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Allgemeine Zeitung, Nr. 80, 20. März 1848.

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[Spaltenumbruch] Beziehungen friedlicher Art zwischen unserem östlichen und unserem west-
lichen Nachbarn an. Paul trat in einen vertraulichen Briefwechsel mit
Bonaparte, in dem über die künftige Gestaltung Deutschlands verhan-
delt wurde. Die Ermordung des russischen Kaisers änderte in diesen
Verhältnissen nichts. Sein Nachfolger Alexander fand es vortheil-
hafter mit den Franzosen als gegen sie zu gehen. Jn den geheimen
Artikeln vom 11 October 1801 kamen das St. Petersburger und das
französische Cabinet über eine gemeinsame Vermittelung in Betreff Deutsch-
lands überein. Am 18 Aug. 1802 überreichten die Gesandten von Frankreich
und Rußland der Reichsdeputation einen Plan welchen beide Mächte
zur neuen Territorialeintheilung Deutschlands verfaßt hatten, und setz-
ten zugleich zwei Monate Frist zur Beendigung der Verhandlungen
darüber. Der Plan ward angenommen, und die erste Folge davon
daß Rußland mit Deutschland einen Principienkampf gegen Frank-
reich begonnen hatte, war: daß die drei geistlichen Kurfürstenthümer
Mainz, Trier und Köln aufgehoben wurden, daß sämmtliche noch
bestehende Bisthümer und Abteien, sämmtliche unmittelbare kleine
Grafen und Ritter, sämmtliche freie Reichsstädte bis auf sechs ihrer
Unabhängigkeit beraubt wurden; daß der Großherzog von Toscana
Salzburg, der Herzog von Modena das Breisgau erhielt. Die erste
Folge wenn Rußland mit Deutschland kämpft, wird Vernichtung der
kleineren Staaten seyn: zu Gunsten nicht der deutschen Freiheit, son-
dern fremder Herrscher und absolutistischer Gewalt.

Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutschen Ca-
binetten überhört. Als Oesterreich von neuem gegen Napoleon auf-
trat, erhob sich mit ihm nicht auch das übrige Deutschland. Unsere
Fürsten achteten eine schimpfliche Neutralität oder eine noch schimpf-
lichere Gebietsvergrößerung höher als die gemeinsame Nationalität.
Am Tage der Dreikaiserschlacht (2 Dec. 1805) stand kein preußisches
Heer neben dem österreichischen, sondern ein russisches. Der geschla-
gene Lothringer fand in dem mitgeschlagenen Romanow mindestens
keine kräftige Hülfe: die russischen Officiere sprachen von Deutschland
als von dem verächtlichsten Theile der Erde; dem gewiß nicht über-
patriotischen Gentz drehten sich seine "deutschen" Eingeweide um, wenn
er die Oesterreicher von den Russen mit Füßen getreten sah, und hörte
wie sich der Großfürst Constantin gegen die Oesterreicher benommen,
und das Ende des russisch-deutschen Bündnisses warder Preßburger Friede
(21 Dec. 1805). In ihm verlor Oesterreich an 1000 Quadratmeilen
Gebiet, drei Millionen Seelen und fünfzehn Millionen Gulden Ein-
künfte. Schwächung der einen deutschen Großmacht ohne unmittelba-
ren Vortheil für Rußland war die zweite Folge des russisch-deutschen
Kampfes gegen Frankreich.

Wir sollten noch eine dritte erleben.

Am Grabe Friedrichs des Großen hatten Preußens König und
Rußlands Zaar sich ewige Freundschaft gelobt. Die persönliche Ver-
bindung zwischen den beiden Herrschern, die gleiche Furcht beider vor Napo-
leon schien das Bündniß unter ihnen gegen den Franzosenkaiser un-
auflöslich zu machen. Nach der Schlacht von Friedland besaß Alexan-
der noch immer Mittel übergenug, um gegen die Franzosen einen
langen Krieg zu Gunsten Preußens zu führen, aber sie anzuwenden
sah er sich nicht gemüßigt. Im Frieden von Tilsit (7 und 9 Julius
1807) verlor Preußen die Hälfte seiner Länder; Rußland gewann den
bisher preußischen District von Bialyflock (206 Quadratmeilen groß)
und ein geheimer Artikel setzte fest daß wenn die Pforte, auf deren Län-
der Rußland längst ein lüsternes Auge geworfen hatte, die Vermitte-
lung Napoleons in ihrem Kriege mit dem Zaar nicht annehmen wolle,
alsdann Frankreich und Rußland gemeinschaftlich sie bekriegen und
ihr alle europäischen Besitzungen außer Rumelien und Konstantinopel
entziehen sollten. Die dritte Folge des deutsch-russischen Bündnisses
war daß die zweite deutsche Großmacht zum unmittelbaren Vortheil
Rußlands geschwächt ward, daß Rußland Aussichten gewann auf die
Donaufürstenthümer, dieses für uns so wichtige Gebiet, und daß Ruß-
land und Frankreich fortan in ein Bündniß mit einander traten.

Wenn die Freundschaft Rußlands uns dem Verderben nahe ge-
bracht hatte, so drohte seine Feindschaft uns vollends in dasselbe hin-
einzustoßen. Ungeachtet der Friede von Tilsit vorgeschrieben hatte, die
russischen Truppen sollten sich aus der Moldau und Walachei zurück-
ziehen, verbleiben sie dennoch mit Bewilligung Frankreichs in diesen
Ländern bis zum Congreß von Erfurt. Auf dem willigte Napoleon
(12 October 1808) in die Vereinigung der Moldau und Walachei mit
dem russischen Reich ein: letztere wurde bald darauf vollzogen, dadurch
[Spaltenumbruch] unserm deutschen Südosten seine Schlagader unterbunden, und eine
neue Vergrößerung des Zaarenreichs unmittelbar auf deutsche Kosten,
fand 14 October 1809 statt. Im Wiener Frieden trat Oesterreich an
das mit Frankreich verbundene Rußland einen Theil von Ostgalizien,
400,000 Einwohner stark, ab. Das Bündniß Frankreichs mit Ruß-
land noch einige Jahre, und Deutschland war ein antiquirter Begriff,
eine historische Reminiscenz. Vor solchem Unglück rettete uns nun
zwar die napoleonische Eroberungssucht; aber ehe wir gerettet waren,
sollten wir neue Beweise der russischen Gesinnungen für Deutschland
erhalten.

Um gegen Frankreich stark zu seyn, schloß Rußland 24 März 1812
einen Offensiv- und Defensivvertrag mit Schweden, in dessen drittem
Artikel festgesetzt wurde: Schweden erhält Norwegen, welches Däne-
mark ihm abtreten muß; thut Dänemark das freiwillig, fo soll es da-
für in Deutschland entschädigt werden. Im vierten Artikel ließ sich
Alexander von Schweden die Vorrückung der Gränzen Rußlands bis
an die Weichsel zuerkennen. Im Januar 1813 standen die Russen
in unserm Vaterland: in ihren Proclamationen war alles Liebe für
Deutschland, Haß gegen Frankreich. Man vernahm: "das russische
Volk bietet den Deutschen zu ihrer Befreiung die Hand," "das Vor-
dringen der russischen Heere ist durch einen über jede Selbstsucht erha-
benen Zweck geleitet." Daß bald darauf in dem gewonnenen Sachsen
ein russischer Generalgouverneur absolut herrschte, die Officiere vom
Hauptmann abwärts ernannte, während nach seinen Vorschlägen der
russische Kaiser die Stabsofficiere wählte, wurde im Drang der Be-
gebenheiten weniger bemerkt. Klarer dagegen konnte man über Ruß-
lands letztes Wollen bei den spätern Verhandlungen der europäischen
Mächte sehen.

Zur ersten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am
30 Mai den ersten Pariser Frieden herbeiführten, machte Alexander
daß Lothringen und Elsaß französisch bleiben sollten. Auf dem Wie-
ner Congreß verlangte Rußland für sich ganz Polen und behauptete:
"diese Forderung sey eine moralische Pflicht für das Zaaren-
reich; sie sey nothwendig zur Verbesserung der Verwaltung der polni-
schen Unterthanen Sr. kaiserlichen Majestät und für die Einwohner des
Herzogthums Warschau, welche ihm gegenwärtig Kraft der militäri-
schen Occupation des Herzogthums gleichfalls unterthan wären" --
ein Fingerzeig, was etwa jetzt, da der Gedanke des Panslavismus er-
wacht ist, unter Umständen von Rußland für eine moralische Pflicht
angesehen werden möchte. Nur mit Mühe brachten es die widerstre-
benden Mächte dahin daß Alexander sich mit dem jetzigen Königreich
Polen begnügte, welches zum guten Theil aus preußischen, d. h. deut-
schen Abtretungen im Tilsiter Frieden bestand. Als darauf Lud-
wig XVIII zum zweitenmal in Frankreich durch Hülfe wesentlich deut-
scher Heere eingesetzt war, ließ sich Alexander von dem neuen König
versprechen daß er Rußlands Plane auf Polen und den Orient un-
terstützen wolle, und daß der zweite Pariser Friede (20 Nov. 1815)
für uns Deutsche nicht günstiger ausfiel, daran trägt außer England
vor allem Rußland die Schuld.

In den dreiundzwanzig Jahren 1792--1815 hat uns Rußland als
unser principieller Bundesgenosse gegen Frankreich mehr geschadet denn
als offener Bundesgenosse Frankreichs gegen uns. Was es uns in
den weiteren dreiunddreißig Jahren 1815--1848, gleichfalls als prin-
cipieller Bundesgenosse gegen Frankreich für Verderben gebracht, theils
geistiges, theils materielles, davon weiß jedes Kind in Deutschland zu
reden, das bezeugen die Donaumündungen vernehmlich genug. Nicht
in der Persönlichkeit eines einzelnen russischen Kaisers liegt das Ge-
fährliche des Zaarenreichs für uns, sondern in der Richtung der rus-
sischen Politik wie sie durch die Eigenthümlichkeit des Staats gegeben
ist. Die principielle Abneigung Pauls gegen Frankreich endete mit
einem Einverständniß Frankreichs und Rußlands gegen uns; die prin-
cipielle Abneigung Alexanders gegen Napoleon endete mit einer Ueber-
einkunft beider Kaiser, die jenem den Osten, diesem den Westen Eu-
ropa's in die Hände liefern sollte; die principielle Abneigung des Kai-
sers Nicolaus gegen das constitutionelle Frankreich endete damit daß
kurz vor der Julirevolution 1830 der Zaar und Karl X sich dahin
verabredeten, jener solle sich im Osten unsers Welttheils ausdehnen,
dieser das linke Rheinufer erobern; Spuren davon daß die princi-
pielle Abneigung desselben Nicolaus gegen Ludwig Philipp im Lauf
der Zeit sich verlor, waren in den letzten Monaten in dem Geldan-
lehen Rußlands deutlich zu erblicken; wenn die geheime Geschichte des

[Spaltenumbruch] Beziehungen friedlicher Art zwiſchen unſerem öſtlichen und unſerem weſt-
lichen Nachbarn an. Paul trat in einen vertraulichen Briefwechſel mit
Bonaparte, in dem über die künftige Geſtaltung Deutſchlands verhan-
delt wurde. Die Ermordung des ruſſiſchen Kaiſers änderte in dieſen
Verhältniſſen nichts. Sein Nachfolger Alexander fand es vortheil-
hafter mit den Franzoſen als gegen ſie zu gehen. Jn den geheimen
Artikeln vom 11 October 1801 kamen das St. Petersburger und das
franzöſiſche Cabinet über eine gemeinſame Vermittelung in Betreff Deutſch-
lands überein. Am 18 Aug. 1802 überreichten die Geſandten von Frankreich
und Rußland der Reichsdeputation einen Plan welchen beide Mächte
zur neuen Territorialeintheilung Deutſchlands verfaßt hatten, und ſetz-
ten zugleich zwei Monate Friſt zur Beendigung der Verhandlungen
darüber. Der Plan ward angenommen, und die erſte Folge davon
daß Rußland mit Deutſchland einen Principienkampf gegen Frank-
reich begonnen hatte, war: daß die drei geiſtlichen Kurfürſtenthümer
Mainz, Trier und Köln aufgehoben wurden, daß ſämmtliche noch
beſtehende Bisthümer und Abteien, ſämmtliche unmittelbare kleine
Grafen und Ritter, ſämmtliche freie Reichsſtädte bis auf ſechs ihrer
Unabhängigkeit beraubt wurden; daß der Großherzog von Toscana
Salzburg, der Herzog von Modena das Breisgau erhielt. Die erſte
Folge wenn Rußland mit Deutſchland kämpft, wird Vernichtung der
kleineren Staaten ſeyn: zu Gunſten nicht der deutſchen Freiheit, ſon-
dern fremder Herrſcher und abſolutiſtiſcher Gewalt.

Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutſchen Ca-
binetten überhört. Als Oeſterreich von neuem gegen Napoleon auf-
trat, erhob ſich mit ihm nicht auch das übrige Deutſchland. Unſere
Fürſten achteten eine ſchimpfliche Neutralität oder eine noch ſchimpf-
lichere Gebietsvergrößerung höher als die gemeinſame Nationalität.
Am Tage der Dreikaiſerſchlacht (2 Dec. 1805) ſtand kein preußiſches
Heer neben dem öſterreichiſchen, ſondern ein ruſſiſches. Der geſchla-
gene Lothringer fand in dem mitgeſchlagenen Romanow mindeſtens
keine kräftige Hülfe: die ruſſiſchen Officiere ſprachen von Deutſchland
als von dem verächtlichſten Theile der Erde; dem gewiß nicht über-
patriotiſchen Gentz drehten ſich ſeine „deutſchen“ Eingeweide um, wenn
er die Oeſterreicher von den Ruſſen mit Füßen getreten ſah, und hörte
wie ſich der Großfürſt Conſtantin gegen die Oeſterreicher benommen,
und das Ende des ruſſiſch-deutſchen Bündniſſes warder Preßburger Friede
(21 Dec. 1805). In ihm verlor Oeſterreich an 1000 Quadratmeilen
Gebiet, drei Millionen Seelen und fünfzehn Millionen Gulden Ein-
künfte. Schwächung der einen deutſchen Großmacht ohne unmittelba-
ren Vortheil für Rußland war die zweite Folge des ruſſiſch-deutſchen
Kampfes gegen Frankreich.

Wir ſollten noch eine dritte erleben.

Am Grabe Friedrichs des Großen hatten Preußens König und
Rußlands Zaar ſich ewige Freundſchaft gelobt. Die perſönliche Ver-
bindung zwiſchen den beiden Herrſchern, die gleiche Furcht beider vor Napo-
leon ſchien das Bündniß unter ihnen gegen den Franzoſenkaiſer un-
auflöslich zu machen. Nach der Schlacht von Friedland beſaß Alexan-
der noch immer Mittel übergenug, um gegen die Franzoſen einen
langen Krieg zu Gunſten Preußens zu führen, aber ſie anzuwenden
ſah er ſich nicht gemüßigt. Im Frieden von Tilſit (7 und 9 Julius
1807) verlor Preußen die Hälfte ſeiner Länder; Rußland gewann den
bisher preußiſchen Diſtrict von Bialyflock (206 Quadratmeilen groß)
und ein geheimer Artikel ſetzte feſt daß wenn die Pforte, auf deren Län-
der Rußland längſt ein lüſternes Auge geworfen hatte, die Vermitte-
lung Napoleons in ihrem Kriege mit dem Zaar nicht annehmen wolle,
alsdann Frankreich und Rußland gemeinſchaftlich ſie bekriegen und
ihr alle europäiſchen Beſitzungen außer Rumelien und Konſtantinopel
entziehen ſollten. Die dritte Folge des deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes
war daß die zweite deutſche Großmacht zum unmittelbaren Vortheil
Rußlands geſchwächt ward, daß Rußland Ausſichten gewann auf die
Donaufürſtenthümer, dieſes für uns ſo wichtige Gebiet, und daß Ruß-
land und Frankreich fortan in ein Bündniß mit einander traten.

Wenn die Freundſchaft Rußlands uns dem Verderben nahe ge-
bracht hatte, ſo drohte ſeine Feindſchaft uns vollends in dasſelbe hin-
einzuſtoßen. Ungeachtet der Friede von Tilſit vorgeſchrieben hatte, die
ruſſiſchen Truppen ſollten ſich aus der Moldau und Walachei zurück-
ziehen, verbleiben ſie dennoch mit Bewilligung Frankreichs in dieſen
Ländern bis zum Congreß von Erfurt. Auf dem willigte Napoleon
(12 October 1808) in die Vereinigung der Moldau und Walachei mit
dem ruſſiſchen Reich ein: letztere wurde bald darauf vollzogen, dadurch
[Spaltenumbruch] unſerm deutſchen Südoſten ſeine Schlagader unterbunden, und eine
neue Vergrößerung des Zaarenreichs unmittelbar auf deutſche Koſten,
fand 14 October 1809 ſtatt. Im Wiener Frieden trat Oeſterreich an
das mit Frankreich verbundene Rußland einen Theil von Oſtgalizien,
400,000 Einwohner ſtark, ab. Das Bündniß Frankreichs mit Ruß-
land noch einige Jahre, und Deutſchland war ein antiquirter Begriff,
eine hiſtoriſche Reminiscenz. Vor ſolchem Unglück rettete uns nun
zwar die napoleoniſche Eroberungsſucht; aber ehe wir gerettet waren,
ſollten wir neue Beweiſe der ruſſiſchen Geſinnungen für Deutſchland
erhalten.

Um gegen Frankreich ſtark zu ſeyn, ſchloß Rußland 24 März 1812
einen Offenſiv- und Defenſivvertrag mit Schweden, in deſſen drittem
Artikel feſtgeſetzt wurde: Schweden erhält Norwegen, welches Däne-
mark ihm abtreten muß; thut Dänemark das freiwillig, fo ſoll es da-
für in Deutſchland entſchädigt werden. Im vierten Artikel ließ ſich
Alexander von Schweden die Vorrückung der Gränzen Rußlands bis
an die Weichſel zuerkennen. Im Januar 1813 ſtanden die Ruſſen
in unſerm Vaterland: in ihren Proclamationen war alles Liebe für
Deutſchland, Haß gegen Frankreich. Man vernahm: „das ruſſiſche
Volk bietet den Deutſchen zu ihrer Befreiung die Hand,“ „das Vor-
dringen der ruſſiſchen Heere iſt durch einen über jede Selbſtſucht erha-
benen Zweck geleitet.“ Daß bald darauf in dem gewonnenen Sachſen
ein ruſſiſcher Generalgouverneur abſolut herrſchte, die Officiere vom
Hauptmann abwärts ernannte, während nach ſeinen Vorſchlägen der
ruſſiſche Kaiſer die Stabsofficiere wählte, wurde im Drang der Be-
gebenheiten weniger bemerkt. Klarer dagegen konnte man über Ruß-
lands letztes Wollen bei den ſpätern Verhandlungen der europäiſchen
Mächte ſehen.

Zur erſten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am
30 Mai den erſten Pariſer Frieden herbeiführten, machte Alexander
daß Lothringen und Elſaß franzöſiſch bleiben ſollten. Auf dem Wie-
ner Congreß verlangte Rußland für ſich ganz Polen und behauptete:
„dieſe Forderung ſey eine moraliſche Pflicht für das Zaaren-
reich; ſie ſey nothwendig zur Verbeſſerung der Verwaltung der polni-
ſchen Unterthanen Sr. kaiſerlichen Majeſtät und für die Einwohner des
Herzogthums Warſchau, welche ihm gegenwärtig Kraft der militäri-
ſchen Occupation des Herzogthums gleichfalls unterthan wären“ —
ein Fingerzeig, was etwa jetzt, da der Gedanke des Panſlavismus er-
wacht iſt, unter Umſtänden von Rußland für eine moraliſche Pflicht
angeſehen werden möchte. Nur mit Mühe brachten es die widerſtre-
benden Mächte dahin daß Alexander ſich mit dem jetzigen Königreich
Polen begnügte, welches zum guten Theil aus preußiſchen, d. h. deut-
ſchen Abtretungen im Tilſiter Frieden beſtand. Als darauf Lud-
wig XVIII zum zweitenmal in Frankreich durch Hülfe weſentlich deut-
ſcher Heere eingeſetzt war, ließ ſich Alexander von dem neuen König
verſprechen daß er Rußlands Plane auf Polen und den Orient un-
terſtützen wolle, und daß der zweite Pariſer Friede (20 Nov. 1815)
für uns Deutſche nicht günſtiger ausfiel, daran trägt außer England
vor allem Rußland die Schuld.

In den dreiundzwanzig Jahren 1792—1815 hat uns Rußland als
unſer principieller Bundesgenoſſe gegen Frankreich mehr geſchadet denn
als offener Bundesgenoſſe Frankreichs gegen uns. Was es uns in
den weiteren dreiunddreißig Jahren 1815—1848, gleichfalls als prin-
cipieller Bundesgenoſſe gegen Frankreich für Verderben gebracht, theils
geiſtiges, theils materielles, davon weiß jedes Kind in Deutſchland zu
reden, das bezeugen die Donaumündungen vernehmlich genug. Nicht
in der Perſönlichkeit eines einzelnen ruſſiſchen Kaiſers liegt das Ge-
fährliche des Zaarenreichs für uns, ſondern in der Richtung der ruſ-
ſiſchen Politik wie ſie durch die Eigenthümlichkeit des Staats gegeben
iſt. Die principielle Abneigung Pauls gegen Frankreich endete mit
einem Einverſtändniß Frankreichs und Rußlands gegen uns; die prin-
cipielle Abneigung Alexanders gegen Napoleon endete mit einer Ueber-
einkunft beider Kaiſer, die jenem den Oſten, dieſem den Weſten Eu-
ropa’s in die Hände liefern ſollte; die principielle Abneigung des Kai-
ſers Nicolaus gegen das conſtitutionelle Frankreich endete damit daß
kurz vor der Julirevolution 1830 der Zaar und Karl X ſich dahin
verabredeten, jener ſolle ſich im Oſten unſers Welttheils ausdehnen,
dieſer das linke Rheinufer erobern; Spuren davon daß die princi-
pielle Abneigung desſelben Nicolaus gegen Ludwig Philipp im Lauf
der Zeit ſich verlor, waren in den letzten Monaten in dem Geldan-
lehen Rußlands deutlich zu erblicken; wenn die geheime Geſchichte des

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[1277/0013] Beziehungen friedlicher Art zwiſchen unſerem öſtlichen und unſerem weſt- lichen Nachbarn an. Paul trat in einen vertraulichen Briefwechſel mit Bonaparte, in dem über die künftige Geſtaltung Deutſchlands verhan- delt wurde. Die Ermordung des ruſſiſchen Kaiſers änderte in dieſen Verhältniſſen nichts. Sein Nachfolger Alexander fand es vortheil- hafter mit den Franzoſen als gegen ſie zu gehen. Jn den geheimen Artikeln vom 11 October 1801 kamen das St. Petersburger und das franzöſiſche Cabinet über eine gemeinſame Vermittelung in Betreff Deutſch- lands überein. Am 18 Aug. 1802 überreichten die Geſandten von Frankreich und Rußland der Reichsdeputation einen Plan welchen beide Mächte zur neuen Territorialeintheilung Deutſchlands verfaßt hatten, und ſetz- ten zugleich zwei Monate Friſt zur Beendigung der Verhandlungen darüber. Der Plan ward angenommen, und die erſte Folge davon daß Rußland mit Deutſchland einen Principienkampf gegen Frank- reich begonnen hatte, war: daß die drei geiſtlichen Kurfürſtenthümer Mainz, Trier und Köln aufgehoben wurden, daß ſämmtliche noch beſtehende Bisthümer und Abteien, ſämmtliche unmittelbare kleine Grafen und Ritter, ſämmtliche freie Reichsſtädte bis auf ſechs ihrer Unabhängigkeit beraubt wurden; daß der Großherzog von Toscana Salzburg, der Herzog von Modena das Breisgau erhielt. Die erſte Folge wenn Rußland mit Deutſchland kämpft, wird Vernichtung der kleineren Staaten ſeyn: zu Gunſten nicht der deutſchen Freiheit, ſon- dern fremder Herrſcher und abſolutiſtiſcher Gewalt. Die lautklopfende Warnung von 1802 wurde in den deutſchen Ca- binetten überhört. Als Oeſterreich von neuem gegen Napoleon auf- trat, erhob ſich mit ihm nicht auch das übrige Deutſchland. Unſere Fürſten achteten eine ſchimpfliche Neutralität oder eine noch ſchimpf- lichere Gebietsvergrößerung höher als die gemeinſame Nationalität. Am Tage der Dreikaiſerſchlacht (2 Dec. 1805) ſtand kein preußiſches Heer neben dem öſterreichiſchen, ſondern ein ruſſiſches. Der geſchla- gene Lothringer fand in dem mitgeſchlagenen Romanow mindeſtens keine kräftige Hülfe: die ruſſiſchen Officiere ſprachen von Deutſchland als von dem verächtlichſten Theile der Erde; dem gewiß nicht über- patriotiſchen Gentz drehten ſich ſeine „deutſchen“ Eingeweide um, wenn er die Oeſterreicher von den Ruſſen mit Füßen getreten ſah, und hörte wie ſich der Großfürſt Conſtantin gegen die Oeſterreicher benommen, und das Ende des ruſſiſch-deutſchen Bündniſſes warder Preßburger Friede (21 Dec. 1805). In ihm verlor Oeſterreich an 1000 Quadratmeilen Gebiet, drei Millionen Seelen und fünfzehn Millionen Gulden Ein- künfte. Schwächung der einen deutſchen Großmacht ohne unmittelba- ren Vortheil für Rußland war die zweite Folge des ruſſiſch-deutſchen Kampfes gegen Frankreich. Wir ſollten noch eine dritte erleben. Am Grabe Friedrichs des Großen hatten Preußens König und Rußlands Zaar ſich ewige Freundſchaft gelobt. Die perſönliche Ver- bindung zwiſchen den beiden Herrſchern, die gleiche Furcht beider vor Napo- leon ſchien das Bündniß unter ihnen gegen den Franzoſenkaiſer un- auflöslich zu machen. Nach der Schlacht von Friedland beſaß Alexan- der noch immer Mittel übergenug, um gegen die Franzoſen einen langen Krieg zu Gunſten Preußens zu führen, aber ſie anzuwenden ſah er ſich nicht gemüßigt. Im Frieden von Tilſit (7 und 9 Julius 1807) verlor Preußen die Hälfte ſeiner Länder; Rußland gewann den bisher preußiſchen Diſtrict von Bialyflock (206 Quadratmeilen groß) und ein geheimer Artikel ſetzte feſt daß wenn die Pforte, auf deren Län- der Rußland längſt ein lüſternes Auge geworfen hatte, die Vermitte- lung Napoleons in ihrem Kriege mit dem Zaar nicht annehmen wolle, alsdann Frankreich und Rußland gemeinſchaftlich ſie bekriegen und ihr alle europäiſchen Beſitzungen außer Rumelien und Konſtantinopel entziehen ſollten. Die dritte Folge des deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes war daß die zweite deutſche Großmacht zum unmittelbaren Vortheil Rußlands geſchwächt ward, daß Rußland Ausſichten gewann auf die Donaufürſtenthümer, dieſes für uns ſo wichtige Gebiet, und daß Ruß- land und Frankreich fortan in ein Bündniß mit einander traten. Wenn die Freundſchaft Rußlands uns dem Verderben nahe ge- bracht hatte, ſo drohte ſeine Feindſchaft uns vollends in dasſelbe hin- einzuſtoßen. Ungeachtet der Friede von Tilſit vorgeſchrieben hatte, die ruſſiſchen Truppen ſollten ſich aus der Moldau und Walachei zurück- ziehen, verbleiben ſie dennoch mit Bewilligung Frankreichs in dieſen Ländern bis zum Congreß von Erfurt. Auf dem willigte Napoleon (12 October 1808) in die Vereinigung der Moldau und Walachei mit dem ruſſiſchen Reich ein: letztere wurde bald darauf vollzogen, dadurch unſerm deutſchen Südoſten ſeine Schlagader unterbunden, und eine neue Vergrößerung des Zaarenreichs unmittelbar auf deutſche Koſten, fand 14 October 1809 ſtatt. Im Wiener Frieden trat Oeſterreich an das mit Frankreich verbundene Rußland einen Theil von Oſtgalizien, 400,000 Einwohner ſtark, ab. Das Bündniß Frankreichs mit Ruß- land noch einige Jahre, und Deutſchland war ein antiquirter Begriff, eine hiſtoriſche Reminiscenz. Vor ſolchem Unglück rettete uns nun zwar die napoleoniſche Eroberungsſucht; aber ehe wir gerettet waren, ſollten wir neue Beweiſe der ruſſiſchen Geſinnungen für Deutſchland erhalten. Um gegen Frankreich ſtark zu ſeyn, ſchloß Rußland 24 März 1812 einen Offenſiv- und Defenſivvertrag mit Schweden, in deſſen drittem Artikel feſtgeſetzt wurde: Schweden erhält Norwegen, welches Däne- mark ihm abtreten muß; thut Dänemark das freiwillig, fo ſoll es da- für in Deutſchland entſchädigt werden. Im vierten Artikel ließ ſich Alexander von Schweden die Vorrückung der Gränzen Rußlands bis an die Weichſel zuerkennen. Im Januar 1813 ſtanden die Ruſſen in unſerm Vaterland: in ihren Proclamationen war alles Liebe für Deutſchland, Haß gegen Frankreich. Man vernahm: „das ruſſiſche Volk bietet den Deutſchen zu ihrer Befreiung die Hand,“ „das Vor- dringen der ruſſiſchen Heere iſt durch einen über jede Selbſtſucht erha- benen Zweck geleitet.“ Daß bald darauf in dem gewonnenen Sachſen ein ruſſiſcher Generalgouverneur abſolut herrſchte, die Officiere vom Hauptmann abwärts ernannte, während nach ſeinen Vorſchlägen der ruſſiſche Kaiſer die Stabsofficiere wählte, wurde im Drang der Be- gebenheiten weniger bemerkt. Klarer dagegen konnte man über Ruß- lands letztes Wollen bei den ſpätern Verhandlungen der europäiſchen Mächte ſehen. Zur erſten Bedingung derjenigen Unterhandlungen welche am 30 Mai den erſten Pariſer Frieden herbeiführten, machte Alexander daß Lothringen und Elſaß franzöſiſch bleiben ſollten. Auf dem Wie- ner Congreß verlangte Rußland für ſich ganz Polen und behauptete: „dieſe Forderung ſey eine moraliſche Pflicht für das Zaaren- reich; ſie ſey nothwendig zur Verbeſſerung der Verwaltung der polni- ſchen Unterthanen Sr. kaiſerlichen Majeſtät und für die Einwohner des Herzogthums Warſchau, welche ihm gegenwärtig Kraft der militäri- ſchen Occupation des Herzogthums gleichfalls unterthan wären“ — ein Fingerzeig, was etwa jetzt, da der Gedanke des Panſlavismus er- wacht iſt, unter Umſtänden von Rußland für eine moraliſche Pflicht angeſehen werden möchte. Nur mit Mühe brachten es die widerſtre- benden Mächte dahin daß Alexander ſich mit dem jetzigen Königreich Polen begnügte, welches zum guten Theil aus preußiſchen, d. h. deut- ſchen Abtretungen im Tilſiter Frieden beſtand. Als darauf Lud- wig XVIII zum zweitenmal in Frankreich durch Hülfe weſentlich deut- ſcher Heere eingeſetzt war, ließ ſich Alexander von dem neuen König verſprechen daß er Rußlands Plane auf Polen und den Orient un- terſtützen wolle, und daß der zweite Pariſer Friede (20 Nov. 1815) für uns Deutſche nicht günſtiger ausfiel, daran trägt außer England vor allem Rußland die Schuld. In den dreiundzwanzig Jahren 1792—1815 hat uns Rußland als unſer principieller Bundesgenoſſe gegen Frankreich mehr geſchadet denn als offener Bundesgenoſſe Frankreichs gegen uns. Was es uns in den weiteren dreiunddreißig Jahren 1815—1848, gleichfalls als prin- cipieller Bundesgenoſſe gegen Frankreich für Verderben gebracht, theils geiſtiges, theils materielles, davon weiß jedes Kind in Deutſchland zu reden, das bezeugen die Donaumündungen vernehmlich genug. Nicht in der Perſönlichkeit eines einzelnen ruſſiſchen Kaiſers liegt das Ge- fährliche des Zaarenreichs für uns, ſondern in der Richtung der ruſ- ſiſchen Politik wie ſie durch die Eigenthümlichkeit des Staats gegeben iſt. Die principielle Abneigung Pauls gegen Frankreich endete mit einem Einverſtändniß Frankreichs und Rußlands gegen uns; die prin- cipielle Abneigung Alexanders gegen Napoleon endete mit einer Ueber- einkunft beider Kaiſer, die jenem den Oſten, dieſem den Weſten Eu- ropa’s in die Hände liefern ſollte; die principielle Abneigung des Kai- ſers Nicolaus gegen das conſtitutionelle Frankreich endete damit daß kurz vor der Julirevolution 1830 der Zaar und Karl X ſich dahin verabredeten, jener ſolle ſich im Oſten unſers Welttheils ausdehnen, dieſer das linke Rheinufer erobern; Spuren davon daß die princi- pielle Abneigung desſelben Nicolaus gegen Ludwig Philipp im Lauf der Zeit ſich verlor, waren in den letzten Monaten in dem Geldan- lehen Rußlands deutlich zu erblicken; wenn die geheime Geſchichte des

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 80, 20. März 1848, S. 1277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine80_1848/13>, abgerufen am 14.06.2024.