;
dir Handlung ſteht darin gänzlich ſtill, und wir müſſen uns ſtatt ihrer
einen mehr oder weniger prunkhaften Aufzug genügen laſſen, wie wir
deren in den Opern neuern Styls bis zum Ueberdruß zu ſehen bekommen.
Gleichwohl iſt dieſer vierte Act keineswegs überflüſſig, er bildet viel-
mehr den eigentlichen Hebel der Kataſtrophe. Wie iſt Robespierre zu
ſtürzen? haben ſich Tallien, Barras, Freron mehr als einmal gefragt,
ohne die rechte Antwort zu finden. Es iſt noch nicht Zeit, hat ihnen Va-
dier beharrlich entgegnet; es iſt noch nicht Zeit Partei zu machen, und
alles was bis jetzt Partei macht iſt Guillotinenfutter.
Tallien ſpricht von dem Dolch der Charlotte Corday, Vadier aber
ſchüttelt den Kopf und erklärt daß er eine beſſere Waffe kenne um Robes-
pierre zu tödten — nämlich die Lächerlichkeit. Man verſchwört ſich den
Mann des Schreckens lächerlich zu machen, lächerlich durch den Zweifel
ob er mehr ſey als ein Halbmann, und durch die Ausbeutung ſeines bis
in den Myſticismus hinüberſpielenden religiöſen Hanges. Das Feſt des
höchſten Weſens gibt dieſem Plan einen erwünſchten Vorwand. Die Ver-
ſchwornen erſcheinen bei der Feier um dieſelbe zu parodiren, um Pfeile des
Spotts in das Volk zu ſchleudern, welche natürlich auf Robespierre zu-
rückprallen müſſen. Auf dieſe Weiſe enthält der vierte Act die eigentliche,
aber freilich ziemlich ſchwach ausgefallene Motivirung der Kataſtrophe.
Inzwiſchen hat man Danton und ſeine Freunde fallen laſſen, und
wer weiß wie lange man noch auf Zeit und Gelegenheit zum Angriff auf
den gemeinſchaftlichen Feind warten würde, wenn nicht Tallien zuletzt ſo-
gar das Haupt ſeiner Geliebten von dem Fallbeile bedroht ſähe, und wenn
nicht der alte Vadier während der feuchten Nächte den Schnupfen bekom-
men hätte, die er unter freiem Himmel zugebracht, weil er ſich zu Hauſe
nicht mehr ficher fühlt. Heute noch muß Robespierre fallen, ſonſt ſtirbt
morgen Thereſe Cabarrus — dieſer Gedanke gibt den Ausſchlag. Man
entſchließt ſich zum Sturmlauf gegen den Dictator, und Robespierre ſtürzt
weil die von Vadier angelegten Minen den Boden unter ſeinen Füßen
ausgehöhlt haben. Nicht an ſeinen blutigen Thaten, nicht an ſeiner Selbſt-
überſchätzung, nicht an ſeiner Herrſchſucht ſehen wir Robespierre unter-
gehen, ſondern an ſeinem Gottesglauben, und an ſeiner Ueberzeugung
daß der Staat, daß die Freiheit eine religiöſe Baſis haben müſſe. Wenn
ich dieſe Idee des Dichters hervorhebe, ſo geſchieht es nicht um den Maß-
ſtab der theologiſchen Polizei an dieſelbe zu legen, ſondern um anzuer-
kennen daß eine hochtragiſche Weihe auf ihr ruht. Hiſtoriſche Rückſichten
bei Seite laſſend finden wir in jener Auffaſſung des Endes Robespierre’s
die höchſte dichteriſche Verklärung, deren der Gegenſtand fähig war. Ro-
bespierre iſt nicht mehr ein gemeines Opfer der Rache, ſein Tod iſt nicht
mehr die bloße Sühne einer blutigen Schuld, er ſtirbt auch nicht mehr an
einem politiſchen Rechnungsfehler, ſondern das Märtyrerthum eines gro-
ßen ſchönen Glaubens ſpielt verſöhnend in ſeine letzte Stunde hinüber,
und adelt das Schaffot auf welchem er endet. „Nichts mehr von Partei“
— ſagt der alte Badier indem er ſich von dem Anblick des gefällten Fein-
des ſchaudernd abwendet.
Ich bin in der Schilderung meiner Eindrücke vielleicht zu ausführlich
geweſen, allein es iſt ſchwer, es iſt unmöglich ein anſchauliches Bild des
Robespierre mit weniger Federſtrichen zu geben. Er hat unüber treffliche
Schönheiten neben großen Schwächen; er iſt ein Werk des Genie, welches
von der dramatiſchen Kunſt nicht ſelten im Stich gelaſſen worden iſt, Licht
und Schatten ſchillern darin ſo unſtät durcheinander, daß es oft der größ-
ten Aufmerkſamkeit bedarf um die Gebiete beider von einander zu unter-
ſcheiden.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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