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Allgemeine Zeitung, Nr. 85, 28. März 1900.

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erste Seite
Nr. 85.
Morgenblatt.
103. Jahrgang. München, Mittwoch, 28. März 1900.


[Spaltenumbruch]

Wöchentlich
12 Ausgaben.
Bezugspreise:
Durch die Postämter:
jährlich M. 36. --,
ohne Beil. M. 18. --
(viertelj. M. 9. --,
ohne Beil. M. 4.50);
in München b. d. Ex-
pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. --,
ohne Beil. M. 1.20.
Zustellg. mtl. 50 Pf.
Direkter Bezug für
Deutschl. u. Oesterreich
monatlich M. 4. --,
ohne Beil. M. 3. --,
Ausland M. 5.60,
ohne Beil. M. 4.40.

[Spaltenumbruch]
Allgemeine Zeitung.
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Insertionspreis
für die kleinspaltige
Kolonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kaufsanzeig. 20 Pf.;
Stellengesuche 15 Pf.



Redaktion und Expe-
dition befinden sich
Schwanthalerstr. 36
in München.


Berichte sind an die
Redaktion, Inserat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zusenden.



[Spaltenumbruch]

Abonnements für Berlin nimmt unsere dortige Filiale in der Leipzigerstraße 11 entgegen.
Abonnements für das Ausland
nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klincksieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien,
Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Serbien die dortigen Postämter; für den Orient
das k. k. Postamt in Wien oder Triest; für Nordamerika F. W. Christern, E. Steiger u. Co., Gust.
E. Stechert, Westermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.

[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch]

Inseratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerstraße 36, in Berlin in unserer Filiale,
Leipzigerstraße 11,
ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig. Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Pest, London, Zürich, Basel etc. bei den Annoncenbureaux R. Mosse, Haasenste in u. Vogler. G. L.
Daube u. Co.
In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidenbank zu Berlin, Dresden, Leipzig. Chemnitz etc.
Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenstraße 26) und S. Kornik (Kochstraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31bi&sr Faubourg Montmartre in Paris.

Verantwortlich für den politischen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menst, für den Handelstheil Ernst Barth, sämmtlich in München.
Druck und Verlag der Gesellschaft mit beschränkter Haftung "Verlag der Allgemeinen Zeitung"
in München.


[Spaltenumbruch]
Deutscher Reichstag.
177. Sitzung.

Tel. Bei der heute be-
gonnenen dritten Lesung des Etats, der die wichtige
Sitzung der Budgetkommission mit den als ver-
traulich zu behandelnden Erklärungen von Bülow und
Tirpitz vorausgegangen war, war es begreiflich,
daß eine eigentliche Generaldebatte gar nicht beliebt
wurde. In der Einzelberathung war es zunächst der
von der Freisinnigen Volkspartei gestellte Diäten-
antrag,
der eine längere Debatte hervorrief. Selbst-
verständlich wurde dabei von freisinniger Seite das
bestehende Wahlrecht als ein Rührmichnichtan bezeichnet;
namens der Nationalliberalen schloß sich Bassermann
dieser letzteren Voraussetzung der Einführung von Diäten
oder, wie er mit Gröber (Centr.) vorschlug, Anwesen-
heitsgeldern, durchaus an; seine Parteifreunde, so meinte
er, seien immer mehr zu der Ansicht gekommen, daß die
Diätengewährung eine zeitgemäße Maßregel sei. Hr.
v. Kardorff versicherte, daß sich im Gegensatz zu früher
heute auch ein Theil der Reichspartei für Diäten inter-
essire; die Partei werde indessen, weil sie die Einbringung
bei der dritten Lesung des Etats nicht für recht halte
und wegen der Kürze der Zeit auch keinen Fraktions-
beschluß habe fassen können, nicht für den Antrag
stimmen, sondern sich der Abstimmung enthalten. So
geschah es denn, daß nur die Deutschkonservativen und
Fürst Bismarck gegen den Antrag stimmten. Beim Etat
des Reichskanzlers spielte sich der erheiternde Vorgang
ab, daß Abg. Richter (Freis. Volksp.) als Mandatar
einer invaliden Reinemachefrau auftrat, die unter drei
Reichskanzlern im Palais Radziwill gewirkt habe; er
glaubte die Wichtigkeit seiner Mission am besten dadurch
zu illustriren, daß er an eine Reinemachefrau erinnerte,
der im Fall Arnim eine gewisse Rolle zugefallen sei. Der
Etat des Auswärtigen Amts wurde in wenigen Minuten
erledigt; es kam nur zu einer Anfrage wegen der gesetz-
lichen Regelung des Pfandrechts an fremden Schiffen, auf die
der Direktor der handelspolitischen Abtheilung, v. Körner,
Antwort ertheilte. Dagegen wurde beim Etat des Innern
eine große Anzahl Fragen aufgeworfen. Prinz Carolath
(Hosp. der Nationalliberalen) brachte die Rede von neuem
auf das Frauenstudium, Rosenow (Soz.) auf die Woh-
nungsverhältnisse; ziemlich unmotivirt erschien das Zurück-
kommen des Freisinnigen Eickhoff auf die einem thüringi-
schen Industrie-Verein gewährte Unterstützung aus Reichs-
mitteln. Recht lebhaft wurde das Wortgefecht, als Arendt
(Reichsp.) gegen die von dem Sozialisten Thiele in zweiter
Lesung gegen Beamte der Mansfeld'schen Gewerkschaft
erhobenen Anklagen auf Grund aktenmäßigen Materials
Verwahrung einlegte; er geißelte die von den Sozialdemo-
kraten auch diesmal befolgte Methode, ungeprüfte Aus-
sagen zur Basis leichtfertiger Beschuldigungen zu machen
und Außenstehende von der Tribüne des Reichstags
aus anzuschwärzen. Hr. Singer nahm seine Partei
gegen diesen Vorwurf mit dem Brustton der Ent-
rüstung, der ihm für solche Fälle zu Gebote zu stehen
pflegt, in Schutz, und Bebel kam ihm zuhülfe, als
[Spaltenumbruch] Paasche (nat.-lib.) sich an die Seite Arendts stellte.
Fürst zu Inn- und Knyphausen (Hospitant der
Konserv.) empfahl in einem Beschlußantrage, mit den
Nordsee-Uferstaaten in Verhandlungen zum Schutz der
Hochseefischerei, namentlich zur Innehaltung von Schon-
zeiten, einzutreten, zog aber seinen Antrag zurück, als der
Staatssekretär des Innern, Graf Posadowsky, eine
entgegenkommende Erklärung abgab. Auch den Abg.
Rembold (Centr.), der die Sperrmaßregeln gegen die
Maul- und Klauenseuche zu revidiren beantragt, ver-
sicherte der Staatssekretär der Fürsorge der Regierung
für diese Angelegenheit. Morgen wird die Berathung
fortgesetzt.



Ausführlicher telegraphischer Bericht.

Das Haus tritt in die dritte
Etatsberathung.

Abg. Frhr. v. Schele (Welfe) verlangt Fürsorge für
die Steinarbeiter, deren Durchschnittsalter 34 Jahre beträgt.
Die Mehrzahl stirbt an Tuberkulose und Blutsturz.

Beim Etat des Reichstags wird vom Abg. Barg-
mann
(Frs. Vp.) der Antrag auf Diäten und Ersatz der
Reisekosten erneuert und vom

Abg. Fischbeck (Frs. Vp.) nachdrücklich unterstützt unter
Hinweis auf die Lage der Geschäfte in dieser Session, in der
die Freunde der lex Heinze im entscheidenden Moment nicht
zur Stelle waren, die wichtige Abstimmung über das Münz-
gesetz ausgesetzt und die Novelle zur Gewerbeordnung zurück-
gehalten werden mußte wegen chronischer Beschlußunfähigkeit.
Früher dauerte die Session zwei bis drei, jetzt fünf bis sechs
Monate; wer kann sich auf so lange Zeit von seinen Geschäften
trennen? Ohne Diäten bleibt der Mittelstand, namentlich der
bänerliche, vom Reichstag ausgeschlossen. Aber die Kartell-
parteien, die die Legislaturperioden ohne Bedenken ver-
längerten, haben Bedenken, die Verfassung bezüglich der Diäten
zu ändern.

Die Abgg. Gröber (Centr.) und Bassermann (nat.-
lib.) beantragen, statt Diäten zu sagen: Anwesenheitsgelder.
Wie Bassermann ausführt, sind Präsenzgelder für die, die
anwesend sind und solange sie anwesend sind, gemeint.

Abg. Gröber zieht ebenfalls die Präsenzgelder den vom
ersten bis letzten Tag der Session ohne Kontrole der wirk-
lichen Anwesenheit zu zahlenden Diäten vor. Kommissions-
mitglieder werden für ihre Mehrarbeit noch besonders be-
straft, da sie nicht nachhause reisen können, wenn das Plenum
feiert, und man kann dem ewig zögernden Bundesrath mit
gutem Recht zurufen: tua res agitur!

Abg. Singer (Soz.) will die letzten Vorgänge im Reichs-
tage für den Antrag nicht gelten lassen. Auch das preußische
Abgeordnetenhaus sei oft nicht beschlußfähig, obgleich es Diäten
beziehe. Diese seien jedenfalls nothwendig, die Eisenbahn-
freikarten dürften aber nicht fortfallen, sondern müßten auf
das ganze Reich und die ganze Session ausgedehnt werden.

"Diäten unter Beschneidung des Wahlrechts acceptiren wir
nicht".

Abg. Graefe (Deutsch-soz. Reformp.) bedauert, daß die
Diätenlosigkeit den gesammten produktiven Mittelstand in
Stadt und Land vom Reichstag ausschließt.

[Spaltenumbruch]

Abg. v. Kardorff (Reichsp.):

Bisher haben wir stets
gegen Diäten gestimmt, heute aber interessirt sich ein Theil
meiner Fraktion für Diäten. (Hört! hört! links.) Wir werden
uns der Abstimmung enthalten. Für ausgedehnte Gültigkeit
der Fahrkarten bin ich stets eingetreten.

Abg. Rickert (Freis. Vgg.) ist für den Antrag und
hofft, daß auch die Konservativen sich ihm anschließen werden.

Abg. Richter (Frs. Vp.):

Bismarck hat sich schon beim
Frankfurter Fürstentage 1865 engagirt für das deutsche Wahl-
gesetz des Frankfurter Parlaments von 1848; die Diätenfrage
war für ihn eine offne. Auf die lex Heinze bei dieser Ge-
legenheit Bezug zu nehmen, hat keinen Werth. Uns kommt
es darauf an, die Sache überhaupt in Fluß zu bringen.
Wenn Sie nicht Diäten, sondern Anwesenheitsgelder ge-
währen, dann können die Reisekosten daneben nicht ohne
weiteres bestehen bleiben. Bei Anwesenheitsgeldern liegt die
Hauptschwierigkeit in der Feststellung der Präsenz, aber wir
stimmen auch für diese Modifizirung.

Abg. Bassermann will mit seinen Freunden durch den
Antrag das bestehende Wahlrecht nicht modifiziren.

Der Antrag Gröber-Bassermann wird angenommen
und mit dieser Aenderung der Antrag Bargmann gegen die
Stimmen der anwesenden Deutschkonservativen und des Fürsten
Bismarck (wild); die Mitglieder der Reichspartei haben den
Saal verlassen.

Der Etat des Reichstags wird bewilligt. Beim Etat
des Reichskanzlers und der Reichskanzlei bringt

Abg. Richter zur Sprache, daß eine Frau, die bei drei
Reichskanzlern als Reinmachefrau beschäftigt war (Heiterkeit),
jetzt als invalid geworden keine Unterstützung erhält. Die
Reinmachefrauen bei den anderen Reichsämtern würden mehr
berücksichtigt als die beim Reichskanzler und in der Reichs-
kanzlei, so diejenige beim Auswärtigen Amt, und die Frauen
meinen, ob Reichskanzler oder Auswärtiges Amt, es sei doch
alles Deutsches Reich. (Große Heiterkeit.) Welche politische
Bedeutung solche Reinmachefrau erlangen könne, beweise die
Rolle, welche die Reinmachefrau in der deutschen Botschaft in
Paris s. Z. gespielt haben soll. (Stürmische Heiterkeit.) Redner
hofft, daß diese Andeutungen genügen, um die Frau, deren
Papiere er nachher dem Reichskanzler überreichen werde, dem
Wohlwollen desselben zu empfehlen.

Der Etat für den Reichskanzler und die Reichskanzlei
wird bewilligt. Beim Etat des Auswärtigen Amts regt

Abg. Bassermann abermals die Frage der gesetzlichen
Regelung des Pfandrechts an fremden Schiffen an. Das
deutsche Schiffspfandrecht müsse bei der holländischen Re-
gierung zur Anerkennung gebracht werden.

Direktor im Auswärtigen Amt Dr. v. Körner:

Wir
haben von der holländischen Regierung noch keine Antwort
erhalten und werden der Anregung weitere Folge geben.

Der Etat für das Auswärtige Amt und die Etats der
Schutzgebiete werden genehmigt. Zum Etat des Reichs-
amts des Innern liegen Anträge vom Fürsten Inn- und
Knyphausen
(Hospitant der Kons.) auf Hebung der Hoch-
seefischerei und von Rembold (Centr.) auf Revision der
Sperrmaßregeln aus Anlaß der Maul- und Klauenseuche vor.

Abg. Prinz Schönaich-Carolath (Hospitant der Nat.-
Lib.) kommt auf die Frage des Frauenstudiums zurück. Fast
alle Schülerinnen, die aus Gymnasialkursen kommen, hätten

[Spaltenumbruch]
Das Postfräulein.
Hochlandsroman von Arthur Achleitner.

(2)

(Nachdruck verboten.)

Kastl schreitet neben dem Knecht die Bergstraße hinan
und lehnt dankend die Einladung ab, weil das Pferd ohne-
hin froh sein werde, wenn es den leeren Marterkasten
hinauf bringt.

"Sie, sind S' so gut und verschimpfiren Sie mir das
Wagel nicht! Mit dem sind schon ganz andre Leut gefahren
als wie Sie junger Grashupfer!"

Kastl bringt den Knecht durch die Frage, was es im
Dorfe Neues gebe, bald zum Erzählen. Viel ist nicht pas-
sirt, die letzte Lahn (Lawine) hat zwei Holzer mitgerissen,
der Schlößlherr ist noch mehr Sonderling geworden und
geht gar nimmer aus seinem Bau heraus, die uralte
Huberbäuerin, gewiß an die neunzig Jahre alt, ist ge-
storben ...

In Kastl regt sich der junge "Heilgott", und hastig
fragt er: "Was hat denn der Huberbäuerin gefehlt?"

Trocken antwortet der Knecht: "Die G'sundheit!"

Kastl beißt sich auf die Lippen und stapft verdrossen
weiter.

Der Knecht aber setzt die Aufzählung der dörflichen
Neuigkeiten fort und versichert, das Allerneueste sei, daß
beim Karlwirth seit einigen Tagen Innsbrucker Bier ver-
zapft werde, weil die Bauern den Jenbacher "Plempel"
nimmer mögen, und daß wahrscheinlich morgen dem Ober-
hummer sein ältester Bub als "Dokter" heimkommen
werde.

Humorvoll sagt Kastl: "Der Oberhummer Bub kommt
morgen nicht!"

"So? Warum denn nicht?" fragt neugierig der
Knecht.

"Weil er heut schon gekommen ischt."

Jetzt betrachtet sich Sepp den jungen Mann genauer,
er mustert ihn von Fuß bis zum Kopf und platzt dann
heraus: "Ah so wohl! Freilich ischt er schon da, du bischt er
ja selber, 'm Oberhummer sein ältester Bub! Ganz sakrisch
hast dich ' rausg'wachsen, Kastl! Bischt ein Prachtbub
worden!" Wohlgefällig betrachtet der biderbe Knecht den
[Spaltenumbruch] jungen Mann, den das vertrauliche Duzen nicht wenig
ärgert, und gutmüthig fragt Sepp weiter: "Was willst
denn nun anfangen, Oberhummer Bub, he? Es heißt, du
bischt ein Dokter worden. Willst wohl jetzt die Leut kuri-
ren? Ischt recht! Der alte Dokter versteht so zu wenig und
gibt allweil die gleichen Trankeln, die so bitter zu nehmen
sind. Ischt recht! Ich halt zu dir! Wenn ich einmal
wieder nicht recht beinander bin, kannst an mir rum-
doktern, so viel du willst. Ich halt schon was aus, mich
bringt nicht leicht was um. Meine Kundschaft ischt dir
sicher, aber verlangen darfst halt nix, im Gegentheil: wenn
d' mir zehn Gulden zahlst, kannst mir einen Finger weg-
schneiden und wieder hinflicken, daß er wieder anwachst!"

Kastl hat genug von solchem Gespräch, er bleibt zu-
rück und hält sich im Walde auf, der sich bis nahe an das
Seeufer hinzieht. Eigentlich ist der junge Doktor sehr ärger-
lich, daß seine neue Würde von diesen Bergmenschen so gar
nicht beachtet wird. Aber ist es diesen Naturkindern denn
zu verargen? Woher sollen sie denn wissen, welche Summe
von Weisheit nöthig ist, um den Doktorhut zu erreichen?
Während Kastl solchen Gedanken nachhängt, ist Lina die
Bergstraße heraufgekommen, mit geröthetem Gesicht und
lebhaftem Athem. Ein Ausweichen auf einen Seitenpfad
ist nicht mehr möglich. Kastl hört die nahekommenden
Schritte, blickt auf und grüßt. Eine einsam wandernde
Dame hier oben am Berg, wer mag das sein? Lina hat
höflich gedankt und beeilt sich, weiter zu kommen. Als
echter Gebirgler vermag Kastl die Neugierde nicht zu unter-
drücken, es juckt ihn, nach Landessitte die üblichen Fragen
nach Herkunft und Wegziel zu stellen, und bevor er sich
zu erinnern vermag, daß solch aufdringliche Neugier in
der Stadt verpönt ist, plappert der Mund schon: "Grüß
Gott, Fräulein! Auch unterwegs? Kommen gewiß auch
von der Bahn und wollen ins Seedorf? Was? Da haben
wir ja den gleichen Weg. Mit Verlaub gehe ich mit. Ich
bin nämlich aus dem Seedorf, habe die Ehre, mich vorzu-
stellen: Doktor Oberhummer." Den Hut lüftend, ist Kastl
an des Fräulein Seite getreten. Lina lächelt und erwidert
schlicht: "Ich bin das neue Postfräulein und will heute
noch meinen Posten in Seedorf antreten."

Kastl guckt erstaunt; die Institution von weiblichen
[Spaltenumbruch] Postbeamten ist ihm neu. Unwillkürlich sagt er: "Was
Sie sagen! Also Postfräulein gibt es jetzt! Was man alles
erlebt, wenn man lange von Hause weg ischt! Da ischt ja
die alte Unterbäuerin nicht mehr im Dienst als Postexpe-
ditorin?"

"Gerade diese muß ich ablösen. In der Direktion ischt
man der Meinung, daß taube und halbblinde Leute nicht
tauglich seien für den Postdienst."

"Ganz richtig. Also ein Fräulein kriegen wir jetzt ins
Postamt! Das ist recht! Da werden die Leute gewiß lieber
Briefe schreiben!" Kastl beißt sich auf die Lippen: die
Schmeichelei ist doch gar zu plump ausgefallen! Die Dorf-
bauern um den See herum schreiben ja überhaupt nichts,
weil diese Kunst den meisten fremd ist.

Langsam zieht das Paar die Hochstraße hinauf, bis
endlich die Höhe erreicht ist und die Seefläche entgegen-
blaut.

"Wie schön!" ruft entzückt Lina aus und Kastl be-
stätigt, daß seine Heimath ein herrliches Stück Land sei,
das nach langer Zeit wiederzusehen eine wahre Herzens-
freude sei.

"Da waren Herr Doktor wohl in der Hauptstadt zum
Studium?"

"Freilich! Habe meinen Medizindoktor gemacht und
will jetzt daheim die Praxis beginnen. Wissen Sie, Fräu-
lein, für Bauernarbeit war ich zu dumm!"

Lina kichert vergnügt: "So, was Sie sagen!"

"Das heißt, mein alter Herr war dieser Meinung, und
deßhalb hab ich studiren müssen. Ich bin recht froh darum."

Ich glaub' es. Das Leben im Berg hat seine Schat-
tenseiten."

"Haben Sie denn schon Erfahrungen darin?"

"Persönlich noch nicht! Aber was man so von Kol-
leginnen hört, klingt nicht besonders ermuthigend. Doch
Pflichttreue und Liebe zum Dienst wird schon über die
erste und ärgste Zeit hinweghelfen."

"Gewiß, Fräulein! Wenn ich Ihnen irgendwie dienen
und behülflich sein kann, stehe ich gerne zu Diensten."

"Danke sehr! Ich hoffe aber, mich schon selbst hinein-
zufinden."

Das klang ziemlich ernüchternd, und da das Paar

Nr. 85.
Morgenblatt.
103. Jahrgang. München, Mittwoch, 28. März 1900.


[Spaltenumbruch]

Wöchentlich
12 Ausgaben.
Bezugspreiſe:
Durch die Poſtämter:
jährlich M. 36. —,
ohne Beil. M. 18. —
(viertelj. M. 9. —,
ohne Beil. M. 4.50);
in München b. d. Ex-
pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. —,
ohne Beil. M. 1.20.
Zuſtellg. mtl. 50 Pf.
Direkter Bezug für
Deutſchl. u. Oeſterreich
monatlich M. 4. —,
ohne Beil. M. 3. —,
Ausland M. 5.60,
ohne Beil. M. 4.40.

[Spaltenumbruch]
Allgemeine Zeitung.
[Spaltenumbruch]

Inſertionspreis
für die kleinſpaltige
Kolonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kaufsanzeig. 20 Pf.;
Stellengeſuche 15 Pf.



Redaktion und Expe-
dition befinden ſich
Schwanthalerſtr. 36
in München.


Berichte ſind an die
Redaktion, Inſerat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zuſenden.



[Spaltenumbruch]

Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen.
Abonnements für das Ausland
nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien,
Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Serbien die dortigen Poſtämter; für den Orient
das k. k. Poſtamt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt.
E. Stechert, Weſtermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.

[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch]

Inſeratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerſtraße 36, in Berlin in unſerer Filiale,
Leipzigerſtraße 11,
ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig. Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Peſt, London, Zürich, Baſel ꝛc. bei den Annoncenbureaux R. Moſſe, Haaſenſte in u. Vogler. G. L.
Daube u. Co.
In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidenbank zu Berlin, Dresden, Leipzig. Chemnitz ꝛc.
Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtraße 26) und S. Kornik (Kochſtraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31bi&ſr Faubourg Montmartre in Paris.

Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſt, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München.
Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“
in München.


[Spaltenumbruch]
Deutſcher Reichstag.
177. Sitzung.

Tel. Bei der heute be-
gonnenen dritten Leſung des Etats, der die wichtige
Sitzung der Budgetkommiſſion mit den als ver-
traulich zu behandelnden Erklärungen von Bülow und
Tirpitz vorausgegangen war, war es begreiflich,
daß eine eigentliche Generaldebatte gar nicht beliebt
wurde. In der Einzelberathung war es zunächſt der
von der Freiſinnigen Volkspartei geſtellte Diäten-
antrag,
der eine längere Debatte hervorrief. Selbſt-
verſtändlich wurde dabei von freiſinniger Seite das
beſtehende Wahlrecht als ein Rührmichnichtan bezeichnet;
namens der Nationalliberalen ſchloß ſich Baſſermann
dieſer letzteren Vorausſetzung der Einführung von Diäten
oder, wie er mit Gröber (Centr.) vorſchlug, Anweſen-
heitsgeldern, durchaus an; ſeine Parteifreunde, ſo meinte
er, ſeien immer mehr zu der Anſicht gekommen, daß die
Diätengewährung eine zeitgemäße Maßregel ſei. Hr.
v. Kardorff verſicherte, daß ſich im Gegenſatz zu früher
heute auch ein Theil der Reichspartei für Diäten inter-
eſſire; die Partei werde indeſſen, weil ſie die Einbringung
bei der dritten Leſung des Etats nicht für recht halte
und wegen der Kürze der Zeit auch keinen Fraktions-
beſchluß habe faſſen können, nicht für den Antrag
ſtimmen, ſondern ſich der Abſtimmung enthalten. So
geſchah es denn, daß nur die Deutſchkonſervativen und
Fürſt Bismarck gegen den Antrag ſtimmten. Beim Etat
des Reichskanzlers ſpielte ſich der erheiternde Vorgang
ab, daß Abg. Richter (Freiſ. Volksp.) als Mandatar
einer invaliden Reinemachefrau auftrat, die unter drei
Reichskanzlern im Palais Radziwill gewirkt habe; er
glaubte die Wichtigkeit ſeiner Miſſion am beſten dadurch
zu illuſtriren, daß er an eine Reinemachefrau erinnerte,
der im Fall Arnim eine gewiſſe Rolle zugefallen ſei. Der
Etat des Auswärtigen Amts wurde in wenigen Minuten
erledigt; es kam nur zu einer Anfrage wegen der geſetz-
lichen Regelung des Pfandrechts an fremden Schiffen, auf die
der Direktor der handelspolitiſchen Abtheilung, v. Körner,
Antwort ertheilte. Dagegen wurde beim Etat des Innern
eine große Anzahl Fragen aufgeworfen. Prinz Carolath
(Hoſp. der Nationalliberalen) brachte die Rede von neuem
auf das Frauenſtudium, Roſenow (Soz.) auf die Woh-
nungsverhältniſſe; ziemlich unmotivirt erſchien das Zurück-
kommen des Freiſinnigen Eickhoff auf die einem thüringi-
ſchen Induſtrie-Verein gewährte Unterſtützung aus Reichs-
mitteln. Recht lebhaft wurde das Wortgefecht, als Arendt
(Reichsp.) gegen die von dem Sozialiſten Thiele in zweiter
Leſung gegen Beamte der Mansfeld’ſchen Gewerkſchaft
erhobenen Anklagen auf Grund aktenmäßigen Materials
Verwahrung einlegte; er geißelte die von den Sozialdemo-
kraten auch diesmal befolgte Methode, ungeprüfte Aus-
ſagen zur Baſis leichtfertiger Beſchuldigungen zu machen
und Außenſtehende von der Tribüne des Reichstags
aus anzuſchwärzen. Hr. Singer nahm ſeine Partei
gegen dieſen Vorwurf mit dem Bruſtton der Ent-
rüſtung, der ihm für ſolche Fälle zu Gebote zu ſtehen
pflegt, in Schutz, und Bebel kam ihm zuhülfe, als
[Spaltenumbruch] Paaſche (nat.-lib.) ſich an die Seite Arendts ſtellte.
Fürſt zu Inn- und Knyphauſen (Hoſpitant der
Konſerv.) empfahl in einem Beſchlußantrage, mit den
Nordſee-Uferſtaaten in Verhandlungen zum Schutz der
Hochſeefiſcherei, namentlich zur Innehaltung von Schon-
zeiten, einzutreten, zog aber ſeinen Antrag zurück, als der
Staatsſekretär des Innern, Graf Poſadowsky, eine
entgegenkommende Erklärung abgab. Auch den Abg.
Rembold (Centr.), der die Sperrmaßregeln gegen die
Maul- und Klauenſeuche zu revidiren beantragt, ver-
ſicherte der Staatsſekretär der Fürſorge der Regierung
für dieſe Angelegenheit. Morgen wird die Berathung
fortgeſetzt.



Ausführlicher telegraphiſcher Bericht.

Das Haus tritt in die dritte
Etatsberathung.

Abg. Frhr. v. Schele (Welfe) verlangt Fürſorge für
die Steinarbeiter, deren Durchſchnittsalter 34 Jahre beträgt.
Die Mehrzahl ſtirbt an Tuberkuloſe und Blutſturz.

Beim Etat des Reichstags wird vom Abg. Barg-
mann
(Frſ. Vp.) der Antrag auf Diäten und Erſatz der
Reiſekoſten erneuert und vom

Abg. Fiſchbeck (Frſ. Vp.) nachdrücklich unterſtützt unter
Hinweis auf die Lage der Geſchäfte in dieſer Seſſion, in der
die Freunde der lex Heinze im entſcheidenden Moment nicht
zur Stelle waren, die wichtige Abſtimmung über das Münz-
geſetz ausgeſetzt und die Novelle zur Gewerbeordnung zurück-
gehalten werden mußte wegen chroniſcher Beſchlußunfähigkeit.
Früher dauerte die Seſſion zwei bis drei, jetzt fünf bis ſechs
Monate; wer kann ſich auf ſo lange Zeit von ſeinen Geſchäften
trennen? Ohne Diäten bleibt der Mittelſtand, namentlich der
bänerliche, vom Reichstag ausgeſchloſſen. Aber die Kartell-
parteien, die die Legislaturperioden ohne Bedenken ver-
längerten, haben Bedenken, die Verfaſſung bezüglich der Diäten
zu ändern.

Die Abgg. Gröber (Centr.) und Baſſermann (nat.-
lib.) beantragen, ſtatt Diäten zu ſagen: Anweſenheitsgelder.
Wie Baſſermann ausführt, ſind Präſenzgelder für die, die
anweſend ſind und ſolange ſie anweſend ſind, gemeint.

Abg. Gröber zieht ebenfalls die Präſenzgelder den vom
erſten bis letzten Tag der Seſſion ohne Kontrole der wirk-
lichen Anweſenheit zu zahlenden Diäten vor. Kommiſſions-
mitglieder werden für ihre Mehrarbeit noch beſonders be-
ſtraft, da ſie nicht nachhauſe reiſen können, wenn das Plenum
feiert, und man kann dem ewig zögernden Bundesrath mit
gutem Recht zurufen: tua res agitur!

Abg. Singer (Soz.) will die letzten Vorgänge im Reichs-
tage für den Antrag nicht gelten laſſen. Auch das preußiſche
Abgeordnetenhaus ſei oft nicht beſchlußfähig, obgleich es Diäten
beziehe. Dieſe ſeien jedenfalls nothwendig, die Eiſenbahn-
freikarten dürften aber nicht fortfallen, ſondern müßten auf
das ganze Reich und die ganze Seſſion ausgedehnt werden.

„Diäten unter Beſchneidung des Wahlrechts acceptiren wir
nicht“.

Abg. Graefe (Deutſch-ſoz. Reformp.) bedauert, daß die
Diätenloſigkeit den geſammten produktiven Mittelſtand in
Stadt und Land vom Reichstag ausſchließt.

[Spaltenumbruch]

Abg. v. Kardorff (Reichsp.):

Bisher haben wir ſtets
gegen Diäten geſtimmt, heute aber intereſſirt ſich ein Theil
meiner Fraktion für Diäten. (Hört! hört! links.) Wir werden
uns der Abſtimmung enthalten. Für ausgedehnte Gültigkeit
der Fahrkarten bin ich ſtets eingetreten.

Abg. Rickert (Freiſ. Vgg.) iſt für den Antrag und
hofft, daß auch die Konſervativen ſich ihm anſchließen werden.

Abg. Richter (Frſ. Vp.):

Bismarck hat ſich ſchon beim
Frankfurter Fürſtentage 1865 engagirt für das deutſche Wahl-
geſetz des Frankfurter Parlaments von 1848; die Diätenfrage
war für ihn eine offne. Auf die lex Heinze bei dieſer Ge-
legenheit Bezug zu nehmen, hat keinen Werth. Uns kommt
es darauf an, die Sache überhaupt in Fluß zu bringen.
Wenn Sie nicht Diäten, ſondern Anweſenheitsgelder ge-
währen, dann können die Reiſekoſten daneben nicht ohne
weiteres beſtehen bleiben. Bei Anweſenheitsgeldern liegt die
Hauptſchwierigkeit in der Feſtſtellung der Präſenz, aber wir
ſtimmen auch für dieſe Modifizirung.

Abg. Baſſermann will mit ſeinen Freunden durch den
Antrag das beſtehende Wahlrecht nicht modifiziren.

Der Antrag Gröber-Baſſermann wird angenommen
und mit dieſer Aenderung der Antrag Bargmann gegen die
Stimmen der anweſenden Deutſchkonſervativen und des Fürſten
Bismarck (wild); die Mitglieder der Reichspartei haben den
Saal verlaſſen.

Der Etat des Reichstags wird bewilligt. Beim Etat
des Reichskanzlers und der Reichskanzlei bringt

Abg. Richter zur Sprache, daß eine Frau, die bei drei
Reichskanzlern als Reinmachefrau beſchäftigt war (Heiterkeit),
jetzt als invalid geworden keine Unterſtützung erhält. Die
Reinmachefrauen bei den anderen Reichsämtern würden mehr
berückſichtigt als die beim Reichskanzler und in der Reichs-
kanzlei, ſo diejenige beim Auswärtigen Amt, und die Frauen
meinen, ob Reichskanzler oder Auswärtiges Amt, es ſei doch
alles Deutſches Reich. (Große Heiterkeit.) Welche politiſche
Bedeutung ſolche Reinmachefrau erlangen könne, beweiſe die
Rolle, welche die Reinmachefrau in der deutſchen Botſchaft in
Paris ſ. Z. geſpielt haben ſoll. (Stürmiſche Heiterkeit.) Redner
hofft, daß dieſe Andeutungen genügen, um die Frau, deren
Papiere er nachher dem Reichskanzler überreichen werde, dem
Wohlwollen desſelben zu empfehlen.

Der Etat für den Reichskanzler und die Reichskanzlei
wird bewilligt. Beim Etat des Auswärtigen Amts regt

Abg. Baſſermann abermals die Frage der geſetzlichen
Regelung des Pfandrechts an fremden Schiffen an. Das
deutſche Schiffspfandrecht müſſe bei der holländiſchen Re-
gierung zur Anerkennung gebracht werden.

Direktor im Auswärtigen Amt Dr. v. Körner:

Wir
haben von der holländiſchen Regierung noch keine Antwort
erhalten und werden der Anregung weitere Folge geben.

Der Etat für das Auswärtige Amt und die Etats der
Schutzgebiete werden genehmigt. Zum Etat des Reichs-
amts des Innern liegen Anträge vom Fürſten Inn- und
Knyphauſen
(Hoſpitant der Konſ.) auf Hebung der Hoch-
ſeefiſcherei und von Rembold (Centr.) auf Reviſion der
Sperrmaßregeln aus Anlaß der Maul- und Klauenſeuche vor.

Abg. Prinz Schönaich-Carolath (Hoſpitant der Nat.-
Lib.) kommt auf die Frage des Frauenſtudiums zurück. Faſt
alle Schülerinnen, die aus Gymnaſialkurſen kommen, hätten

[Spaltenumbruch]
Das Poſtfräulein.
Hochlandsroman von Arthur Achleitner.

(2)

(Nachdruck verboten.)

Kaſtl ſchreitet neben dem Knecht die Bergſtraße hinan
und lehnt dankend die Einladung ab, weil das Pferd ohne-
hin froh ſein werde, wenn es den leeren Marterkaſten
hinauf bringt.

„Sie, ſind S’ ſo gut und verſchimpfiren Sie mir das
Wagel nicht! Mit dem ſind ſchon ganz andre Leut gefahren
als wie Sie junger Grashupfer!“

Kaſtl bringt den Knecht durch die Frage, was es im
Dorfe Neues gebe, bald zum Erzählen. Viel iſt nicht paſ-
ſirt, die letzte Lahn (Lawine) hat zwei Holzer mitgeriſſen,
der Schlößlherr iſt noch mehr Sonderling geworden und
geht gar nimmer aus ſeinem Bau heraus, die uralte
Huberbäuerin, gewiß an die neunzig Jahre alt, iſt ge-
ſtorben …

In Kaſtl regt ſich der junge „Heilgott“, und haſtig
fragt er: „Was hat denn der Huberbäuerin gefehlt?“

Trocken antwortet der Knecht: „Die G’ſundheit!“

Kaſtl beißt ſich auf die Lippen und ſtapft verdroſſen
weiter.

Der Knecht aber ſetzt die Aufzählung der dörflichen
Neuigkeiten fort und verſichert, das Allerneueſte ſei, daß
beim Karlwirth ſeit einigen Tagen Innsbrucker Bier ver-
zapft werde, weil die Bauern den Jenbacher „Plempel“
nimmer mögen, und daß wahrſcheinlich morgen dem Ober-
hummer ſein älteſter Bub als „Dokter“ heimkommen
werde.

Humorvoll ſagt Kaſtl: „Der Oberhummer Bub kommt
morgen nicht!“

„So? Warum denn nicht?“ fragt neugierig der
Knecht.

„Weil er heut ſchon gekommen iſcht.“

Jetzt betrachtet ſich Sepp den jungen Mann genauer,
er muſtert ihn von Fuß bis zum Kopf und platzt dann
heraus: „Ah ſo wohl! Freilich iſcht er ſchon da, du biſcht er
ja ſelber, ’m Oberhummer ſein älteſter Bub! Ganz ſakriſch
haſt dich ’ rausg’wachſen, Kaſtl! Biſcht ein Prachtbub
worden!“ Wohlgefällig betrachtet der biderbe Knecht den
[Spaltenumbruch] jungen Mann, den das vertrauliche Duzen nicht wenig
ärgert, und gutmüthig fragt Sepp weiter: „Was willſt
denn nun anfangen, Oberhummer Bub, he? Es heißt, du
biſcht ein Dokter worden. Willſt wohl jetzt die Leut kuri-
ren? Iſcht recht! Der alte Dokter verſteht ſo zu wenig und
gibt allweil die gleichen Trankeln, die ſo bitter zu nehmen
ſind. Iſcht recht! Ich halt zu dir! Wenn ich einmal
wieder nicht recht beinander bin, kannſt an mir rum-
doktern, ſo viel du willſt. Ich halt ſchon was aus, mich
bringt nicht leicht was um. Meine Kundſchaft iſcht dir
ſicher, aber verlangen darfſt halt nix, im Gegentheil: wenn
d’ mir zehn Gulden zahlſt, kannſt mir einen Finger weg-
ſchneiden und wieder hinflicken, daß er wieder anwachſt!“

Kaſtl hat genug von ſolchem Geſpräch, er bleibt zu-
rück und hält ſich im Walde auf, der ſich bis nahe an das
Seeufer hinzieht. Eigentlich iſt der junge Doktor ſehr ärger-
lich, daß ſeine neue Würde von dieſen Bergmenſchen ſo gar
nicht beachtet wird. Aber iſt es dieſen Naturkindern denn
zu verargen? Woher ſollen ſie denn wiſſen, welche Summe
von Weisheit nöthig iſt, um den Doktorhut zu erreichen?
Während Kaſtl ſolchen Gedanken nachhängt, iſt Lina die
Bergſtraße heraufgekommen, mit geröthetem Geſicht und
lebhaftem Athem. Ein Ausweichen auf einen Seitenpfad
iſt nicht mehr möglich. Kaſtl hört die nahekommenden
Schritte, blickt auf und grüßt. Eine einſam wandernde
Dame hier oben am Berg, wer mag das ſein? Lina hat
höflich gedankt und beeilt ſich, weiter zu kommen. Als
echter Gebirgler vermag Kaſtl die Neugierde nicht zu unter-
drücken, es juckt ihn, nach Landesſitte die üblichen Fragen
nach Herkunft und Wegziel zu ſtellen, und bevor er ſich
zu erinnern vermag, daß ſolch aufdringliche Neugier in
der Stadt verpönt iſt, plappert der Mund ſchon: „Grüß
Gott, Fräulein! Auch unterwegs? Kommen gewiß auch
von der Bahn und wollen ins Seedorf? Was? Da haben
wir ja den gleichen Weg. Mit Verlaub gehe ich mit. Ich
bin nämlich aus dem Seedorf, habe die Ehre, mich vorzu-
ſtellen: Doktor Oberhummer.“ Den Hut lüftend, iſt Kaſtl
an des Fräulein Seite getreten. Lina lächelt und erwidert
ſchlicht: „Ich bin das neue Poſtfräulein und will heute
noch meinen Poſten in Seedorf antreten.“

Kaſtl guckt erſtaunt; die Inſtitution von weiblichen
[Spaltenumbruch] Poſtbeamten iſt ihm neu. Unwillkürlich ſagt er: „Was
Sie ſagen! Alſo Poſtfräulein gibt es jetzt! Was man alles
erlebt, wenn man lange von Hauſe weg iſcht! Da iſcht ja
die alte Unterbäuerin nicht mehr im Dienſt als Poſtexpe-
ditorin?“

„Gerade dieſe muß ich ablöſen. In der Direktion iſcht
man der Meinung, daß taube und halbblinde Leute nicht
tauglich ſeien für den Poſtdienſt.“

„Ganz richtig. Alſo ein Fräulein kriegen wir jetzt ins
Poſtamt! Das iſt recht! Da werden die Leute gewiß lieber
Briefe ſchreiben!“ Kaſtl beißt ſich auf die Lippen: die
Schmeichelei iſt doch gar zu plump ausgefallen! Die Dorf-
bauern um den See herum ſchreiben ja überhaupt nichts,
weil dieſe Kunſt den meiſten fremd iſt.

Langſam zieht das Paar die Hochſtraße hinauf, bis
endlich die Höhe erreicht iſt und die Seefläche entgegen-
blaut.

„Wie ſchön!“ ruft entzückt Lina aus und Kaſtl be-
ſtätigt, daß ſeine Heimath ein herrliches Stück Land ſei,
das nach langer Zeit wiederzuſehen eine wahre Herzens-
freude ſei.

„Da waren Herr Doktor wohl in der Hauptſtadt zum
Studium?“

„Freilich! Habe meinen Medizindoktor gemacht und
will jetzt daheim die Praxis beginnen. Wiſſen Sie, Fräu-
lein, für Bauernarbeit war ich zu dumm!“

Lina kichert vergnügt: „So, was Sie ſagen!“

„Das heißt, mein alter Herr war dieſer Meinung, und
deßhalb hab ich ſtudiren müſſen. Ich bin recht froh darum.“

Ich glaub’ es. Das Leben im Berg hat ſeine Schat-
tenſeiten.“

„Haben Sie denn ſchon Erfahrungen darin?“

„Perſönlich noch nicht! Aber was man ſo von Kol-
leginnen hört, klingt nicht beſonders ermuthigend. Doch
Pflichttreue und Liebe zum Dienſt wird ſchon über die
erſte und ärgſte Zeit hinweghelfen.“

„Gewiß, Fräulein! Wenn ich Ihnen irgendwie dienen
und behülflich ſein kann, ſtehe ich gerne zu Dienſten.“

„Danke ſehr! Ich hoffe aber, mich ſchon ſelbſt hinein-
zufinden.“

Das klang ziemlich ernüchternd, und da das Paar

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Frankfurter Für&#x017F;tentage 1865 engagirt für das deut&#x017F;che Wahl-<lb/>
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[0001] Nr. 85. Morgenblatt. 103. Jahrgang. München, Mittwoch, 28. März 1900. Wöchentlich 12 Ausgaben. Bezugspreiſe: Durch die Poſtämter: jährlich M. 36. —, ohne Beil. M. 18. — (viertelj. M. 9. —, ohne Beil. M. 4.50); in München b. d. Ex- pedition od. d. Depots monatlich M. 2. —, ohne Beil. M. 1.20. Zuſtellg. mtl. 50 Pf. Direkter Bezug für Deutſchl. u. Oeſterreich monatlich M. 4. —, ohne Beil. M. 3. —, Ausland M. 5.60, ohne Beil. M. 4.40. Allgemeine Zeitung. Inſertionspreis für die kleinſpaltige Kolonelzeile od. deren Raum 25 Pfennig; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; lokale Ver- kaufsanzeig. 20 Pf.; Stellengeſuche 15 Pf. Redaktion und Expe- dition befinden ſich Schwanthalerſtr. 36 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko ein- zuſenden. Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. 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Co., 31bi&ſr Faubourg Montmartre in Paris. Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſt, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München. Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ in München. Deutſcher Reichstag. 177. Sitzung. = Berlin, 27. März. Tel. Bei der heute be- gonnenen dritten Leſung des Etats, der die wichtige Sitzung der Budgetkommiſſion mit den als ver- traulich zu behandelnden Erklärungen von Bülow und Tirpitz vorausgegangen war, war es begreiflich, daß eine eigentliche Generaldebatte gar nicht beliebt wurde. In der Einzelberathung war es zunächſt der von der Freiſinnigen Volkspartei geſtellte Diäten- antrag, der eine längere Debatte hervorrief. Selbſt- verſtändlich wurde dabei von freiſinniger Seite das beſtehende Wahlrecht als ein Rührmichnichtan bezeichnet; namens der Nationalliberalen ſchloß ſich Baſſermann dieſer letzteren Vorausſetzung der Einführung von Diäten oder, wie er mit Gröber (Centr.) vorſchlug, Anweſen- heitsgeldern, durchaus an; ſeine Parteifreunde, ſo meinte er, ſeien immer mehr zu der Anſicht gekommen, daß die Diätengewährung eine zeitgemäße Maßregel ſei. Hr. v. Kardorff verſicherte, daß ſich im Gegenſatz zu früher heute auch ein Theil der Reichspartei für Diäten inter- eſſire; die Partei werde indeſſen, weil ſie die Einbringung bei der dritten Leſung des Etats nicht für recht halte und wegen der Kürze der Zeit auch keinen Fraktions- beſchluß habe faſſen können, nicht für den Antrag ſtimmen, ſondern ſich der Abſtimmung enthalten. So geſchah es denn, daß nur die Deutſchkonſervativen und Fürſt Bismarck gegen den Antrag ſtimmten. Beim Etat des Reichskanzlers ſpielte ſich der erheiternde Vorgang ab, daß Abg. Richter (Freiſ. Volksp.) als Mandatar einer invaliden Reinemachefrau auftrat, die unter drei Reichskanzlern im Palais Radziwill gewirkt habe; er glaubte die Wichtigkeit ſeiner Miſſion am beſten dadurch zu illuſtriren, daß er an eine Reinemachefrau erinnerte, der im Fall Arnim eine gewiſſe Rolle zugefallen ſei. Der Etat des Auswärtigen Amts wurde in wenigen Minuten erledigt; es kam nur zu einer Anfrage wegen der geſetz- lichen Regelung des Pfandrechts an fremden Schiffen, auf die der Direktor der handelspolitiſchen Abtheilung, v. Körner, Antwort ertheilte. Dagegen wurde beim Etat des Innern eine große Anzahl Fragen aufgeworfen. Prinz Carolath (Hoſp. der Nationalliberalen) brachte die Rede von neuem auf das Frauenſtudium, Roſenow (Soz.) auf die Woh- nungsverhältniſſe; ziemlich unmotivirt erſchien das Zurück- kommen des Freiſinnigen Eickhoff auf die einem thüringi- ſchen Induſtrie-Verein gewährte Unterſtützung aus Reichs- mitteln. Recht lebhaft wurde das Wortgefecht, als Arendt (Reichsp.) gegen die von dem Sozialiſten Thiele in zweiter Leſung gegen Beamte der Mansfeld’ſchen Gewerkſchaft erhobenen Anklagen auf Grund aktenmäßigen Materials Verwahrung einlegte; er geißelte die von den Sozialdemo- kraten auch diesmal befolgte Methode, ungeprüfte Aus- ſagen zur Baſis leichtfertiger Beſchuldigungen zu machen und Außenſtehende von der Tribüne des Reichstags aus anzuſchwärzen. Hr. Singer nahm ſeine Partei gegen dieſen Vorwurf mit dem Bruſtton der Ent- rüſtung, der ihm für ſolche Fälle zu Gebote zu ſtehen pflegt, in Schutz, und Bebel kam ihm zuhülfe, als Paaſche (nat.-lib.) ſich an die Seite Arendts ſtellte. Fürſt zu Inn- und Knyphauſen (Hoſpitant der Konſerv.) empfahl in einem Beſchlußantrage, mit den Nordſee-Uferſtaaten in Verhandlungen zum Schutz der Hochſeefiſcherei, namentlich zur Innehaltung von Schon- zeiten, einzutreten, zog aber ſeinen Antrag zurück, als der Staatsſekretär des Innern, Graf Poſadowsky, eine entgegenkommende Erklärung abgab. Auch den Abg. Rembold (Centr.), der die Sperrmaßregeln gegen die Maul- und Klauenſeuche zu revidiren beantragt, ver- ſicherte der Staatsſekretär der Fürſorge der Regierung für dieſe Angelegenheit. Morgen wird die Berathung fortgeſetzt. Ausführlicher telegraphiſcher Bericht. ⦻ Berlin, 27. März. Das Haus tritt in die dritte Etatsberathung. Abg. Frhr. v. Schele (Welfe) verlangt Fürſorge für die Steinarbeiter, deren Durchſchnittsalter 34 Jahre beträgt. Die Mehrzahl ſtirbt an Tuberkuloſe und Blutſturz. Beim Etat des Reichstags wird vom Abg. Barg- mann (Frſ. Vp.) der Antrag auf Diäten und Erſatz der Reiſekoſten erneuert und vom Abg. Fiſchbeck (Frſ. Vp.) nachdrücklich unterſtützt unter Hinweis auf die Lage der Geſchäfte in dieſer Seſſion, in der die Freunde der lex Heinze im entſcheidenden Moment nicht zur Stelle waren, die wichtige Abſtimmung über das Münz- geſetz ausgeſetzt und die Novelle zur Gewerbeordnung zurück- gehalten werden mußte wegen chroniſcher Beſchlußunfähigkeit. Früher dauerte die Seſſion zwei bis drei, jetzt fünf bis ſechs Monate; wer kann ſich auf ſo lange Zeit von ſeinen Geſchäften trennen? Ohne Diäten bleibt der Mittelſtand, namentlich der bänerliche, vom Reichstag ausgeſchloſſen. Aber die Kartell- parteien, die die Legislaturperioden ohne Bedenken ver- längerten, haben Bedenken, die Verfaſſung bezüglich der Diäten zu ändern. Die Abgg. Gröber (Centr.) und Baſſermann (nat.- lib.) beantragen, ſtatt Diäten zu ſagen: Anweſenheitsgelder. Wie Baſſermann ausführt, ſind Präſenzgelder für die, die anweſend ſind und ſolange ſie anweſend ſind, gemeint. Abg. Gröber zieht ebenfalls die Präſenzgelder den vom erſten bis letzten Tag der Seſſion ohne Kontrole der wirk- lichen Anweſenheit zu zahlenden Diäten vor. Kommiſſions- mitglieder werden für ihre Mehrarbeit noch beſonders be- ſtraft, da ſie nicht nachhauſe reiſen können, wenn das Plenum feiert, und man kann dem ewig zögernden Bundesrath mit gutem Recht zurufen: tua res agitur! Abg. Singer (Soz.) will die letzten Vorgänge im Reichs- tage für den Antrag nicht gelten laſſen. Auch das preußiſche Abgeordnetenhaus ſei oft nicht beſchlußfähig, obgleich es Diäten beziehe. Dieſe ſeien jedenfalls nothwendig, die Eiſenbahn- freikarten dürften aber nicht fortfallen, ſondern müßten auf das ganze Reich und die ganze Seſſion ausgedehnt werden. „Diäten unter Beſchneidung des Wahlrechts acceptiren wir nicht“. Abg. Graefe (Deutſch-ſoz. Reformp.) bedauert, daß die Diätenloſigkeit den geſammten produktiven Mittelſtand in Stadt und Land vom Reichstag ausſchließt. Abg. v. Kardorff (Reichsp.): Bisher haben wir ſtets gegen Diäten geſtimmt, heute aber intereſſirt ſich ein Theil meiner Fraktion für Diäten. (Hört! hört! links.) Wir werden uns der Abſtimmung enthalten. Für ausgedehnte Gültigkeit der Fahrkarten bin ich ſtets eingetreten. Abg. Rickert (Freiſ. Vgg.) iſt für den Antrag und hofft, daß auch die Konſervativen ſich ihm anſchließen werden. Abg. Richter (Frſ. Vp.): Bismarck hat ſich ſchon beim Frankfurter Fürſtentage 1865 engagirt für das deutſche Wahl- geſetz des Frankfurter Parlaments von 1848; die Diätenfrage war für ihn eine offne. Auf die lex Heinze bei dieſer Ge- legenheit Bezug zu nehmen, hat keinen Werth. Uns kommt es darauf an, die Sache überhaupt in Fluß zu bringen. Wenn Sie nicht Diäten, ſondern Anweſenheitsgelder ge- währen, dann können die Reiſekoſten daneben nicht ohne weiteres beſtehen bleiben. Bei Anweſenheitsgeldern liegt die Hauptſchwierigkeit in der Feſtſtellung der Präſenz, aber wir ſtimmen auch für dieſe Modifizirung. Abg. Baſſermann will mit ſeinen Freunden durch den Antrag das beſtehende Wahlrecht nicht modifiziren. Der Antrag Gröber-Baſſermann wird angenommen und mit dieſer Aenderung der Antrag Bargmann gegen die Stimmen der anweſenden Deutſchkonſervativen und des Fürſten Bismarck (wild); die Mitglieder der Reichspartei haben den Saal verlaſſen. Der Etat des Reichstags wird bewilligt. Beim Etat des Reichskanzlers und der Reichskanzlei bringt Abg. Richter zur Sprache, daß eine Frau, die bei drei Reichskanzlern als Reinmachefrau beſchäftigt war (Heiterkeit), jetzt als invalid geworden keine Unterſtützung erhält. Die Reinmachefrauen bei den anderen Reichsämtern würden mehr berückſichtigt als die beim Reichskanzler und in der Reichs- kanzlei, ſo diejenige beim Auswärtigen Amt, und die Frauen meinen, ob Reichskanzler oder Auswärtiges Amt, es ſei doch alles Deutſches Reich. (Große Heiterkeit.) Welche politiſche Bedeutung ſolche Reinmachefrau erlangen könne, beweiſe die Rolle, welche die Reinmachefrau in der deutſchen Botſchaft in Paris ſ. Z. geſpielt haben ſoll. (Stürmiſche Heiterkeit.) Redner hofft, daß dieſe Andeutungen genügen, um die Frau, deren Papiere er nachher dem Reichskanzler überreichen werde, dem Wohlwollen desſelben zu empfehlen. Der Etat für den Reichskanzler und die Reichskanzlei wird bewilligt. Beim Etat des Auswärtigen Amts regt Abg. Baſſermann abermals die Frage der geſetzlichen Regelung des Pfandrechts an fremden Schiffen an. Das deutſche Schiffspfandrecht müſſe bei der holländiſchen Re- gierung zur Anerkennung gebracht werden. Direktor im Auswärtigen Amt Dr. v. Körner: Wir haben von der holländiſchen Regierung noch keine Antwort erhalten und werden der Anregung weitere Folge geben. Der Etat für das Auswärtige Amt und die Etats der Schutzgebiete werden genehmigt. Zum Etat des Reichs- amts des Innern liegen Anträge vom Fürſten Inn- und Knyphauſen (Hoſpitant der Konſ.) auf Hebung der Hoch- ſeefiſcherei und von Rembold (Centr.) auf Reviſion der Sperrmaßregeln aus Anlaß der Maul- und Klauenſeuche vor. Abg. Prinz Schönaich-Carolath (Hoſpitant der Nat.- Lib.) kommt auf die Frage des Frauenſtudiums zurück. Faſt alle Schülerinnen, die aus Gymnaſialkurſen kommen, hätten Das Poſtfräulein. Hochlandsroman von Arthur Achleitner. (2) (Nachdruck verboten.) Kaſtl ſchreitet neben dem Knecht die Bergſtraße hinan und lehnt dankend die Einladung ab, weil das Pferd ohne- hin froh ſein werde, wenn es den leeren Marterkaſten hinauf bringt. „Sie, ſind S’ ſo gut und verſchimpfiren Sie mir das Wagel nicht! Mit dem ſind ſchon ganz andre Leut gefahren als wie Sie junger Grashupfer!“ Kaſtl bringt den Knecht durch die Frage, was es im Dorfe Neues gebe, bald zum Erzählen. Viel iſt nicht paſ- ſirt, die letzte Lahn (Lawine) hat zwei Holzer mitgeriſſen, der Schlößlherr iſt noch mehr Sonderling geworden und geht gar nimmer aus ſeinem Bau heraus, die uralte Huberbäuerin, gewiß an die neunzig Jahre alt, iſt ge- ſtorben … In Kaſtl regt ſich der junge „Heilgott“, und haſtig fragt er: „Was hat denn der Huberbäuerin gefehlt?“ Trocken antwortet der Knecht: „Die G’ſundheit!“ Kaſtl beißt ſich auf die Lippen und ſtapft verdroſſen weiter. Der Knecht aber ſetzt die Aufzählung der dörflichen Neuigkeiten fort und verſichert, das Allerneueſte ſei, daß beim Karlwirth ſeit einigen Tagen Innsbrucker Bier ver- zapft werde, weil die Bauern den Jenbacher „Plempel“ nimmer mögen, und daß wahrſcheinlich morgen dem Ober- hummer ſein älteſter Bub als „Dokter“ heimkommen werde. Humorvoll ſagt Kaſtl: „Der Oberhummer Bub kommt morgen nicht!“ „So? Warum denn nicht?“ fragt neugierig der Knecht. „Weil er heut ſchon gekommen iſcht.“ Jetzt betrachtet ſich Sepp den jungen Mann genauer, er muſtert ihn von Fuß bis zum Kopf und platzt dann heraus: „Ah ſo wohl! Freilich iſcht er ſchon da, du biſcht er ja ſelber, ’m Oberhummer ſein älteſter Bub! Ganz ſakriſch haſt dich ’ rausg’wachſen, Kaſtl! Biſcht ein Prachtbub worden!“ Wohlgefällig betrachtet der biderbe Knecht den jungen Mann, den das vertrauliche Duzen nicht wenig ärgert, und gutmüthig fragt Sepp weiter: „Was willſt denn nun anfangen, Oberhummer Bub, he? Es heißt, du biſcht ein Dokter worden. Willſt wohl jetzt die Leut kuri- ren? Iſcht recht! Der alte Dokter verſteht ſo zu wenig und gibt allweil die gleichen Trankeln, die ſo bitter zu nehmen ſind. Iſcht recht! Ich halt zu dir! Wenn ich einmal wieder nicht recht beinander bin, kannſt an mir rum- doktern, ſo viel du willſt. Ich halt ſchon was aus, mich bringt nicht leicht was um. Meine Kundſchaft iſcht dir ſicher, aber verlangen darfſt halt nix, im Gegentheil: wenn d’ mir zehn Gulden zahlſt, kannſt mir einen Finger weg- ſchneiden und wieder hinflicken, daß er wieder anwachſt!“ Kaſtl hat genug von ſolchem Geſpräch, er bleibt zu- rück und hält ſich im Walde auf, der ſich bis nahe an das Seeufer hinzieht. Eigentlich iſt der junge Doktor ſehr ärger- lich, daß ſeine neue Würde von dieſen Bergmenſchen ſo gar nicht beachtet wird. Aber iſt es dieſen Naturkindern denn zu verargen? Woher ſollen ſie denn wiſſen, welche Summe von Weisheit nöthig iſt, um den Doktorhut zu erreichen? Während Kaſtl ſolchen Gedanken nachhängt, iſt Lina die Bergſtraße heraufgekommen, mit geröthetem Geſicht und lebhaftem Athem. Ein Ausweichen auf einen Seitenpfad iſt nicht mehr möglich. Kaſtl hört die nahekommenden Schritte, blickt auf und grüßt. Eine einſam wandernde Dame hier oben am Berg, wer mag das ſein? Lina hat höflich gedankt und beeilt ſich, weiter zu kommen. Als echter Gebirgler vermag Kaſtl die Neugierde nicht zu unter- drücken, es juckt ihn, nach Landesſitte die üblichen Fragen nach Herkunft und Wegziel zu ſtellen, und bevor er ſich zu erinnern vermag, daß ſolch aufdringliche Neugier in der Stadt verpönt iſt, plappert der Mund ſchon: „Grüß Gott, Fräulein! Auch unterwegs? Kommen gewiß auch von der Bahn und wollen ins Seedorf? Was? Da haben wir ja den gleichen Weg. Mit Verlaub gehe ich mit. Ich bin nämlich aus dem Seedorf, habe die Ehre, mich vorzu- ſtellen: Doktor Oberhummer.“ Den Hut lüftend, iſt Kaſtl an des Fräulein Seite getreten. Lina lächelt und erwidert ſchlicht: „Ich bin das neue Poſtfräulein und will heute noch meinen Poſten in Seedorf antreten.“ Kaſtl guckt erſtaunt; die Inſtitution von weiblichen Poſtbeamten iſt ihm neu. Unwillkürlich ſagt er: „Was Sie ſagen! Alſo Poſtfräulein gibt es jetzt! Was man alles erlebt, wenn man lange von Hauſe weg iſcht! Da iſcht ja die alte Unterbäuerin nicht mehr im Dienſt als Poſtexpe- ditorin?“ „Gerade dieſe muß ich ablöſen. In der Direktion iſcht man der Meinung, daß taube und halbblinde Leute nicht tauglich ſeien für den Poſtdienſt.“ „Ganz richtig. Alſo ein Fräulein kriegen wir jetzt ins Poſtamt! Das iſt recht! Da werden die Leute gewiß lieber Briefe ſchreiben!“ Kaſtl beißt ſich auf die Lippen: die Schmeichelei iſt doch gar zu plump ausgefallen! Die Dorf- bauern um den See herum ſchreiben ja überhaupt nichts, weil dieſe Kunſt den meiſten fremd iſt. Langſam zieht das Paar die Hochſtraße hinauf, bis endlich die Höhe erreicht iſt und die Seefläche entgegen- blaut. „Wie ſchön!“ ruft entzückt Lina aus und Kaſtl be- ſtätigt, daß ſeine Heimath ein herrliches Stück Land ſei, das nach langer Zeit wiederzuſehen eine wahre Herzens- freude ſei. „Da waren Herr Doktor wohl in der Hauptſtadt zum Studium?“ „Freilich! Habe meinen Medizindoktor gemacht und will jetzt daheim die Praxis beginnen. Wiſſen Sie, Fräu- lein, für Bauernarbeit war ich zu dumm!“ Lina kichert vergnügt: „So, was Sie ſagen!“ „Das heißt, mein alter Herr war dieſer Meinung, und deßhalb hab ich ſtudiren müſſen. Ich bin recht froh darum.“ Ich glaub’ es. Das Leben im Berg hat ſeine Schat- tenſeiten.“ „Haben Sie denn ſchon Erfahrungen darin?“ „Perſönlich noch nicht! Aber was man ſo von Kol- leginnen hört, klingt nicht beſonders ermuthigend. Doch Pflichttreue und Liebe zum Dienſt wird ſchon über die erſte und ärgſte Zeit hinweghelfen.“ „Gewiß, Fräulein! Wenn ich Ihnen irgendwie dienen und behülflich ſein kann, ſtehe ich gerne zu Dienſten.“ „Danke ſehr! Ich hoffe aber, mich ſchon ſelbſt hinein- zufinden.“ Das klang ziemlich ernüchternd, und da das Paar

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 85, 28. März 1900, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine85_1900/1>, abgerufen am 15.05.2024.