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Allgemeine Zeitung, Nr. 337, 5. Dezember 1890.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 337. -- 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Freitag, 4. December 1890.


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sprechendem Zuschlag.
Direkter Bezug
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Deutschland
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3 Pf., in fetter Schrift
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Redaktion u. Expedi-
tion befinden sich
Schwanthalerstr. 73
in München.


Berichte sind an die
Redaktion, Inserat-
austräge an die Ex-
pedition franko einzu-
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Abounements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klincksieck in Paris; für Italien H. Loeicher und Frat.
Bocca
in Turin, Florenz und Rom. U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiserlich königliche Post-
amt in Wien oder Triest; für Nordamerika F. W. Christern. E Steiger u. Co., Gust. E. Stechert,
Westermann u. Co., International Publishing Agenen. 710 Broadway, in New York.
Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.
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Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London. Zürich, Basel etc. b. d Annoncenbureaur G. L. Daube
u. Co., Haasenstein u. Vogler u. R. Mosse.
In den Filialen der Zeitungsbureaur Invalidendank zu Berlin,
Dresden, Leipzig, Chemnitz etc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenstr. 26) und S. Kornik (Krausenstr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publishing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachsolger in Stuttgart und München.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Uebersicht.
Die Aufhebung der baltischen Ritterschaften.
Vom Reichstag.
Deutsches Reich. * Berlin: Reichstag. Eröffnung der Schul-
resorm-Verbandlungen.
Das österreichische Budget für 1891.
Oesterreich-Ungarn. F. Wien: Groß-Wien im Landtag.
Nordamerika. * New-York: Die Indianer-Unruhen.
Feuilleton: Der Arzt der Literatur. Von Karl Pröll.
Weitere telegraphische Nachrichten.

[Abbildung] Hiezu: Zweites Morgenblatt.



München, 4. December.


Die Aufhebung der baltischen Ritterschaften.

Aus Kurland wird uns geschrieben:

Während man in Deutschland mit einem großen Aufbau
gesetzgeberischer Arbeit beschäftigt ist, läuten bei uns dem öffent-
lichen Leben die Todtenglocken. Je mehr die gewaltsame Russi-
fication des Landes vorschreitet, um so mehr engen die Felder
der Arbeit am allgemeinen Wesen sich ein und bald werden
wir ganz in den engen Kreis des Hauses hineingebannt sein.
Die von St. Petersburg über uns einbrechende Gesetzgebung
arbeitet systematisch darauf hin, alle Deutschen von der Theil-
nahme nicht nur an communaler und öffentlicher Thätigkeit
auszuschließen, sondern ihnen auch den Zugang zu allen staat-
lichen Aemtern zu verschließen. Seit die Justizreform einge-
führt wurde, sind unsre Juristen aus den Behörden und aus
der Advocatur verdrängt worden -- glücklich noch, wer in unter-
geordneter Stellung bei einer Bank, in einem Handlungshause
oder sonstwo ein Unterkommen findet, das ihn und die Seinigen
durchbringt; die Russisication der Gymnasien hat unsern deut-
schen Lehrerstand beseitigt und brodlos gemacht, soweit es ihm
nicht möglich wurde, durch Privatstunden einen dürftigen Ver-
dienst zu finden; die Communalämter in der Stadtverwaltung
sind zwar noch zum Theil in deutschen Händen, sind aber an
russische Verhandlungs- und Schristsprache gebunden; über unsern
Predigern schwebt das Damokles-Schwert des Strafgesetzbuches,
welches mit Amtsentsetzung, Verbannung und Gefängniß Jeden
bedroht, der in die von der griechischen Kirche beanspruchte
Sphäre hineingreift -- und was beansprucht sie nicht? -- so
daß buchstäblich nur diejenigen Berufsarten übrig geblieben
sind, die in keiner Beziehung zum Staate stehen: Kaufleute,
Ingenieure, Privatärzte. Dabei die nagende Sorge um die
Erziehung der Kinder, die in den von schlechteren Lehrern in
fremder Sprache geleiteten öffentlichen und privaten Schulen
das geistige Rüstzeug nicht erwerben können, dessen sie zum
Lebenskampfe bedürfen. Es ist die Summe all dieser Dinge so
unsagbar schwer zu tragen, daß es nicht wundernehmen kann,
wenn mehr als einer darüber nicht nur materiell, sondern auch
sittlich zu Grunde geht.

Als letzte geschlossene Organisation der deutschen Kräfte
des Landes waren die Ritterschaften der drei Provinzen übrig
geblieben, die, seit Jahrhunderten in der Selbstverwaltung
[Spaltenumbruch] geschult, gewissermaßen das Rückgrat des Landes bildeten. Da
gerade sie durch ihre ganze Tradition dahin gewiesen wurden.
das Deutschthum und den protestantischen Geist des Landes
aufrecht zu erhalten, waren sie trotz der großen Dienste, die sie
im Civil- und Militärdienst der russischen Regierung geleistet
haben, der heute herrschenden Richtung ein Dorn im Ange,
und schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ist die dringendste
Forderung der panslawistischen Führer in St. Petersburg und
Moskau die Aufhebung der ritterschaftlichen Organisation
gewesen.

Die Erfüllung dieses Lieblingswunsches steht nun unmittel-
bar bevor. Eine in St. Petersburg tagende Commission hat
ihre dahin zielenden Vorarbeiten beendigt, und die aus den-
selben hervorgegangene Vorlage ist zu einer letzten Meinungs-
äußerung den baltischen Ritterschaften vorgelegt worden.

Das Wesentliche der in Sicht stehenden "Reform" -- mit
diesem Ramen pflegt man in Rußland die Zerstörungsarbeit zu
beschönigen -- liegt in der Entziehung sämmtlicher Befugnisse,
auf dem Wege gewohnter Selbstverwaltung am gemeinen Besten
der Provinzen weiterzuarbeiten. Jeder Einfluß, der im Laufe
der Jahrhunderte auf Kirche und Schule, Volkserziehung und
Landeswohlfahrt, Landwirthschaft, Landpolizei, Hypothekenwesen
u. s. w. erworben war, wird beseitigt und die Thätigkeit der
an die Stelle tretenden Adelsgenossenschaft ausschließlich auf
ständische Angelegenheiten beschränkt. Zugleich wird der Adel
genöthigt, die bisher mit ihm tagenden bürgerlichen Großgrund-
besitzer aus seinen Versammlungen auszuschließen und dagegen
die russischen Edelleute aufzunehmen, die als Beamte und Russisi-
catoren in das Land gesetzt worden sind und, wie es in Ruß-
land üblich ist, bei Erwerbung eines bestimmten Dienstranges
auch den erblichen Adel erhalten. Diesen Leuten zuliebe wird
dann das Russische als Schriftsprache der Versammlung octroyirt
und zugleich durch die Bestimmung, daß nur solche, die in russi-
schen Schulen ein Examen gemacht haben, stimmberechtigt sein
sollen, die ganze große Gruppe derjenigen baltischen Edellente
ausgeschlossen, die ihre Bildung im elterlichen Hause oder auf
deutschen Universitäten genossen haben.

Alle die von den Ritterschaften ins Leben gerufenen Stif-
tungen, die von ihnen bewilligten Pensionen, die ihnen zuge-
wandten Vermächtnisse schweben nach der geplanten "Neform"
in der Luft, und da ausdrücklich die Selbstbesteuerung zu ge-
meinnützigen Zwecken verboten wird, ist keine Möglichkeit ge-
boten, der neuen Organisation die Verpflichtungen der alten
Corporationen zu übertragen.

Es ist geradezu unberechenbar, wie groß neben dem ideellen
Verluste der materielle Rückschlag dieses Vernichtungswerkes
sein wird.

Der Landtag, welcher im October dieses Jahres in Mitau
tagte und sich mit diesen Dingen abzufinden hatte, machte denn
auch den Eindruck eines Sterbenden, der sein Testament errichten
muß. Aber welche Sicherheit bietet sich, daß jene testamenta-
rischen Bestimmungen auch ausgeführt werden, und wie gering
sind die Garantien, daß die Zukunft nicht noch Schlimmeres
bringt, nachdem die Organisation durchbrochen ist, die allein
noch die Möglichkeit bot, ihre Stimme bis an den Thron des
Zaren gelangen zu lassen!

Was übrig bleibt, ist absolute Rechtlosigkeit, die Preis-
[Spaltenumbruch] gebung des Landes an die Willkür des russischen Beamtenthums,
welches beauftragt ist, die Vernichtung des deutschen Wesens
zu Ende zu führen -- der traurige Ausgang einer siebenhundert-
jährigen ruhmvollen Geschichte, die einst mit der des Deutschen
Reiches verbunden war.

Uebrigens ist die russische Regierung entschlossen, auch
dabei nicht stehen zu bleiben. Wie schon anderweit gemeldet,
sollen die Provinzen Liv-, Est- und Kurland als solche aufhören
zu bestehen. Man will halb Livland und ganz Kurland zu
einem Gouvernement Riga zusammenschlagen, das andere halbe
Livland und Estland zu einem Gouvernement Reval. Als
Scheidungsgrund wird die nationale Zugehörigkeit der bäuer-
lichen Bevölkerung zur lettischen oder zur estnischen Volksgruppe
angegeben. Ist auch das vollzogen, so hat Rußland mit dem
letzten Rest der deutschen Vergangenheit in den Provinzen auf-
geräumt. Auch der Name ist dann geschwunden. Und was
bleibt übrig? Nun, es sind immer noch 250,000 Deutsche, die
sich ihrer Haut wehren wollen, so gut oder so übel es geht, es
sind 21/4 Millionen protestantischer Bauern, die nicht Griechen
und nicht Russen werden wollen. Auch sie werden sich wehren
in passivem Widerstande, so lange es geht, und Rußland wird
auf diesem Boden dieselben Erfahrungen machen, wie mit seinen
Russificationsbestrebungen in Polen oder wo immer sonst es
mit abendländischer Civilisation in Berührung getreten ist: eine
russische Tünche an der Oberfläche und darunter ein anders-
geartetes Wesen, dem nichts verhaßter ist, als was sich hyper-
bolisch "russische Cultur" nennt.



Vom Reichstage.

Von allen parlamentarischen
Debatten sind die Wahlprüfungen -- die unerquicklichsten.
Für den unbefangenen Beobachter kann es immer nur etwas
Niederdrückendes haben, zu sehen, wie gerade diejenigen Ver-
handlungen, welche mit der Ruhe und Sachlichkeit, der Un-
parteilichkeit und Vornehmheit eines höchsten Gerichtshoses ge-
führt werden sollten, am meisten von der Erregung der Partei-
leidenschaften beherrscht werden. Diese letztere Wahrnehmung
hat man heute wieder einmal recht ausgiebig bei der Verhand-
lung über die Wahl im neunten hannoverschen Wahlkreise, wo
der nationalliberale Hr. v. Reden, als in der Stichwahl gegen
einen Socialdemokraten gewählt, proclamirt worden ist, machen
können. Gegen die Wahl ist ein Protest eingegangen, in
welchem der Schwerpunkt auf ein mit der Unterschrift eines
Oberbergraths v. Detten verbreitetes Flugblatt gelegt wird,
weil durch dasselbe eine Wahlbeeinflussung begangen sei. Ist
das Flugblatt wirklich von dem genannten Beamten aus-
gegangen, so muß es zweifellos als ungehörig bezeichnet
werden. Es werden also über diesen Punkt jedenfalls Er-
hebungen anzustellen sein.

Eine andere Frage aber ist, ob, auch wenn eine Wahl-
beeinflussung im vollsten Sinne des Wortes angenommen
werden müßte, die in Folge dessen für ungültig zu erklärenden
Stimmen ausreichen würden, um das Ergebniß der Wahl zu
ändern. Nach der klaren und bündigen Darstellung des von
dem Centrumsmitgliede Fritzen erstatteten Commissionsberichts
ist dies nicht der Fall. Die Wahlprüfungscommission ist in

[Spaltenumbruch]


Feuilleton.


Der Arzt der Literatur.

* "Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Haben Sie diese Racht
besser geschlafen? Ist Ihr Appetit gut und spüren Sie keine
Verdauungsstörungen? Lassen Sie mich einmal Ihre Zunge
sehen. Sie ist noch etwas belegt. Nun, ich werde Ihnen eine
Kleinigkeit verschreiben."

Dies wäre der Alltagstypus der Gespräche, welche der Arzt
mit seinen Leichtkranken führt. Die Fragen sollen zugleich als
Beruhigungsmittel dienen. Wenn der Mensch seinen Schmerz
in Worte faßt, wird diesem viel von seiner Bitterkeit genommen.
Zwischen Wahrheit und Täuschung wiegt der Leidensbeschauer
die ungeduldige Seele ein, damit nicht ihr Herumzerren den
Heilungsproceß hindere. Nehmt die Partei des Dulders und
ihr erleichtert ihm seine Last. Am Cadaver freilich enthüllt
der Zergliederer alle Gebresten, ohne Rücksichten zu nehmen.
Das Secirmesser ist aber nicht für Lebende.

Darf die zeitgenössische Kritik die Rolle des humanen
Arztes sich aneignen? Soll sie den Abschen vor Krankheits-
erscheinungen überwinden und ihr Mitgefühl unmerklich ein-
flößen, damit der eigene und der fremde Wille sich zum Werke
der Genesung vereinigen? Oder hat die Kritik die Pflicht zu
üben, mit scharfem Messer in das Fleisch zu schneiden, gleich-
gültig, ob der Nerv noch zuckt, das Blut warm herausströmt,
oder ob bereits die Todtenstarre eingetreten ist? Ich lasse den
Helden dieser Messer-Kritik gern den Vorrang und begnüge mich,
als milderer Hausdoctor zu walten.

Es gibt gute und schlechte Weinjahre in der Literatur.
Nicht nur die Menge, sondern auch der Gehalt der Trauben
entscheidet, ob die Lese mehr- oder minderwerthig werde. Son-
nenstrahlen und Rebelfeuchte sind hineingewoben in den feurigen
Trank, der uns mundet. Waren die ersten zu spärlich geschenkt,
so wird der Wein sauer. Hat der September- und October-
Nebel die Traube gemieden, dann bleibt der dustige Geschmack,
das Bouquet aus, welches den Wein erst adelt. Dieser bringt es
dann nur zu der Bedeutung eines erträglichen Haustrunkes.

Auch auf die guten Jahrgänge der Literatur haben klare,
feurige Anschauung und träumerische Märchenseligkeit gleich-
mäßig eingewirkt. Die Edelfrucht des Geistes bedarf des Hell-
[Spaltenumbruch] lichtes wie des Helldunkels. Naturalismus, Verismus mögen
sich bemühen, die Lebensprocesse sorgfältig zu beobachten und abzu-
schildern. Aber sie haben keinen Anspruch darauf zu erheben, daß
nur die von ihnen gewählte Beleuchtung die richtige sei. Geist
sowie Welt offenbaren sich in dem wechselnden Lichte, und selbst
der Schatten, welcher diesem beigesellt ist, zeigt verschiedene
Farbendämmerungen.

Ich habe nichts einzuwenden, wenn mir Einer sagt: der
Sonnenaufgang und -Untergang in einem Fabrikviertel wirke
auf ihn ergreifender, als der erste Gruß und das Scheiden des
königlichen Tagesgestirnes auf den einsamen Firnen des Mont-
blanc oder der Jungfrau. Wenn sein eigenes Herz von Mit-
leid erfaßt ist für die fröhnende, darbende Menschheit, so wird
sich dieses ätherreine Gefühl wie Goldglanz über die schmutzigen
Massenquartiere, die armen Familien, die hartsteinigen Spiel-
plätze der Kinder breiten. Wenn er sich aber begnügt, nur die
wüste Schankwirthschaft, die liederlichen Dirnen und Betrunkenen
in der Gosse abzuconterfeien, so werde ich ihm sagen: "Freund,
das ist doch nur ein Krähwinkel im Fegefeuer'. Deine Begeisterung
ist erkünstelt, und sie reicht nicht an die Straßenlaterne hinan,
welche diesem Treiben zublinzelt.

"Du verwirfst es, die menschlichen Tugenden und Leiden-
schaften im Spiegel des tragischen Titanismus zu vergrößern, weil
sich die einzelnen Linien und der wirkliche Ausdruck dabei ver-
schieben. Du zeigst mir vielmehr den Wassertropfen der Seele
im Sonnenmikroskop und weisest darauf hin, daß unzählige
kleine, häßliche, hungrige Leidenschaften sich darin bekämpfen
und verzehren. Aber das Auge, mit dem du gewöhnlich die
Dinge erblickst, weiß nichts von solchen Apparaten. Auch Kunst
und Literatur sollen nur mit dem naturlichen Auge schauen.

"Die Thatsachen der langsamen Entthronung des Lebens-
willens, der vielfältigen Entsagung, die Folgen des Trotzens
gegen die Daseinsmächte glaubst du auf dem Wege mühsamer
Detailbeobachtung erschlossen zu haben. Sie waren aber schon
niedergelegt im Buche Hiob, in den altindischen Literaturdenk-
mälern, freilich in symbolischer Form, welche jedoch eine Un-
summe realistischer Züge aufweist. Die Cadaver-Resignation
bleibt jedoch gleich dem Cadaver-Gehorsam der menschlichen
Sinnesweise auf die Dauer unerträglich.

"Und wenn du die naturwissenschaftlichen Aufschlüsse über
die Artenentwicklung, die Lehren von Vererbung und Anpassung
in einseitiger Weise zu einer Verschlechterung und Verschlimme-
[Spaltenumbruch] rung der Menschengattung auszüchtest, so bringst du wieder
den Erbfluch und die Erbsünde in die Welt, die finsteren
Dogmen, von denen wir uns befreit wähnten durch die rastlose
Arbeit des Geistes. Wenn du in den Gräueln dieser Sünden:
welt schwelgst, erreichst du nicht einmal die Phantasiekraft
jener alttestamentarischen Propheten, deren Zorneseifer wie eine
Feuersäule durch die Wüste leuchtete.

Dies alles ist nur der Ueberreiz eines nervenschwachen,
übersatten und willensmatten Geschlechtes oder die literar-
geschäftliche Speculation auf dieses Geschlecht. Damit kann
weder der Kunst geholfen, noch die sociale Gährung unsrer
Gegenwart einer Abklärung zugeführt werden."

Der Arzt der Literatur wird deßhalb zu ihr sagen: "Etwas
mehr Diät, meine Verehrte! Und etwas weniger Stolz auf
Ihre Krankheitszustände, die Sie für höchst interessant und
eigenthümlich halten, über welche Ihnen jedoch jeder Geistes-
pathologe sagen wird, daß sie in etwas veränderter Form schon
vielfach dagewesen, ja manchmal sich bis zum Massenwahnsinn
verdichtet haben. Wir brauchen keine Kinderkreuzzüge, keine
Flagellanten mehr, am wenigsten unter naturwissenschaftlichem
Banner. Schauet, genießet und gestaltet: das ist das einzige
Gebot für die Künstler und Schriftbildner aller Zeiten gewesen
und wird es auch bleiben. So, das ist meine Heilvorschrift.
Und das beste Mittel, Ihre Zunge zu reinigen, diese Nachspur
der Reclamelüsternheit zu beseitigen, besteht darin, daß Sie
über etwas Anderes zu sprechen versuchen, als über Ihr kleines
Ich. Träumen Sie auch zu Ihrer Erholung ein wenig -- aber.
recht behaglich!

"Wie ein leichtes Elfenband schlängelt sich der Rauch der
Habana-Cigarre empor, bläulich am Saume, mit grauen
Arabesken in der Mitte geziert. Diesen schmalen Saum be-
rührt jetzt ein silberner Mottenflügel. Frohherzige Vergäng-
lichkeit und schmerzlose Zerstörung kommen so zusammen und
grüßen sich stumm. Darunter gähnt der schwarze Abgrund
des Tintenfasses. Die milde Abendluft verbreitet das Gefühl
der Schmerzlosigkeit. Schon zittert der erste Stern am Himmel,
dessen astronomische Ortsangabe Sie nicht zu wissen brauchen.
Bedecken Sie nur langsam das Tintenfaß, in welches die Motte
hineingefallen, mit dem Deckel, so daß es einer kleinen Urne
gleicht. Geben Sie der Magd, welche Küchensalat schneidet,
einen Wink, das Stehpult und das Schreibzeug durch die
offene Thür in die Stube zu bringen. Setzen Sie sich nun


Allgemeine Zeitung.
Nr. 337. — 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Freitag, 4. December 1890.


[Spaltenumbruch]
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in München b. d. Ex-
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Stadtbezirk errichte-
ten Depots abgeholt
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2malig-Zuſtellung ins
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für d. Ausl. mit ent-
ſprechendem Zuſchlag.
Direkter Bezug
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Deutſchland
[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]. Oeſterreich monatl.
M. 4. —, Auſland
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Inſertionspreis
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finanzielle Anzeigen
35 Pf.; Lokalanzeigen
20 Pf.: kleine Anzei-
gen i. gewöhnl. Schrift
3 Pf., in fetter Schrift
5 Pf. für das Wort.


Redaktion u. Expedi-
tion befinden ſich
Schwanthalerſtr. 73
in München.


Berichte ſind an die
Redaktion, Inſerat-
auſträge an die Ex-
pedition franko einzu-
ſenden.


[Spaltenumbruch]
Abounements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. Loeicher und Frat.
Bocca
in Turin, Florenz und Rom. U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt-
amt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern. E Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert,
Weſtermann u. Co., International Publiſhing Agenen. 710 Broadway, in New York.
Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.
[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch]
Inſeratenannahme in München b. d. Erpedition, Schwanthalerſtraße 73. ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln,
Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London. Zürich, Baſel ꝛc. b. d Annoncenbureaur G. L. Daube
u. Co., Haaſenſtein u. Vogler u. R. Moſſe.
In den Filialen der Zeitungsbureaur Invalidendank zu Berlin,
Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung Nachſolger in Stuttgart und München.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Ueberſicht.
Die Aufhebung der baltiſchen Ritterſchaften.
Vom Reichstag.
Deutſches Reich. * Berlin: Reichstag. Eröffnung der Schul-
reſorm-Verbandlungen.
Das öſterreichiſche Budget für 1891.
Oeſterreich-Ungarn. F. Wien: Groß-Wien im Landtag.
Nordamerika. * New-York: Die Indianer-Unruhen.
Feuilleton: Der Arzt der Literatur. Von Karl Pröll.
Weitere telegraphiſche Nachrichten.

[Abbildung] Hiezu: Zweites Morgenblatt.



München, 4. December.


Die Aufhebung der baltiſchen Ritterſchaften.

Aus Kurland wird uns geſchrieben:

Während man in Deutſchland mit einem großen Aufbau
geſetzgeberiſcher Arbeit beſchäftigt iſt, läuten bei uns dem öffent-
lichen Leben die Todtenglocken. Je mehr die gewaltſame Ruſſi-
fication des Landes vorſchreitet, um ſo mehr engen die Felder
der Arbeit am allgemeinen Weſen ſich ein und bald werden
wir ganz in den engen Kreis des Hauſes hineingebannt ſein.
Die von St. Petersburg über uns einbrechende Geſetzgebung
arbeitet ſyſtematiſch darauf hin, alle Deutſchen von der Theil-
nahme nicht nur an communaler und öffentlicher Thätigkeit
auszuſchließen, ſondern ihnen auch den Zugang zu allen ſtaat-
lichen Aemtern zu verſchließen. Seit die Juſtizreform einge-
führt wurde, ſind unſre Juriſten aus den Behörden und aus
der Advocatur verdrängt worden — glücklich noch, wer in unter-
geordneter Stellung bei einer Bank, in einem Handlungshauſe
oder ſonſtwo ein Unterkommen findet, das ihn und die Seinigen
durchbringt; die Ruſſiſication der Gymnaſien hat unſern deut-
ſchen Lehrerſtand beſeitigt und brodlos gemacht, ſoweit es ihm
nicht möglich wurde, durch Privatſtunden einen dürftigen Ver-
dienſt zu finden; die Communalämter in der Stadtverwaltung
ſind zwar noch zum Theil in deutſchen Händen, ſind aber an
ruſſiſche Verhandlungs- und Schriſtſprache gebunden; über unſern
Predigern ſchwebt das Damokles-Schwert des Strafgeſetzbuches,
welches mit Amtsentſetzung, Verbannung und Gefängniß Jeden
bedroht, der in die von der griechiſchen Kirche beanſpruchte
Sphäre hineingreift — und was beanſprucht ſie nicht? — ſo
daß buchſtäblich nur diejenigen Berufsarten übrig geblieben
ſind, die in keiner Beziehung zum Staate ſtehen: Kaufleute,
Ingenieure, Privatärzte. Dabei die nagende Sorge um die
Erziehung der Kinder, die in den von ſchlechteren Lehrern in
fremder Sprache geleiteten öffentlichen und privaten Schulen
das geiſtige Rüſtzeug nicht erwerben können, deſſen ſie zum
Lebenskampfe bedürfen. Es iſt die Summe all dieſer Dinge ſo
unſagbar ſchwer zu tragen, daß es nicht wundernehmen kann,
wenn mehr als einer darüber nicht nur materiell, ſondern auch
ſittlich zu Grunde geht.

Als letzte geſchloſſene Organiſation der deutſchen Kräfte
des Landes waren die Ritterſchaften der drei Provinzen übrig
geblieben, die, ſeit Jahrhunderten in der Selbſtverwaltung
[Spaltenumbruch] geſchult, gewiſſermaßen das Rückgrat des Landes bildeten. Da
gerade ſie durch ihre ganze Tradition dahin gewieſen wurden.
das Deutſchthum und den proteſtantiſchen Geiſt des Landes
aufrecht zu erhalten, waren ſie trotz der großen Dienſte, die ſie
im Civil- und Militärdienſt der ruſſiſchen Regierung geleiſtet
haben, der heute herrſchenden Richtung ein Dorn im Ange,
und ſchon ſeit mehr als zwei Jahrzehnten iſt die dringendſte
Forderung der panſlawiſtiſchen Führer in St. Petersburg und
Moskau die Aufhebung der ritterſchaftlichen Organiſation
geweſen.

Die Erfüllung dieſes Lieblingswunſches ſteht nun unmittel-
bar bevor. Eine in St. Petersburg tagende Commiſſion hat
ihre dahin zielenden Vorarbeiten beendigt, und die aus den-
ſelben hervorgegangene Vorlage iſt zu einer letzten Meinungs-
äußerung den baltiſchen Ritterſchaften vorgelegt worden.

Das Weſentliche der in Sicht ſtehenden „Reform“ — mit
dieſem Ramen pflegt man in Rußland die Zerſtörungsarbeit zu
beſchönigen — liegt in der Entziehung ſämmtlicher Befugniſſe,
auf dem Wege gewohnter Selbſtverwaltung am gemeinen Beſten
der Provinzen weiterzuarbeiten. Jeder Einfluß, der im Laufe
der Jahrhunderte auf Kirche und Schule, Volkserziehung und
Landeswohlfahrt, Landwirthſchaft, Landpolizei, Hypothekenweſen
u. ſ. w. erworben war, wird beſeitigt und die Thätigkeit der
an die Stelle tretenden Adelsgenoſſenſchaft ausſchließlich auf
ſtändiſche Angelegenheiten beſchränkt. Zugleich wird der Adel
genöthigt, die bisher mit ihm tagenden bürgerlichen Großgrund-
beſitzer aus ſeinen Verſammlungen auszuſchließen und dagegen
die ruſſiſchen Edelleute aufzunehmen, die als Beamte und Ruſſiſi-
catoren in das Land geſetzt worden ſind und, wie es in Ruß-
land üblich iſt, bei Erwerbung eines beſtimmten Dienſtranges
auch den erblichen Adel erhalten. Dieſen Leuten zuliebe wird
dann das Ruſſiſche als Schriftſprache der Verſammlung octroyirt
und zugleich durch die Beſtimmung, daß nur ſolche, die in ruſſi-
ſchen Schulen ein Examen gemacht haben, ſtimmberechtigt ſein
ſollen, die ganze große Gruppe derjenigen baltiſchen Edellente
ausgeſchloſſen, die ihre Bildung im elterlichen Hauſe oder auf
deutſchen Univerſitäten genoſſen haben.

Alle die von den Ritterſchaften ins Leben gerufenen Stif-
tungen, die von ihnen bewilligten Penſionen, die ihnen zuge-
wandten Vermächtniſſe ſchweben nach der geplanten „Neform“
in der Luft, und da ausdrücklich die Selbſtbeſteuerung zu ge-
meinnützigen Zwecken verboten wird, iſt keine Möglichkeit ge-
boten, der neuen Organiſation die Verpflichtungen der alten
Corporationen zu übertragen.

Es iſt geradezu unberechenbar, wie groß neben dem ideellen
Verluſte der materielle Rückſchlag dieſes Vernichtungswerkes
ſein wird.

Der Landtag, welcher im October dieſes Jahres in Mitau
tagte und ſich mit dieſen Dingen abzufinden hatte, machte denn
auch den Eindruck eines Sterbenden, der ſein Teſtament errichten
muß. Aber welche Sicherheit bietet ſich, daß jene teſtamenta-
riſchen Beſtimmungen auch ausgeführt werden, und wie gering
ſind die Garantien, daß die Zukunft nicht noch Schlimmeres
bringt, nachdem die Organiſation durchbrochen iſt, die allein
noch die Möglichkeit bot, ihre Stimme bis an den Thron des
Zaren gelangen zu laſſen!

Was übrig bleibt, iſt abſolute Rechtloſigkeit, die Preis-
[Spaltenumbruch] gebung des Landes an die Willkür des ruſſiſchen Beamtenthums,
welches beauftragt iſt, die Vernichtung des deutſchen Weſens
zu Ende zu führen — der traurige Ausgang einer ſiebenhundert-
jährigen ruhmvollen Geſchichte, die einſt mit der des Deutſchen
Reiches verbunden war.

Uebrigens iſt die ruſſiſche Regierung entſchloſſen, auch
dabei nicht ſtehen zu bleiben. Wie ſchon anderweit gemeldet,
ſollen die Provinzen Liv-, Eſt- und Kurland als ſolche aufhören
zu beſtehen. Man will halb Livland und ganz Kurland zu
einem Gouvernement Riga zuſammenſchlagen, das andere halbe
Livland und Eſtland zu einem Gouvernement Reval. Als
Scheidungsgrund wird die nationale Zugehörigkeit der bäuer-
lichen Bevölkerung zur lettiſchen oder zur eſtniſchen Volksgruppe
angegeben. Iſt auch das vollzogen, ſo hat Rußland mit dem
letzten Reſt der deutſchen Vergangenheit in den Provinzen auf-
geräumt. Auch der Name iſt dann geſchwunden. Und was
bleibt übrig? Nun, es ſind immer noch 250,000 Deutſche, die
ſich ihrer Haut wehren wollen, ſo gut oder ſo übel es geht, es
ſind 2¼ Millionen proteſtantiſcher Bauern, die nicht Griechen
und nicht Ruſſen werden wollen. Auch ſie werden ſich wehren
in paſſivem Widerſtande, ſo lange es geht, und Rußland wird
auf dieſem Boden dieſelben Erfahrungen machen, wie mit ſeinen
Ruſſificationsbeſtrebungen in Polen oder wo immer ſonſt es
mit abendländiſcher Civiliſation in Berührung getreten iſt: eine
ruſſiſche Tünche an der Oberfläche und darunter ein anders-
geartetes Weſen, dem nichts verhaßter iſt, als was ſich hyper-
boliſch „ruſſiſche Cultur“ nennt.



Vom Reichstage.

Von allen parlamentariſchen
Debatten ſind die Wahlprüfungen — die unerquicklichſten.
Für den unbefangenen Beobachter kann es immer nur etwas
Niederdrückendes haben, zu ſehen, wie gerade diejenigen Ver-
handlungen, welche mit der Ruhe und Sachlichkeit, der Un-
parteilichkeit und Vornehmheit eines höchſten Gerichtshoſes ge-
führt werden ſollten, am meiſten von der Erregung der Partei-
leidenſchaften beherrſcht werden. Dieſe letztere Wahrnehmung
hat man heute wieder einmal recht ausgiebig bei der Verhand-
lung über die Wahl im neunten hannoverſchen Wahlkreiſe, wo
der nationalliberale Hr. v. Reden, als in der Stichwahl gegen
einen Socialdemokraten gewählt, proclamirt worden iſt, machen
können. Gegen die Wahl iſt ein Proteſt eingegangen, in
welchem der Schwerpunkt auf ein mit der Unterſchrift eines
Oberbergraths v. Detten verbreitetes Flugblatt gelegt wird,
weil durch dasſelbe eine Wahlbeeinfluſſung begangen ſei. Iſt
das Flugblatt wirklich von dem genannten Beamten aus-
gegangen, ſo muß es zweifellos als ungehörig bezeichnet
werden. Es werden alſo über dieſen Punkt jedenfalls Er-
hebungen anzuſtellen ſein.

Eine andere Frage aber iſt, ob, auch wenn eine Wahl-
beeinfluſſung im vollſten Sinne des Wortes angenommen
werden müßte, die in Folge deſſen für ungültig zu erklärenden
Stimmen ausreichen würden, um das Ergebniß der Wahl zu
ändern. Nach der klaren und bündigen Darſtellung des von
dem Centrumsmitgliede Fritzen erſtatteten Commiſſionsberichts
iſt dies nicht der Fall. Die Wahlprüfungscommiſſion iſt in

[Spaltenumbruch]


Feuilleton.


Der Arzt der Literatur.

* „Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Haben Sie dieſe Racht
beſſer geſchlafen? Iſt Ihr Appetit gut und ſpüren Sie keine
Verdauungsſtörungen? Laſſen Sie mich einmal Ihre Zunge
ſehen. Sie iſt noch etwas belegt. Nun, ich werde Ihnen eine
Kleinigkeit verſchreiben.“

Dies wäre der Alltagstypus der Geſpräche, welche der Arzt
mit ſeinen Leichtkranken führt. Die Fragen ſollen zugleich als
Beruhigungsmittel dienen. Wenn der Menſch ſeinen Schmerz
in Worte faßt, wird dieſem viel von ſeiner Bitterkeit genommen.
Zwiſchen Wahrheit und Täuſchung wiegt der Leidensbeſchauer
die ungeduldige Seele ein, damit nicht ihr Herumzerren den
Heilungsproceß hindere. Nehmt die Partei des Dulders und
ihr erleichtert ihm ſeine Laſt. Am Cadaver freilich enthüllt
der Zergliederer alle Gebreſten, ohne Rückſichten zu nehmen.
Das Secirmeſſer iſt aber nicht für Lebende.

Darf die zeitgenöſſiſche Kritik die Rolle des humanen
Arztes ſich aneignen? Soll ſie den Abſchen vor Krankheits-
erſcheinungen überwinden und ihr Mitgefühl unmerklich ein-
flößen, damit der eigene und der fremde Wille ſich zum Werke
der Geneſung vereinigen? Oder hat die Kritik die Pflicht zu
üben, mit ſcharfem Meſſer in das Fleiſch zu ſchneiden, gleich-
gültig, ob der Nerv noch zuckt, das Blut warm herausſtrömt,
oder ob bereits die Todtenſtarre eingetreten iſt? Ich laſſe den
Helden dieſer Meſſer-Kritik gern den Vorrang und begnüge mich,
als milderer Hausdoctor zu walten.

Es gibt gute und ſchlechte Weinjahre in der Literatur.
Nicht nur die Menge, ſondern auch der Gehalt der Trauben
entſcheidet, ob die Leſe mehr- oder minderwerthig werde. Son-
nenſtrahlen und Rebelfeuchte ſind hineingewoben in den feurigen
Trank, der uns mundet. Waren die erſten zu ſpärlich geſchenkt,
ſo wird der Wein ſauer. Hat der September- und October-
Nebel die Traube gemieden, dann bleibt der duſtige Geſchmack,
das Bouquet aus, welches den Wein erſt adelt. Dieſer bringt es
dann nur zu der Bedeutung eines erträglichen Haustrunkes.

Auch auf die guten Jahrgänge der Literatur haben klare,
feurige Anſchauung und träumeriſche Märchenſeligkeit gleich-
mäßig eingewirkt. Die Edelfrucht des Geiſtes bedarf des Hell-
[Spaltenumbruch] lichtes wie des Helldunkels. Naturalismus, Verismus mögen
ſich bemühen, die Lebensproceſſe ſorgfältig zu beobachten und abzu-
ſchildern. Aber ſie haben keinen Anſpruch darauf zu erheben, daß
nur die von ihnen gewählte Beleuchtung die richtige ſei. Geiſt
ſowie Welt offenbaren ſich in dem wechſelnden Lichte, und ſelbſt
der Schatten, welcher dieſem beigeſellt iſt, zeigt verſchiedene
Farbendämmerungen.

Ich habe nichts einzuwenden, wenn mir Einer ſagt: der
Sonnenaufgang und -Untergang in einem Fabrikviertel wirke
auf ihn ergreifender, als der erſte Gruß und das Scheiden des
königlichen Tagesgeſtirnes auf den einſamen Firnen des Mont-
blanc oder der Jungfrau. Wenn ſein eigenes Herz von Mit-
leid erfaßt iſt für die fröhnende, darbende Menſchheit, ſo wird
ſich dieſes ätherreine Gefühl wie Goldglanz über die ſchmutzigen
Maſſenquartiere, die armen Familien, die hartſteinigen Spiel-
plätze der Kinder breiten. Wenn er ſich aber begnügt, nur die
wüſte Schankwirthſchaft, die liederlichen Dirnen und Betrunkenen
in der Goſſe abzuconterfeien, ſo werde ich ihm ſagen: „Freund,
das iſt doch nur ein Krähwinkel im Fegefeuer’. Deine Begeiſterung
iſt erkünſtelt, und ſie reicht nicht an die Straßenlaterne hinan,
welche dieſem Treiben zublinzelt.

„Du verwirfſt es, die menſchlichen Tugenden und Leiden-
ſchaften im Spiegel des tragiſchen Titanismus zu vergrößern, weil
ſich die einzelnen Linien und der wirkliche Ausdruck dabei ver-
ſchieben. Du zeigſt mir vielmehr den Waſſertropfen der Seele
im Sonnenmikroſkop und weiſeſt darauf hin, daß unzählige
kleine, häßliche, hungrige Leidenſchaften ſich darin bekämpfen
und verzehren. Aber das Auge, mit dem du gewöhnlich die
Dinge erblickſt, weiß nichts von ſolchen Apparaten. Auch Kunſt
und Literatur ſollen nur mit dem naturlichen Auge ſchauen.

„Die Thatſachen der langſamen Entthronung des Lebens-
willens, der vielfältigen Entſagung, die Folgen des Trotzens
gegen die Daſeinsmächte glaubſt du auf dem Wege mühſamer
Détailbeobachtung erſchloſſen zu haben. Sie waren aber ſchon
niedergelegt im Buche Hiob, in den altindiſchen Literaturdenk-
mälern, freilich in ſymboliſcher Form, welche jedoch eine Un-
ſumme realiſtiſcher Züge aufweist. Die Cadaver-Reſignation
bleibt jedoch gleich dem Cadaver-Gehorſam der menſchlichen
Sinnesweiſe auf die Dauer unerträglich.

„Und wenn du die naturwiſſenſchaftlichen Aufſchlüſſe über
die Artenentwicklung, die Lehren von Vererbung und Anpaſſung
in einſeitiger Weiſe zu einer Verſchlechterung und Verſchlimme-
[Spaltenumbruch] rung der Menſchengattung auszüchteſt, ſo bringſt du wieder
den Erbfluch und die Erbſünde in die Welt, die finſteren
Dogmen, von denen wir uns befreit wähnten durch die raſtloſe
Arbeit des Geiſtes. Wenn du in den Gräueln dieſer Sünden:
welt ſchwelgſt, erreichſt du nicht einmal die Phantaſiekraft
jener altteſtamentariſchen Propheten, deren Zorneseifer wie eine
Feuerſäule durch die Wüſte leuchtete.

Dies alles iſt nur der Ueberreiz eines nervenſchwachen,
überſatten und willensmatten Geſchlechtes oder die literar-
geſchäftliche Speculation auf dieſes Geſchlecht. Damit kann
weder der Kunſt geholfen, noch die ſociale Gährung unſrer
Gegenwart einer Abklärung zugeführt werden.“

Der Arzt der Literatur wird deßhalb zu ihr ſagen: „Etwas
mehr Diät, meine Verehrte! Und etwas weniger Stolz auf
Ihre Krankheitszuſtände, die Sie für höchſt intereſſant und
eigenthümlich halten, über welche Ihnen jedoch jeder Geiſtes-
pathologe ſagen wird, daß ſie in etwas veränderter Form ſchon
vielfach dageweſen, ja manchmal ſich bis zum Maſſenwahnſinn
verdichtet haben. Wir brauchen keine Kinderkreuzzüge, keine
Flagellanten mehr, am wenigſten unter naturwiſſenſchaftlichem
Banner. Schauet, genießet und geſtaltet: das iſt das einzige
Gebot für die Künſtler und Schriftbildner aller Zeiten geweſen
und wird es auch bleiben. So, das iſt meine Heilvorſchrift.
Und das beſte Mittel, Ihre Zunge zu reinigen, dieſe Nachſpur
der Reclamelüſternheit zu beſeitigen, beſteht darin, daß Sie
über etwas Anderes zu ſprechen verſuchen, als über Ihr kleines
Ich. Träumen Sie auch zu Ihrer Erholung ein wenig — aber.
recht behaglich!

„Wie ein leichtes Elfenband ſchlängelt ſich der Rauch der
Habana-Cigarre empor, bläulich am Saume, mit grauen
Arabesken in der Mitte geziert. Dieſen ſchmalen Saum be-
rührt jetzt ein ſilberner Mottenflügel. Frohherzige Vergäng-
lichkeit und ſchmerzloſe Zerſtörung kommen ſo zuſammen und
grüßen ſich ſtumm. Darunter gähnt der ſchwarze Abgrund
des Tintenfaſſes. Die milde Abendluft verbreitet das Gefühl
der Schmerzloſigkeit. Schon zittert der erſte Stern am Himmel,
deſſen aſtronomiſche Ortsangabe Sie nicht zu wiſſen brauchen.
Bedecken Sie nur langſam das Tintenfaß, in welches die Motte
hineingefallen, mit dem Deckel, ſo daß es einer kleinen Urne
gleicht. Geben Sie der Magd, welche Küchenſalat ſchneidet,
einen Wink, das Stehpult und das Schreibzeug durch die
offene Thür in die Stube zu bringen. Setzen Sie ſich nun

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&#x017F;ind die Garantien, daß die Zukunft nicht noch Schlimmeres<lb/>
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&#x017F;ich ihrer Haut wehren wollen, &#x017F;o gut oder &#x017F;o übel es geht, es<lb/>
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&#x017F;childern. Aber &#x017F;ie haben keinen An&#x017F;pruch darauf zu erheben, daß<lb/>
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[0001] Allgemeine Zeitung.Nr. 337. — 92. Jahrgang. Morgenblatt. München, Freitag, 4. December 1890. Abonnementspreis in München b. d. Ex- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2.—, bei 2malig-Zuſtellung ins Haus M. 2.50; durch d. Poſt bezogen: vier- teljährlich f. Deutſchl. u. Oeſterreich M. 9.—, für d. Ausl. mit ent- ſprechendem Zuſchlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutſchland _. Oeſterreich monatl. M. 4. —, Auſland M. 5.60. Inſertionspreis p. Colonelzeile 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.: kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in fetter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden ſich Schwanthalerſtr. 73 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- auſträge an die Ex- pedition franko einzu- ſenden. Abounements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. 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Inhalts-Ueberſicht. Die Aufhebung der baltiſchen Ritterſchaften. Vom Reichstag. Deutſches Reich. * Berlin: Reichstag. Eröffnung der Schul- reſorm-Verbandlungen. Das öſterreichiſche Budget für 1891. Oeſterreich-Ungarn. F. Wien: Groß-Wien im Landtag. Nordamerika. * New-York: Die Indianer-Unruhen. Feuilleton: Der Arzt der Literatur. Von Karl Pröll. Weitere telegraphiſche Nachrichten. [Abbildung] Hiezu: Zweites Morgenblatt. München, 4. December. Die Aufhebung der baltiſchen Ritterſchaften. Aus Kurland wird uns geſchrieben: Während man in Deutſchland mit einem großen Aufbau geſetzgeberiſcher Arbeit beſchäftigt iſt, läuten bei uns dem öffent- lichen Leben die Todtenglocken. Je mehr die gewaltſame Ruſſi- fication des Landes vorſchreitet, um ſo mehr engen die Felder der Arbeit am allgemeinen Weſen ſich ein und bald werden wir ganz in den engen Kreis des Hauſes hineingebannt ſein. Die von St. Petersburg über uns einbrechende Geſetzgebung arbeitet ſyſtematiſch darauf hin, alle Deutſchen von der Theil- nahme nicht nur an communaler und öffentlicher Thätigkeit auszuſchließen, ſondern ihnen auch den Zugang zu allen ſtaat- lichen Aemtern zu verſchließen. Seit die Juſtizreform einge- führt wurde, ſind unſre Juriſten aus den Behörden und aus der Advocatur verdrängt worden — glücklich noch, wer in unter- geordneter Stellung bei einer Bank, in einem Handlungshauſe oder ſonſtwo ein Unterkommen findet, das ihn und die Seinigen durchbringt; die Ruſſiſication der Gymnaſien hat unſern deut- ſchen Lehrerſtand beſeitigt und brodlos gemacht, ſoweit es ihm nicht möglich wurde, durch Privatſtunden einen dürftigen Ver- dienſt zu finden; die Communalämter in der Stadtverwaltung ſind zwar noch zum Theil in deutſchen Händen, ſind aber an ruſſiſche Verhandlungs- und Schriſtſprache gebunden; über unſern Predigern ſchwebt das Damokles-Schwert des Strafgeſetzbuches, welches mit Amtsentſetzung, Verbannung und Gefängniß Jeden bedroht, der in die von der griechiſchen Kirche beanſpruchte Sphäre hineingreift — und was beanſprucht ſie nicht? — ſo daß buchſtäblich nur diejenigen Berufsarten übrig geblieben ſind, die in keiner Beziehung zum Staate ſtehen: Kaufleute, Ingenieure, Privatärzte. Dabei die nagende Sorge um die Erziehung der Kinder, die in den von ſchlechteren Lehrern in fremder Sprache geleiteten öffentlichen und privaten Schulen das geiſtige Rüſtzeug nicht erwerben können, deſſen ſie zum Lebenskampfe bedürfen. Es iſt die Summe all dieſer Dinge ſo unſagbar ſchwer zu tragen, daß es nicht wundernehmen kann, wenn mehr als einer darüber nicht nur materiell, ſondern auch ſittlich zu Grunde geht. Als letzte geſchloſſene Organiſation der deutſchen Kräfte des Landes waren die Ritterſchaften der drei Provinzen übrig geblieben, die, ſeit Jahrhunderten in der Selbſtverwaltung geſchult, gewiſſermaßen das Rückgrat des Landes bildeten. Da gerade ſie durch ihre ganze Tradition dahin gewieſen wurden. das Deutſchthum und den proteſtantiſchen Geiſt des Landes aufrecht zu erhalten, waren ſie trotz der großen Dienſte, die ſie im Civil- und Militärdienſt der ruſſiſchen Regierung geleiſtet haben, der heute herrſchenden Richtung ein Dorn im Ange, und ſchon ſeit mehr als zwei Jahrzehnten iſt die dringendſte Forderung der panſlawiſtiſchen Führer in St. Petersburg und Moskau die Aufhebung der ritterſchaftlichen Organiſation geweſen. Die Erfüllung dieſes Lieblingswunſches ſteht nun unmittel- bar bevor. Eine in St. Petersburg tagende Commiſſion hat ihre dahin zielenden Vorarbeiten beendigt, und die aus den- ſelben hervorgegangene Vorlage iſt zu einer letzten Meinungs- äußerung den baltiſchen Ritterſchaften vorgelegt worden. Das Weſentliche der in Sicht ſtehenden „Reform“ — mit dieſem Ramen pflegt man in Rußland die Zerſtörungsarbeit zu beſchönigen — liegt in der Entziehung ſämmtlicher Befugniſſe, auf dem Wege gewohnter Selbſtverwaltung am gemeinen Beſten der Provinzen weiterzuarbeiten. Jeder Einfluß, der im Laufe der Jahrhunderte auf Kirche und Schule, Volkserziehung und Landeswohlfahrt, Landwirthſchaft, Landpolizei, Hypothekenweſen u. ſ. w. erworben war, wird beſeitigt und die Thätigkeit der an die Stelle tretenden Adelsgenoſſenſchaft ausſchließlich auf ſtändiſche Angelegenheiten beſchränkt. Zugleich wird der Adel genöthigt, die bisher mit ihm tagenden bürgerlichen Großgrund- beſitzer aus ſeinen Verſammlungen auszuſchließen und dagegen die ruſſiſchen Edelleute aufzunehmen, die als Beamte und Ruſſiſi- catoren in das Land geſetzt worden ſind und, wie es in Ruß- land üblich iſt, bei Erwerbung eines beſtimmten Dienſtranges auch den erblichen Adel erhalten. Dieſen Leuten zuliebe wird dann das Ruſſiſche als Schriftſprache der Verſammlung octroyirt und zugleich durch die Beſtimmung, daß nur ſolche, die in ruſſi- ſchen Schulen ein Examen gemacht haben, ſtimmberechtigt ſein ſollen, die ganze große Gruppe derjenigen baltiſchen Edellente ausgeſchloſſen, die ihre Bildung im elterlichen Hauſe oder auf deutſchen Univerſitäten genoſſen haben. Alle die von den Ritterſchaften ins Leben gerufenen Stif- tungen, die von ihnen bewilligten Penſionen, die ihnen zuge- wandten Vermächtniſſe ſchweben nach der geplanten „Neform“ in der Luft, und da ausdrücklich die Selbſtbeſteuerung zu ge- meinnützigen Zwecken verboten wird, iſt keine Möglichkeit ge- boten, der neuen Organiſation die Verpflichtungen der alten Corporationen zu übertragen. Es iſt geradezu unberechenbar, wie groß neben dem ideellen Verluſte der materielle Rückſchlag dieſes Vernichtungswerkes ſein wird. Der Landtag, welcher im October dieſes Jahres in Mitau tagte und ſich mit dieſen Dingen abzufinden hatte, machte denn auch den Eindruck eines Sterbenden, der ſein Teſtament errichten muß. Aber welche Sicherheit bietet ſich, daß jene teſtamenta- riſchen Beſtimmungen auch ausgeführt werden, und wie gering ſind die Garantien, daß die Zukunft nicht noch Schlimmeres bringt, nachdem die Organiſation durchbrochen iſt, die allein noch die Möglichkeit bot, ihre Stimme bis an den Thron des Zaren gelangen zu laſſen! Was übrig bleibt, iſt abſolute Rechtloſigkeit, die Preis- gebung des Landes an die Willkür des ruſſiſchen Beamtenthums, welches beauftragt iſt, die Vernichtung des deutſchen Weſens zu Ende zu führen — der traurige Ausgang einer ſiebenhundert- jährigen ruhmvollen Geſchichte, die einſt mit der des Deutſchen Reiches verbunden war. Uebrigens iſt die ruſſiſche Regierung entſchloſſen, auch dabei nicht ſtehen zu bleiben. Wie ſchon anderweit gemeldet, ſollen die Provinzen Liv-, Eſt- und Kurland als ſolche aufhören zu beſtehen. Man will halb Livland und ganz Kurland zu einem Gouvernement Riga zuſammenſchlagen, das andere halbe Livland und Eſtland zu einem Gouvernement Reval. Als Scheidungsgrund wird die nationale Zugehörigkeit der bäuer- lichen Bevölkerung zur lettiſchen oder zur eſtniſchen Volksgruppe angegeben. Iſt auch das vollzogen, ſo hat Rußland mit dem letzten Reſt der deutſchen Vergangenheit in den Provinzen auf- geräumt. Auch der Name iſt dann geſchwunden. Und was bleibt übrig? Nun, es ſind immer noch 250,000 Deutſche, die ſich ihrer Haut wehren wollen, ſo gut oder ſo übel es geht, es ſind 2¼ Millionen proteſtantiſcher Bauern, die nicht Griechen und nicht Ruſſen werden wollen. Auch ſie werden ſich wehren in paſſivem Widerſtande, ſo lange es geht, und Rußland wird auf dieſem Boden dieſelben Erfahrungen machen, wie mit ſeinen Ruſſificationsbeſtrebungen in Polen oder wo immer ſonſt es mit abendländiſcher Civiliſation in Berührung getreten iſt: eine ruſſiſche Tünche an der Oberfläche und darunter ein anders- geartetes Weſen, dem nichts verhaßter iſt, als was ſich hyper- boliſch „ruſſiſche Cultur“ nennt. Vom Reichstage. ✡ Berlin, 3. Dec.Von allen parlamentariſchen Debatten ſind die Wahlprüfungen — die unerquicklichſten. Für den unbefangenen Beobachter kann es immer nur etwas Niederdrückendes haben, zu ſehen, wie gerade diejenigen Ver- handlungen, welche mit der Ruhe und Sachlichkeit, der Un- parteilichkeit und Vornehmheit eines höchſten Gerichtshoſes ge- führt werden ſollten, am meiſten von der Erregung der Partei- leidenſchaften beherrſcht werden. Dieſe letztere Wahrnehmung hat man heute wieder einmal recht ausgiebig bei der Verhand- lung über die Wahl im neunten hannoverſchen Wahlkreiſe, wo der nationalliberale Hr. v. Reden, als in der Stichwahl gegen einen Socialdemokraten gewählt, proclamirt worden iſt, machen können. Gegen die Wahl iſt ein Proteſt eingegangen, in welchem der Schwerpunkt auf ein mit der Unterſchrift eines Oberbergraths v. Detten verbreitetes Flugblatt gelegt wird, weil durch dasſelbe eine Wahlbeeinfluſſung begangen ſei. Iſt das Flugblatt wirklich von dem genannten Beamten aus- gegangen, ſo muß es zweifellos als ungehörig bezeichnet werden. Es werden alſo über dieſen Punkt jedenfalls Er- hebungen anzuſtellen ſein. Eine andere Frage aber iſt, ob, auch wenn eine Wahl- beeinfluſſung im vollſten Sinne des Wortes angenommen werden müßte, die in Folge deſſen für ungültig zu erklärenden Stimmen ausreichen würden, um das Ergebniß der Wahl zu ändern. Nach der klaren und bündigen Darſtellung des von dem Centrumsmitgliede Fritzen erſtatteten Commiſſionsberichts iſt dies nicht der Fall. Die Wahlprüfungscommiſſion iſt in Feuilleton. Der Arzt der Literatur. Von Karl Pröll. * „Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Haben Sie dieſe Racht beſſer geſchlafen? Iſt Ihr Appetit gut und ſpüren Sie keine Verdauungsſtörungen? Laſſen Sie mich einmal Ihre Zunge ſehen. Sie iſt noch etwas belegt. Nun, ich werde Ihnen eine Kleinigkeit verſchreiben.“ Dies wäre der Alltagstypus der Geſpräche, welche der Arzt mit ſeinen Leichtkranken führt. Die Fragen ſollen zugleich als Beruhigungsmittel dienen. Wenn der Menſch ſeinen Schmerz in Worte faßt, wird dieſem viel von ſeiner Bitterkeit genommen. Zwiſchen Wahrheit und Täuſchung wiegt der Leidensbeſchauer die ungeduldige Seele ein, damit nicht ihr Herumzerren den Heilungsproceß hindere. Nehmt die Partei des Dulders und ihr erleichtert ihm ſeine Laſt. Am Cadaver freilich enthüllt der Zergliederer alle Gebreſten, ohne Rückſichten zu nehmen. Das Secirmeſſer iſt aber nicht für Lebende. Darf die zeitgenöſſiſche Kritik die Rolle des humanen Arztes ſich aneignen? Soll ſie den Abſchen vor Krankheits- erſcheinungen überwinden und ihr Mitgefühl unmerklich ein- flößen, damit der eigene und der fremde Wille ſich zum Werke der Geneſung vereinigen? Oder hat die Kritik die Pflicht zu üben, mit ſcharfem Meſſer in das Fleiſch zu ſchneiden, gleich- gültig, ob der Nerv noch zuckt, das Blut warm herausſtrömt, oder ob bereits die Todtenſtarre eingetreten iſt? Ich laſſe den Helden dieſer Meſſer-Kritik gern den Vorrang und begnüge mich, als milderer Hausdoctor zu walten. Es gibt gute und ſchlechte Weinjahre in der Literatur. Nicht nur die Menge, ſondern auch der Gehalt der Trauben entſcheidet, ob die Leſe mehr- oder minderwerthig werde. Son- nenſtrahlen und Rebelfeuchte ſind hineingewoben in den feurigen Trank, der uns mundet. Waren die erſten zu ſpärlich geſchenkt, ſo wird der Wein ſauer. Hat der September- und October- Nebel die Traube gemieden, dann bleibt der duſtige Geſchmack, das Bouquet aus, welches den Wein erſt adelt. Dieſer bringt es dann nur zu der Bedeutung eines erträglichen Haustrunkes. Auch auf die guten Jahrgänge der Literatur haben klare, feurige Anſchauung und träumeriſche Märchenſeligkeit gleich- mäßig eingewirkt. Die Edelfrucht des Geiſtes bedarf des Hell- lichtes wie des Helldunkels. Naturalismus, Verismus mögen ſich bemühen, die Lebensproceſſe ſorgfältig zu beobachten und abzu- ſchildern. Aber ſie haben keinen Anſpruch darauf zu erheben, daß nur die von ihnen gewählte Beleuchtung die richtige ſei. Geiſt ſowie Welt offenbaren ſich in dem wechſelnden Lichte, und ſelbſt der Schatten, welcher dieſem beigeſellt iſt, zeigt verſchiedene Farbendämmerungen. Ich habe nichts einzuwenden, wenn mir Einer ſagt: der Sonnenaufgang und -Untergang in einem Fabrikviertel wirke auf ihn ergreifender, als der erſte Gruß und das Scheiden des königlichen Tagesgeſtirnes auf den einſamen Firnen des Mont- blanc oder der Jungfrau. Wenn ſein eigenes Herz von Mit- leid erfaßt iſt für die fröhnende, darbende Menſchheit, ſo wird ſich dieſes ätherreine Gefühl wie Goldglanz über die ſchmutzigen Maſſenquartiere, die armen Familien, die hartſteinigen Spiel- plätze der Kinder breiten. Wenn er ſich aber begnügt, nur die wüſte Schankwirthſchaft, die liederlichen Dirnen und Betrunkenen in der Goſſe abzuconterfeien, ſo werde ich ihm ſagen: „Freund, das iſt doch nur ein Krähwinkel im Fegefeuer’. Deine Begeiſterung iſt erkünſtelt, und ſie reicht nicht an die Straßenlaterne hinan, welche dieſem Treiben zublinzelt. „Du verwirfſt es, die menſchlichen Tugenden und Leiden- ſchaften im Spiegel des tragiſchen Titanismus zu vergrößern, weil ſich die einzelnen Linien und der wirkliche Ausdruck dabei ver- ſchieben. Du zeigſt mir vielmehr den Waſſertropfen der Seele im Sonnenmikroſkop und weiſeſt darauf hin, daß unzählige kleine, häßliche, hungrige Leidenſchaften ſich darin bekämpfen und verzehren. Aber das Auge, mit dem du gewöhnlich die Dinge erblickſt, weiß nichts von ſolchen Apparaten. Auch Kunſt und Literatur ſollen nur mit dem naturlichen Auge ſchauen. „Die Thatſachen der langſamen Entthronung des Lebens- willens, der vielfältigen Entſagung, die Folgen des Trotzens gegen die Daſeinsmächte glaubſt du auf dem Wege mühſamer Détailbeobachtung erſchloſſen zu haben. Sie waren aber ſchon niedergelegt im Buche Hiob, in den altindiſchen Literaturdenk- mälern, freilich in ſymboliſcher Form, welche jedoch eine Un- ſumme realiſtiſcher Züge aufweist. Die Cadaver-Reſignation bleibt jedoch gleich dem Cadaver-Gehorſam der menſchlichen Sinnesweiſe auf die Dauer unerträglich. „Und wenn du die naturwiſſenſchaftlichen Aufſchlüſſe über die Artenentwicklung, die Lehren von Vererbung und Anpaſſung in einſeitiger Weiſe zu einer Verſchlechterung und Verſchlimme- rung der Menſchengattung auszüchteſt, ſo bringſt du wieder den Erbfluch und die Erbſünde in die Welt, die finſteren Dogmen, von denen wir uns befreit wähnten durch die raſtloſe Arbeit des Geiſtes. Wenn du in den Gräueln dieſer Sünden: welt ſchwelgſt, erreichſt du nicht einmal die Phantaſiekraft jener altteſtamentariſchen Propheten, deren Zorneseifer wie eine Feuerſäule durch die Wüſte leuchtete. Dies alles iſt nur der Ueberreiz eines nervenſchwachen, überſatten und willensmatten Geſchlechtes oder die literar- geſchäftliche Speculation auf dieſes Geſchlecht. Damit kann weder der Kunſt geholfen, noch die ſociale Gährung unſrer Gegenwart einer Abklärung zugeführt werden.“ Der Arzt der Literatur wird deßhalb zu ihr ſagen: „Etwas mehr Diät, meine Verehrte! Und etwas weniger Stolz auf Ihre Krankheitszuſtände, die Sie für höchſt intereſſant und eigenthümlich halten, über welche Ihnen jedoch jeder Geiſtes- pathologe ſagen wird, daß ſie in etwas veränderter Form ſchon vielfach dageweſen, ja manchmal ſich bis zum Maſſenwahnſinn verdichtet haben. Wir brauchen keine Kinderkreuzzüge, keine Flagellanten mehr, am wenigſten unter naturwiſſenſchaftlichem Banner. Schauet, genießet und geſtaltet: das iſt das einzige Gebot für die Künſtler und Schriftbildner aller Zeiten geweſen und wird es auch bleiben. So, das iſt meine Heilvorſchrift. Und das beſte Mittel, Ihre Zunge zu reinigen, dieſe Nachſpur der Reclamelüſternheit zu beſeitigen, beſteht darin, daß Sie über etwas Anderes zu ſprechen verſuchen, als über Ihr kleines Ich. Träumen Sie auch zu Ihrer Erholung ein wenig — aber. recht behaglich! „Wie ein leichtes Elfenband ſchlängelt ſich der Rauch der Habana-Cigarre empor, bläulich am Saume, mit grauen Arabesken in der Mitte geziert. Dieſen ſchmalen Saum be- rührt jetzt ein ſilberner Mottenflügel. Frohherzige Vergäng- lichkeit und ſchmerzloſe Zerſtörung kommen ſo zuſammen und grüßen ſich ſtumm. Darunter gähnt der ſchwarze Abgrund des Tintenfaſſes. Die milde Abendluft verbreitet das Gefühl der Schmerzloſigkeit. Schon zittert der erſte Stern am Himmel, deſſen aſtronomiſche Ortsangabe Sie nicht zu wiſſen brauchen. Bedecken Sie nur langſam das Tintenfaß, in welches die Motte hineingefallen, mit dem Deckel, ſo daß es einer kleinen Urne gleicht. Geben Sie der Magd, welche Küchenſalat ſchneidet, einen Wink, das Stehpult und das Schreibzeug durch die offene Thür in die Stube zu bringen. Setzen Sie ſich nun

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-03-29T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 337, 5. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine337_1890/1>, abgerufen am 16.05.2024.