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Das Pfennig=Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Neue Folge, Erster Jahrgang, Nr. 38. Leipzig (Sachsen), 23. September 1843.

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[Beginn Spaltensatz] Grade harmonisch entwickelt ist, die sich durch Gelehr-
samkeit und Philosophie, durch innere und äußere Ge-
wandtheit, durch Charakterfestigkeit und Unparteilichkeit
gleich sehr auszeichnen, an denen Leib und Seele, Geist
und Gemüth, Verstand und Wille gleich kräftig und ge-
sund ist, sind Phänomene, an denen keine Zeit reich ist.
Ammon ist in jeder Beziehung groß; man mag ihn als
Redner, Examinator, als Schriftsteller oder als Gesell-
schafter kennen lernen, man wird von Bewunderung er-
griffen. Eine nie versiegende, stets sich gleichbleibende
Heiterkeit, der Abschein der innern Harmonie seines We-
sens, fesselt die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, noch
ehe er gesprochen[unleserliches Material] hat; wenn aber die Worte erst über
die Lippen strömen, müssen sich ihm auch die verschlos-
sensten Herzen öffnen. Er ist nun bereits über 77 Jahre
alt, aber immer noch bewundert man ihn, er mag sich
auf der Kanzel, auf der Rednerbühne des Landtags, in
einer Schrift oder im alltäglichen Leben vernehmen las-
sen. Trotz seiner ungeheuern Arbeiten ist ihm so viel
Zeit übriggeblieben, sich zu einem tüchtigen Pianoforte-
spieler zu bilden und für Alles, was Kunst heißt, einen
regen Sinn zu bewahren.

Menschen, die in ihren Mitmenschen nichts als per-
sonificirte Begriffe sehen, die sie sich oft sonderbar genug
zusammenreimen, können eine Persönlichkeit wie Ammon,
in der nichts verschroben, sondern Alles naturgemäß har-
monisch ineinander greift, nicht richtig würdigen und ha-
ben so Manches, was nur das Resultat seiner Univer-
salitat sein konnte, als tadelhaft angegriffen. Es ist hier
der Ort nicht, den großen Mann zu vertheidigen, und
deshalb sollte auch von Angriffen auf ihn geschwiegen
werden; aber die Angriffe bezeichnen zum Theil sehr
charakteristisch den Standpunkt unserer Bildung, und
darum mag ihrer gedacht werden, in der Voraussetzung,
daß sie Jedem in ihrer Nichtigkeit erkennbar sein werden.
Man fand es unrecht, daß Ammon den seiner Familie
in Baiern zurückgegebenen Adel auch in Sachsen zur
Anerkenntniß bringen ließ; daß er der preußischen Agende
das Wort redete; daß er sich der Vereinigung der Luthe-
raner und Reformirten widersetzte; daß er das berühmte
Werk "Die Fortbildung des Christenthums zur Welt-
religion " schrieb; daß er als ein geschickter Steuermann
das Schiff seines Lebens vor allen Klippen, Sandbän-
ken und Untiefen zu bewahren wußte; daß er gegen die
katholische Kirche nicht wacker zu Felde zog u. s. w.

Von der geistigen Selbständigkeit und Lebendigkeit
Ammon's gibt vorzüglich der Umstand Kunde, daß er
aller formellen Consequenzmacherei fremd ist und sich im-
mer auf dem Standpunkte einer Fortentwickelung befand,
von dem freilich Diejenigen nichts wissen, welche da mei-
nen, der Gelehrte gehe, wie weiland Pallas Athene aus
dem Haupte Jupiter's, fix und fertig für alle Zeiten
aus den Hörsälen der Universität in das öffentliche Le-
ben über. Ein solcher knöcherner Gelehrter war Ammon
nie; in ihm schlugen alle Pulse der Gegenwart und Ver-
gangenheit zusammen und modificirten fort und fort sein
geistiges Leben, sodaß es frisch und grün blieb bis in
sein Greisenalter.

Jn der Erklärung der heiligen Schrift folgte er an-
fangs den Grundsätzen Heyne's, Eichhorn's und Koppe's,
welche die Auslegungskunde in eine Philosophie der Aus-
legung verwandelt hatten, die, einseitig bis ins Extreme
getrieben, vom Bibeltexte nichts übrig ließ als den Aus-
leger. Ammon schützte sich vor diesem Abwege in seinen
Forschungen als Lehrer und Kanzelredner durch die Kant' -
sche Philosophie, die mehr als irgend ein anderes System
die höchste Aufgabe der echten Theologie, die Vereini-
gung des Wissens und Glaubens, befördert. Seine re-
[Spaltenumbruch] ligiösen Ansichten und Forschungen beruhen auf dem
Grundsatze, daß die Wahrheit sich weder im Gefühl,
noch in der Formel, noch in irgend einem Buchstaben
findet, sondern in der den Gesetzen des Gemüths ange-
messenen Erkenntniß des lebendigen Seins. Jnsofern
der Supernaturalismus keine Wissenschaft, der Rationa-
lismus keinen Glauben bedarf, konnte ihm der eine so
wenig zusagen als der andere, und er entschied sich für
einen rationalen Supernaturalismus, in welchem der
Glaube da beginnt, wo die Wissenschaft aufhört. Scharf-
sinniges Forschen und demüthiges Erkennen der mensch-
lichen Grenzen, das zum Glauben führt, leuchtet aus
allen seinen Reden und Schriften hervor. Mit seltener
Gewandtheit und Leichtigkeit weiß er aufzufassen, zu un-
terscheiden und darzustellen und so auf gleiche Weise den
Verstand zu überzeugen und das Herz zu erwärmen.
Sein Hauptwerk ist seine "Fortbildung des Christenthums
zur Weltreligion", in welchem er der Theologie die stu-
fenweise Fortentwickelung der christlichen Glaubenslehre
und die Vermittelung ihrer immer neuen Verbindung mit
der fortschreitenden Wissenschaft als ihre höchste Aufgabe
nachweist. Dieses Werk bildet eine neue Epoche für die
Geschichte der christlichen Dogmatik; mit ihm hat Am-
mon 's Geist seine irdische Bestimmung erreicht, denn ein
höheres Ziel konnte die Universalität desselben nicht ha-
ben. Wenn man dieses Werk liest, muß man unwill-
kürlich die reiche Ausstattung seines Geistes für ein Werk
der Vorsehung ansehen, um dadurch eine neue Zeit in
der Entwickelung der christlichen Glaubenslehre herbeizu-
führen. Nur ein Gelehrter von der umfassenden Bil-
dung Ammon's, der mit dem Besitze der classischen und
orientalischen Sprachen und aller damit zusammenhän-
genden geschichtlichen und archäologischen Kenntnisse das
ganze unermeßliche Gebiet des modernen Wissens verei-
nigt, war im Stande, ein solches Buch zu schreiben.
Es ist ein Buch, das für alle Zeiten geschrieben ist und
hoffentlich allen kommenden Zeitaltern zum Antrieb und
Muster dienen wird, Ähnliches zu leisten.



Die Jnsel Hongkong.

Bekanntlich haben sich die Engländer in dem Frieden
mit China die Jnsel Hongkong abtreten lassen. Diese
Jnsel ist nach der neuesten Angabe ungefähr acht Miles
lang und2 1 / 2 Miles breit. Die sie vom Festlande schei-
dende Meerenge hat an einigen Stellen eine Breite von
nur einer, an andern Stellen von fünf bis sechs Mi-
les. Die den Hafen bildende Bucht ist für die Schiff-
fahrt unübertrefflich. Nicht genug, daß sie Raum für
eine ungeheure Menge Schiffe hat, ist sie auch so tief,
daß ein Linienschiff von 74 Kanonen bis auf die Länge
eines Kabeltaus vom Ufer ankern kann, und gewährt
außerdem gegen Stürme einen bessern Schutz als irgend
ein anderer Hafen Chinas. Das Jnnere der Jnsel be-
sitzt zwei wesentliche Dinge: unerschöpflichen, selbst im
heißesten Sommer aushaltenden Überfluß an köstlichem
Trinkwasser und einen unermeßlichen Reichthum an Gra-
nit, der zu Waarenhäusern und Werften das schönste
Material liefert.



Der blinde Musikus.
Aus dem Holländischen.

Auf einer Reise, die ich vor mehren Jahren durch Holland
machte, traf ich in einem Dorfe Gelderns, vor einem der
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Grade harmonisch entwickelt ist, die sich durch Gelehr-
samkeit und Philosophie, durch innere und äußere Ge-
wandtheit, durch Charakterfestigkeit und Unparteilichkeit
gleich sehr auszeichnen, an denen Leib und Seele, Geist
und Gemüth, Verstand und Wille gleich kräftig und ge-
sund ist, sind Phänomene, an denen keine Zeit reich ist.
Ammon ist in jeder Beziehung groß; man mag ihn als
Redner, Examinator, als Schriftsteller oder als Gesell-
schafter kennen lernen, man wird von Bewunderung er-
griffen. Eine nie versiegende, stets sich gleichbleibende
Heiterkeit, der Abschein der innern Harmonie seines We-
sens, fesselt die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, noch
ehe er gesprochen[unleserliches Material] hat; wenn aber die Worte erst über
die Lippen strömen, müssen sich ihm auch die verschlos-
sensten Herzen öffnen. Er ist nun bereits über 77 Jahre
alt, aber immer noch bewundert man ihn, er mag sich
auf der Kanzel, auf der Rednerbühne des Landtags, in
einer Schrift oder im alltäglichen Leben vernehmen las-
sen. Trotz seiner ungeheuern Arbeiten ist ihm so viel
Zeit übriggeblieben, sich zu einem tüchtigen Pianoforte-
spieler zu bilden und für Alles, was Kunst heißt, einen
regen Sinn zu bewahren.

Menschen, die in ihren Mitmenschen nichts als per-
sonificirte Begriffe sehen, die sie sich oft sonderbar genug
zusammenreimen, können eine Persönlichkeit wie Ammon,
in der nichts verschroben, sondern Alles naturgemäß har-
monisch ineinander greift, nicht richtig würdigen und ha-
ben so Manches, was nur das Resultat seiner Univer-
salitat sein konnte, als tadelhaft angegriffen. Es ist hier
der Ort nicht, den großen Mann zu vertheidigen, und
deshalb sollte auch von Angriffen auf ihn geschwiegen
werden; aber die Angriffe bezeichnen zum Theil sehr
charakteristisch den Standpunkt unserer Bildung, und
darum mag ihrer gedacht werden, in der Voraussetzung,
daß sie Jedem in ihrer Nichtigkeit erkennbar sein werden.
Man fand es unrecht, daß Ammon den seiner Familie
in Baiern zurückgegebenen Adel auch in Sachsen zur
Anerkenntniß bringen ließ; daß er der preußischen Agende
das Wort redete; daß er sich der Vereinigung der Luthe-
raner und Reformirten widersetzte; daß er das berühmte
Werk „Die Fortbildung des Christenthums zur Welt-
religion “ schrieb; daß er als ein geschickter Steuermann
das Schiff seines Lebens vor allen Klippen, Sandbän-
ken und Untiefen zu bewahren wußte; daß er gegen die
katholische Kirche nicht wacker zu Felde zog u. s. w.

Von der geistigen Selbständigkeit und Lebendigkeit
Ammon's gibt vorzüglich der Umstand Kunde, daß er
aller formellen Consequenzmacherei fremd ist und sich im-
mer auf dem Standpunkte einer Fortentwickelung befand,
von dem freilich Diejenigen nichts wissen, welche da mei-
nen, der Gelehrte gehe, wie weiland Pallas Athene aus
dem Haupte Jupiter's, fix und fertig für alle Zeiten
aus den Hörsälen der Universität in das öffentliche Le-
ben über. Ein solcher knöcherner Gelehrter war Ammon
nie; in ihm schlugen alle Pulse der Gegenwart und Ver-
gangenheit zusammen und modificirten fort und fort sein
geistiges Leben, sodaß es frisch und grün blieb bis in
sein Greisenalter.

Jn der Erklärung der heiligen Schrift folgte er an-
fangs den Grundsätzen Heyne's, Eichhorn's und Koppe's,
welche die Auslegungskunde in eine Philosophie der Aus-
legung verwandelt hatten, die, einseitig bis ins Extreme
getrieben, vom Bibeltexte nichts übrig ließ als den Aus-
leger. Ammon schützte sich vor diesem Abwege in seinen
Forschungen als Lehrer und Kanzelredner durch die Kant' -
sche Philosophie, die mehr als irgend ein anderes System
die höchste Aufgabe der echten Theologie, die Vereini-
gung des Wissens und Glaubens, befördert. Seine re-
[Spaltenumbruch] ligiösen Ansichten und Forschungen beruhen auf dem
Grundsatze, daß die Wahrheit sich weder im Gefühl,
noch in der Formel, noch in irgend einem Buchstaben
findet, sondern in der den Gesetzen des Gemüths ange-
messenen Erkenntniß des lebendigen Seins. Jnsofern
der Supernaturalismus keine Wissenschaft, der Rationa-
lismus keinen Glauben bedarf, konnte ihm der eine so
wenig zusagen als der andere, und er entschied sich für
einen rationalen Supernaturalismus, in welchem der
Glaube da beginnt, wo die Wissenschaft aufhört. Scharf-
sinniges Forschen und demüthiges Erkennen der mensch-
lichen Grenzen, das zum Glauben führt, leuchtet aus
allen seinen Reden und Schriften hervor. Mit seltener
Gewandtheit und Leichtigkeit weiß er aufzufassen, zu un-
terscheiden und darzustellen und so auf gleiche Weise den
Verstand zu überzeugen und das Herz zu erwärmen.
Sein Hauptwerk ist seine „Fortbildung des Christenthums
zur Weltreligion“, in welchem er der Theologie die stu-
fenweise Fortentwickelung der christlichen Glaubenslehre
und die Vermittelung ihrer immer neuen Verbindung mit
der fortschreitenden Wissenschaft als ihre höchste Aufgabe
nachweist. Dieses Werk bildet eine neue Epoche für die
Geschichte der christlichen Dogmatik; mit ihm hat Am-
mon 's Geist seine irdische Bestimmung erreicht, denn ein
höheres Ziel konnte die Universalität desselben nicht ha-
ben. Wenn man dieses Werk liest, muß man unwill-
kürlich die reiche Ausstattung seines Geistes für ein Werk
der Vorsehung ansehen, um dadurch eine neue Zeit in
der Entwickelung der christlichen Glaubenslehre herbeizu-
führen. Nur ein Gelehrter von der umfassenden Bil-
dung Ammon's, der mit dem Besitze der classischen und
orientalischen Sprachen und aller damit zusammenhän-
genden geschichtlichen und archäologischen Kenntnisse das
ganze unermeßliche Gebiet des modernen Wissens verei-
nigt, war im Stande, ein solches Buch zu schreiben.
Es ist ein Buch, das für alle Zeiten geschrieben ist und
hoffentlich allen kommenden Zeitaltern zum Antrieb und
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Die Jnsel Hongkong.

Bekanntlich haben sich die Engländer in dem Frieden
mit China die Jnsel Hongkong abtreten lassen. Diese
Jnsel ist nach der neuesten Angabe ungefähr acht Miles
lang und2 1 / 2 Miles breit. Die sie vom Festlande schei-
dende Meerenge hat an einigen Stellen eine Breite von
nur einer, an andern Stellen von fünf bis sechs Mi-
les. Die den Hafen bildende Bucht ist für die Schiff-
fahrt unübertrefflich. Nicht genug, daß sie Raum für
eine ungeheure Menge Schiffe hat, ist sie auch so tief,
daß ein Linienschiff von 74 Kanonen bis auf die Länge
eines Kabeltaus vom Ufer ankern kann, und gewährt
außerdem gegen Stürme einen bessern Schutz als irgend
ein anderer Hafen Chinas. Das Jnnere der Jnsel be-
sitzt zwei wesentliche Dinge: unerschöpflichen, selbst im
heißesten Sommer aushaltenden Überfluß an köstlichem
Trinkwasser und einen unermeßlichen Reichthum an Gra-
nit, der zu Waarenhäusern und Werften das schönste
Material liefert.



Der blinde Musikus.
Aus dem Holländischen.

Auf einer Reise, die ich vor mehren Jahren durch Holland
machte, traf ich in einem Dorfe Gelderns, vor einem der
[Ende Spaltensatz]

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Er ist nun bereits über 77 Jahre alt, aber immer noch bewundert man ihn, er mag sich auf der Kanzel, auf der Rednerbühne des Landtags, in einer Schrift oder im alltäglichen Leben vernehmen las- sen. Trotz seiner ungeheuern Arbeiten ist ihm so viel Zeit übriggeblieben, sich zu einem tüchtigen Pianoforte- spieler zu bilden und für Alles, was Kunst heißt, einen regen Sinn zu bewahren. Menschen, die in ihren Mitmenschen nichts als per- sonificirte Begriffe sehen, die sie sich oft sonderbar genug zusammenreimen, können eine Persönlichkeit wie Ammon, in der nichts verschroben, sondern Alles naturgemäß har- monisch ineinander greift, nicht richtig würdigen und ha- ben so Manches, was nur das Resultat seiner Univer- salitat sein konnte, als tadelhaft angegriffen. Es ist hier der Ort nicht, den großen Mann zu vertheidigen, und deshalb sollte auch von Angriffen auf ihn geschwiegen werden; aber die Angriffe bezeichnen zum Theil sehr charakteristisch den Standpunkt unserer Bildung, und darum mag ihrer gedacht werden, in der Voraussetzung, daß sie Jedem in ihrer Nichtigkeit erkennbar sein werden. Man fand es unrecht, daß Ammon den seiner Familie in Baiern zurückgegebenen Adel auch in Sachsen zur Anerkenntniß bringen ließ; daß er der preußischen Agende das Wort redete; daß er sich der Vereinigung der Luthe- raner und Reformirten widersetzte; daß er das berühmte Werk „Die Fortbildung des Christenthums zur Welt- religion “ schrieb; daß er als ein geschickter Steuermann das Schiff seines Lebens vor allen Klippen, Sandbän- ken und Untiefen zu bewahren wußte; daß er gegen die katholische Kirche nicht wacker zu Felde zog u. s. w. Von der geistigen Selbständigkeit und Lebendigkeit Ammon's gibt vorzüglich der Umstand Kunde, daß er aller formellen Consequenzmacherei fremd ist und sich im- mer auf dem Standpunkte einer Fortentwickelung befand, von dem freilich Diejenigen nichts wissen, welche da mei- nen, der Gelehrte gehe, wie weiland Pallas Athene aus dem Haupte Jupiter's, fix und fertig für alle Zeiten aus den Hörsälen der Universität in das öffentliche Le- ben über. Ein solcher knöcherner Gelehrter war Ammon nie; in ihm schlugen alle Pulse der Gegenwart und Ver- gangenheit zusammen und modificirten fort und fort sein geistiges Leben, sodaß es frisch und grün blieb bis in sein Greisenalter. Jn der Erklärung der heiligen Schrift folgte er an- fangs den Grundsätzen Heyne's, Eichhorn's und Koppe's, welche die Auslegungskunde in eine Philosophie der Aus- legung verwandelt hatten, die, einseitig bis ins Extreme getrieben, vom Bibeltexte nichts übrig ließ als den Aus- leger. Ammon schützte sich vor diesem Abwege in seinen Forschungen als Lehrer und Kanzelredner durch die Kant' - sche Philosophie, die mehr als irgend ein anderes System die höchste Aufgabe der echten Theologie, die Vereini- gung des Wissens und Glaubens, befördert. Seine re- ligiösen Ansichten und Forschungen beruhen auf dem Grundsatze, daß die Wahrheit sich weder im Gefühl, noch in der Formel, noch in irgend einem Buchstaben findet, sondern in der den Gesetzen des Gemüths ange- messenen Erkenntniß des lebendigen Seins. Jnsofern der Supernaturalismus keine Wissenschaft, der Rationa- lismus keinen Glauben bedarf, konnte ihm der eine so wenig zusagen als der andere, und er entschied sich für einen rationalen Supernaturalismus, in welchem der Glaube da beginnt, wo die Wissenschaft aufhört. Scharf- sinniges Forschen und demüthiges Erkennen der mensch- lichen Grenzen, das zum Glauben führt, leuchtet aus allen seinen Reden und Schriften hervor. Mit seltener Gewandtheit und Leichtigkeit weiß er aufzufassen, zu un- terscheiden und darzustellen und so auf gleiche Weise den Verstand zu überzeugen und das Herz zu erwärmen. Sein Hauptwerk ist seine „Fortbildung des Christenthums zur Weltreligion“, in welchem er der Theologie die stu- fenweise Fortentwickelung der christlichen Glaubenslehre und die Vermittelung ihrer immer neuen Verbindung mit der fortschreitenden Wissenschaft als ihre höchste Aufgabe nachweist. Dieses Werk bildet eine neue Epoche für die Geschichte der christlichen Dogmatik; mit ihm hat Am- mon 's Geist seine irdische Bestimmung erreicht, denn ein höheres Ziel konnte die Universalität desselben nicht ha- ben. Wenn man dieses Werk liest, muß man unwill- kürlich die reiche Ausstattung seines Geistes für ein Werk der Vorsehung ansehen, um dadurch eine neue Zeit in der Entwickelung der christlichen Glaubenslehre herbeizu- führen. Nur ein Gelehrter von der umfassenden Bil- dung Ammon's, der mit dem Besitze der classischen und orientalischen Sprachen und aller damit zusammenhän- genden geschichtlichen und archäologischen Kenntnisse das ganze unermeßliche Gebiet des modernen Wissens verei- nigt, war im Stande, ein solches Buch zu schreiben. Es ist ein Buch, das für alle Zeiten geschrieben ist und hoffentlich allen kommenden Zeitaltern zum Antrieb und Muster dienen wird, Ähnliches zu leisten. Die Jnsel Hongkong. Bekanntlich haben sich die Engländer in dem Frieden mit China die Jnsel Hongkong abtreten lassen. Diese Jnsel ist nach der neuesten Angabe ungefähr acht Miles lang und2 1 / 2 Miles breit. Die sie vom Festlande schei- dende Meerenge hat an einigen Stellen eine Breite von nur einer, an andern Stellen von fünf bis sechs Mi- les. Die den Hafen bildende Bucht ist für die Schiff- fahrt unübertrefflich. Nicht genug, daß sie Raum für eine ungeheure Menge Schiffe hat, ist sie auch so tief, daß ein Linienschiff von 74 Kanonen bis auf die Länge eines Kabeltaus vom Ufer ankern kann, und gewährt außerdem gegen Stürme einen bessern Schutz als irgend ein anderer Hafen Chinas. Das Jnnere der Jnsel be- sitzt zwei wesentliche Dinge: unerschöpflichen, selbst im heißesten Sommer aushaltenden Überfluß an köstlichem Trinkwasser und einen unermeßlichen Reichthum an Gra- nit, der zu Waarenhäusern und Werften das schönste Material liefert. Der blinde Musikus. Aus dem Holländischen. Auf einer Reise, die ich vor mehren Jahren durch Holland machte, traf ich in einem Dorfe Gelderns, vor einem der

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Zitationshilfe: Das Pfennig=Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Neue Folge, Erster Jahrgang, Nr. 38. Leipzig (Sachsen), 23. September 1843, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig038_1843/2>, abgerufen am 01.06.2024.