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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] einen lebenden Künstler so hoch zu stellen, als er ver-
dient. Vorwurfsvoll sagt man oft den Nationen, daß
sie ihre größten Männer sterben ließen, ehe sie sie ganz
erkannten. Sey es ein Vorwurf, allein begründet
bleibt es trotzdem in unserer Natur, erst das Vollendete
als ein Ganzes zu begreifen und zu genießen, und
leider bedarf es erst des Todes, ehe ein Mensch für den
allgemeinen Anblick als ein Vollendetes dasteht.



Die Composition des Bildes ist sehr einfach. Sie
setzt diejenigen fast in Verlegenheit, welche, ergriffen
vom großen Jnhalte, aber nicht selbstvertrauend genug,
den empfangenen Eindruck nur in der Wirkung des
Ganzen zu suchen, Einzelnheiten aufspüren möchten, an
die sich ein specielles Wohlgefallen anhängen ließe.
Nähme man jedoch einzelne Figuren oder Figurencom-
plexe heraus, sie würden genug bieten, das sie auch
außer dem Zusammenhange großartig und bewunderungs-
würdig macht. Die Engel, welche den Befehl zum
Posaunenrufe erwarten, sind Conceptionen, wie sie
nach Michel Angelo nicht einmal versucht worden sind.

Cornelius' Bilder haben nichts Einschmeichelndes,
aber auch nichts, das bei längerer Betrachtung den an-
fänglichen Reiz verlöre. Sie können nur gewinnen und
bewahren das Ueberraschende des ersten Anblicks. Es
ist das Kennzeichen ächter Kunstwerke, daß wir, jemehr
wir sie zu kennen glauben, auf immer unergründlichere
Tiefen kommen, bis wir ermatten, und treten wir am
nächsten Tage neu davor, so scheint all unsere Gedan-
kenarbeit umsonst gethan, und man beginnt von fri-
schem. Wem würde Raphaels Madonna jemals bekannt
erscheinen, und hätte er sie alle Tage vor Augen?
Jeden Morgen würde er glauben, er sähe sie zum er-
stenmal so, wie er sie nun sieht. Ohne daß wir es
wissen, sind die großen Werke der Kunst nur die Spie-
gel unserer eigenen Seele, die jedesmal anders vor sie
hin tritt, und jedesmal darum ein anderes Bildniß vor
sich sieht. Jedem zeigen sie das Allgemeinste so, als
wäre es doch nur für ihn in dem Momente so gesagt,
wie er es annimmt. Jeder Moment erscheint günstiger
als alle andern. Ebenso ist es mit den Dichtern, deren
klare Worte unerschöpfliche Quellen sind, aus denen wir
trinken, ohne ihren lebendigen Jnhalt zu verringern,
der sie immer bis zum Rande gefüllt hält. Seit langen
Jahren mühen wir uns ab, Licht zu bringen auf die
dunkeln Pfade Hamlets, und seine Schritte bleiben
dennoch in dem alten Nebel verhüllt, der jeden einzel-
nen geheimnißvoll von neuem anlockt, als wäre er be-
rufen ihn zu verscheuchen. Alle ächten Kunstwerke ha-
ben ihre Stelle, wo ihr Jnhalt ein ewiges Räthsel
bleibt. Das unterscheidet sie von denen, wo uns ein
[Spaltenumbruch] aufgehäufter Reichthum anfangs überwältigt, bis wir
ihn Stück vor Stück betrachtet haben und ihm endlich
befriedigt den Rücken zukehren, wie Kinder, die eine
große Schüssel voll Kirschen verzehrten, und wenn sie
die süße Arbeit hinter sich haben, satt und undankbar
davon gehen.

Wir nennen Skulptur, Architektur, Malerei, Musik
die schönen Künste. Diese Bezeichnungen sind antiquirt
in dem beschränkten Sinne, den man ihnen dem ge-
wöhnlichen Verständnisse nach unterlegt. Für die mo-
derne Zeit, für die Zukunft bedürfen wir weiterer
Grenzen für die Kunst, als diese Worte uns gewähren.
Ein Mann, der den Gedanken faßt, über ein Gebirge
Schienen zu legen, und die Abgründe zu überbrücken,
und die Berge zu durchbohren, die ihn hindern könn-
ten, Männer, die Tunnel unter breiten Flüssen bauten,
die die Jdee des Glaspalastes ausführbar machten, das
sind die großen Künstler unserer Tage. Raphael war
Baumeister, wie er Maler war. Michel Angelo war
derselbe Genius, mochte er malen, bauen, in Stein
arbeiten oder die Vertheidigung seiner Vaterstadt lenken.
Leonardo malte, secirte Leichname, spielte die Laute,
studirte die Kriegskunst, er war stets derselbe Mann.
Als ich neulich von dem ungeheuren eisernen Schiffe
las, das in England gebaut wird, dessen Dimensionen
alles denkbare übertreffen, das Nachts überleuchtet von
einer elektrischen Sonne dahinrauscht, bewohnt von
viertausend Menschen, wie ein neugeschaffener Erdtheil,
da überkam mich ein Schauer, wie ich ihn empfand,
als ich auf dem Dache des Doms zu Mailand stand,
und dieser Wald marmorner Säulen, schweigend im
tiefblauen Aether, wie eine neue Welt mich umgab,
die dem Geiste der Menschen entsprungen war. Jede
That, in welcher der sich überwältigend kund gibt, ist
ein Kunstwerk, alles, wo die größten Mittel doch nur
Mittel bleiben, wo die Jdee das Ganze beherrscht; den
Rest können Handwerker thun, wo gewiß mancher besser
arbeitet als der andere, keiner aber unersetzlich ist. Wir
stellen so oft die Kunst und das praktische Leben als
Gegensätze hin: der wahre Künstler greift mehr als
jeder andere in's praktische Leben ein; er steht seinen
Theil so gut wie der Handwerker, den er kommandirt,
freilich so, daß dieser meistens gar nicht ahnt, wem
er gehorcht und ohne wen er nichts wäre. Da jedoch,
wo dieser Gegensatz eine Wahrheit ist, wo den Künstler
die Laune eines Einzelnen oder die vorüberfahrende
Mode des Tages empor hebt und er sinken muß, wenn
sie ihn sinken lassen, da haben seine Werke mit der
Kunst so viel zu thun, als die Blumen im Laden einer
Putzmacherin mit dem Reichthum des freien Feldes.

Für die Erziehung des Menschengeschlechts sind
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] einen lebenden Künstler so hoch zu stellen, als er ver-
dient. Vorwurfsvoll sagt man oft den Nationen, daß
sie ihre größten Männer sterben ließen, ehe sie sie ganz
erkannten. Sey es ein Vorwurf, allein begründet
bleibt es trotzdem in unserer Natur, erst das Vollendete
als ein Ganzes zu begreifen und zu genießen, und
leider bedarf es erst des Todes, ehe ein Mensch für den
allgemeinen Anblick als ein Vollendetes dasteht.



Die Composition des Bildes ist sehr einfach. Sie
setzt diejenigen fast in Verlegenheit, welche, ergriffen
vom großen Jnhalte, aber nicht selbstvertrauend genug,
den empfangenen Eindruck nur in der Wirkung des
Ganzen zu suchen, Einzelnheiten aufspüren möchten, an
die sich ein specielles Wohlgefallen anhängen ließe.
Nähme man jedoch einzelne Figuren oder Figurencom-
plexe heraus, sie würden genug bieten, das sie auch
außer dem Zusammenhange großartig und bewunderungs-
würdig macht. Die Engel, welche den Befehl zum
Posaunenrufe erwarten, sind Conceptionen, wie sie
nach Michel Angelo nicht einmal versucht worden sind.

Cornelius' Bilder haben nichts Einschmeichelndes,
aber auch nichts, das bei längerer Betrachtung den an-
fänglichen Reiz verlöre. Sie können nur gewinnen und
bewahren das Ueberraschende des ersten Anblicks. Es
ist das Kennzeichen ächter Kunstwerke, daß wir, jemehr
wir sie zu kennen glauben, auf immer unergründlichere
Tiefen kommen, bis wir ermatten, und treten wir am
nächsten Tage neu davor, so scheint all unsere Gedan-
kenarbeit umsonst gethan, und man beginnt von fri-
schem. Wem würde Raphaels Madonna jemals bekannt
erscheinen, und hätte er sie alle Tage vor Augen?
Jeden Morgen würde er glauben, er sähe sie zum er-
stenmal so, wie er sie nun sieht. Ohne daß wir es
wissen, sind die großen Werke der Kunst nur die Spie-
gel unserer eigenen Seele, die jedesmal anders vor sie
hin tritt, und jedesmal darum ein anderes Bildniß vor
sich sieht. Jedem zeigen sie das Allgemeinste so, als
wäre es doch nur für ihn in dem Momente so gesagt,
wie er es annimmt. Jeder Moment erscheint günstiger
als alle andern. Ebenso ist es mit den Dichtern, deren
klare Worte unerschöpfliche Quellen sind, aus denen wir
trinken, ohne ihren lebendigen Jnhalt zu verringern,
der sie immer bis zum Rande gefüllt hält. Seit langen
Jahren mühen wir uns ab, Licht zu bringen auf die
dunkeln Pfade Hamlets, und seine Schritte bleiben
dennoch in dem alten Nebel verhüllt, der jeden einzel-
nen geheimnißvoll von neuem anlockt, als wäre er be-
rufen ihn zu verscheuchen. Alle ächten Kunstwerke ha-
ben ihre Stelle, wo ihr Jnhalt ein ewiges Räthsel
bleibt. Das unterscheidet sie von denen, wo uns ein
[Spaltenumbruch] aufgehäufter Reichthum anfangs überwältigt, bis wir
ihn Stück vor Stück betrachtet haben und ihm endlich
befriedigt den Rücken zukehren, wie Kinder, die eine
große Schüssel voll Kirschen verzehrten, und wenn sie
die süße Arbeit hinter sich haben, satt und undankbar
davon gehen.

Wir nennen Skulptur, Architektur, Malerei, Musik
die schönen Künste. Diese Bezeichnungen sind antiquirt
in dem beschränkten Sinne, den man ihnen dem ge-
wöhnlichen Verständnisse nach unterlegt. Für die mo-
derne Zeit, für die Zukunft bedürfen wir weiterer
Grenzen für die Kunst, als diese Worte uns gewähren.
Ein Mann, der den Gedanken faßt, über ein Gebirge
Schienen zu legen, und die Abgründe zu überbrücken,
und die Berge zu durchbohren, die ihn hindern könn-
ten, Männer, die Tunnel unter breiten Flüssen bauten,
die die Jdee des Glaspalastes ausführbar machten, das
sind die großen Künstler unserer Tage. Raphael war
Baumeister, wie er Maler war. Michel Angelo war
derselbe Genius, mochte er malen, bauen, in Stein
arbeiten oder die Vertheidigung seiner Vaterstadt lenken.
Leonardo malte, secirte Leichname, spielte die Laute,
studirte die Kriegskunst, er war stets derselbe Mann.
Als ich neulich von dem ungeheuren eisernen Schiffe
las, das in England gebaut wird, dessen Dimensionen
alles denkbare übertreffen, das Nachts überleuchtet von
einer elektrischen Sonne dahinrauscht, bewohnt von
viertausend Menschen, wie ein neugeschaffener Erdtheil,
da überkam mich ein Schauer, wie ich ihn empfand,
als ich auf dem Dache des Doms zu Mailand stand,
und dieser Wald marmorner Säulen, schweigend im
tiefblauen Aether, wie eine neue Welt mich umgab,
die dem Geiste der Menschen entsprungen war. Jede
That, in welcher der sich überwältigend kund gibt, ist
ein Kunstwerk, alles, wo die größten Mittel doch nur
Mittel bleiben, wo die Jdee das Ganze beherrscht; den
Rest können Handwerker thun, wo gewiß mancher besser
arbeitet als der andere, keiner aber unersetzlich ist. Wir
stellen so oft die Kunst und das praktische Leben als
Gegensätze hin: der wahre Künstler greift mehr als
jeder andere in's praktische Leben ein; er steht seinen
Theil so gut wie der Handwerker, den er kommandirt,
freilich so, daß dieser meistens gar nicht ahnt, wem
er gehorcht und ohne wen er nichts wäre. Da jedoch,
wo dieser Gegensatz eine Wahrheit ist, wo den Künstler
die Laune eines Einzelnen oder die vorüberfahrende
Mode des Tages empor hebt und er sinken muß, wenn
sie ihn sinken lassen, da haben seine Werke mit der
Kunst so viel zu thun, als die Blumen im Laden einer
Putzmacherin mit dem Reichthum des freien Feldes.

Für die Erziehung des Menschengeschlechts sind
[Ende Spaltensatz]

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Die Engel, welche den Befehl zum Posaunenrufe erwarten, sind Conceptionen, wie sie nach Michel Angelo nicht einmal versucht worden sind. Cornelius' Bilder haben nichts Einschmeichelndes, aber auch nichts, das bei längerer Betrachtung den an- fänglichen Reiz verlöre. Sie können nur gewinnen und bewahren das Ueberraschende des ersten Anblicks. Es ist das Kennzeichen ächter Kunstwerke, daß wir, jemehr wir sie zu kennen glauben, auf immer unergründlichere Tiefen kommen, bis wir ermatten, und treten wir am nächsten Tage neu davor, so scheint all unsere Gedan- kenarbeit umsonst gethan, und man beginnt von fri- schem. Wem würde Raphaels Madonna jemals bekannt erscheinen, und hätte er sie alle Tage vor Augen? Jeden Morgen würde er glauben, er sähe sie zum er- stenmal so, wie er sie nun sieht. Ohne daß wir es wissen, sind die großen Werke der Kunst nur die Spie- gel unserer eigenen Seele, die jedesmal anders vor sie hin tritt, und jedesmal darum ein anderes Bildniß vor sich sieht. 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Das unterscheidet sie von denen, wo uns ein aufgehäufter Reichthum anfangs überwältigt, bis wir ihn Stück vor Stück betrachtet haben und ihm endlich befriedigt den Rücken zukehren, wie Kinder, die eine große Schüssel voll Kirschen verzehrten, und wenn sie die süße Arbeit hinter sich haben, satt und undankbar davon gehen. Wir nennen Skulptur, Architektur, Malerei, Musik die schönen Künste. Diese Bezeichnungen sind antiquirt in dem beschränkten Sinne, den man ihnen dem ge- wöhnlichen Verständnisse nach unterlegt. Für die mo- derne Zeit, für die Zukunft bedürfen wir weiterer Grenzen für die Kunst, als diese Worte uns gewähren. Ein Mann, der den Gedanken faßt, über ein Gebirge Schienen zu legen, und die Abgründe zu überbrücken, und die Berge zu durchbohren, die ihn hindern könn- ten, Männer, die Tunnel unter breiten Flüssen bauten, die die Jdee des Glaspalastes ausführbar machten, das sind die großen Künstler unserer Tage. Raphael war Baumeister, wie er Maler war. Michel Angelo war derselbe Genius, mochte er malen, bauen, in Stein arbeiten oder die Vertheidigung seiner Vaterstadt lenken. Leonardo malte, secirte Leichname, spielte die Laute, studirte die Kriegskunst, er war stets derselbe Mann. Als ich neulich von dem ungeheuren eisernen Schiffe las, das in England gebaut wird, dessen Dimensionen alles denkbare übertreffen, das Nachts überleuchtet von einer elektrischen Sonne dahinrauscht, bewohnt von viertausend Menschen, wie ein neugeschaffener Erdtheil, da überkam mich ein Schauer, wie ich ihn empfand, als ich auf dem Dache des Doms zu Mailand stand, und dieser Wald marmorner Säulen, schweigend im tiefblauen Aether, wie eine neue Welt mich umgab, die dem Geiste der Menschen entsprungen war. Jede That, in welcher der sich überwältigend kund gibt, ist ein Kunstwerk, alles, wo die größten Mittel doch nur Mittel bleiben, wo die Jdee das Ganze beherrscht; den Rest können Handwerker thun, wo gewiß mancher besser arbeitet als der andere, keiner aber unersetzlich ist. Wir stellen so oft die Kunst und das praktische Leben als Gegensätze hin: der wahre Künstler greift mehr als jeder andere in's praktische Leben ein; er steht seinen Theil so gut wie der Handwerker, den er kommandirt, freilich so, daß dieser meistens gar nicht ahnt, wem er gehorcht und ohne wen er nichts wäre. Da jedoch, wo dieser Gegensatz eine Wahrheit ist, wo den Künstler die Laune eines Einzelnen oder die vorüberfahrende Mode des Tages empor hebt und er sinken muß, wenn sie ihn sinken lassen, da haben seine Werke mit der Kunst so viel zu thun, als die Blumen im Laden einer Putzmacherin mit dem Reichthum des freien Feldes. Für die Erziehung des Menschengeschlechts sind

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 700. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/4>, abgerufen am 14.06.2024.