Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Das Pfennig-Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Dritte Folge, Zweiter Jahrgang, Nr. 84. Leipzig (Sachsen), 3. August 1854.

Bild:
<< vorherige Seite
[Beginn Spaltensatz]

Der Leser wolle uns jedoch die weitere Ausführung
dieses grausigen Bildes erlassen, welchem die Schrecken
der nur erst überstandenen Choleraepidemie kaum zur
Seite gestellt werden können. Ebenso berühren wir
auch nur vorübergehend, wie dies große Sterben an
verschiedenen Orten leider zu einer mehr oder minder
grausamen Verfolgung der Juden Veranlassung gab,
welche durch Vergiftung der Quellen und Brunnen
sowie durch andere böse Mittel die Seuche hervorgeru-
fen haben sollten und darum von dem fanatischen und
nach den Schätzen und Reichthümern der Kinder Jsraels
lüsternen Pöbel mit wahrhaft empörender Wuth ge-
martert wurden. Eine andere, höchst merkwürdige Er-
scheinung im Gefolge der Pestnoth ist es vielmehr,
welche in fast noch höherm Grade als jene Verfolgun-
gen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen
geeignet ist; wir meinen die Überhandnahme und das
Unwesen der Flagellanten oder Geißler in Deutschland
um jene Zeit.

Als Begründer dieser Sekte wird der Einsiedler
Rainer zu Perugia um das Jahr 1260 genannt, der
aus Mistrauen gegen die kirchlichen Heilmittel durch
Geißeln Sündenvergebung zu erlangen hoffte. Und
wie nun nichts ansteckender ist als religiöse Schwär-
merei, so konnte es nicht fehlen, daß er sehr bald fast
an allen Orten Jtaliens zahlreiche Anhänger fand.
Ein Jahr später ( 1261 ) brachen dieselben schon in meh-
ren Scharen über die Alpen in Deutschland ein und
fanden auch hier, namentlich im Elsaß, in Baiern,
Böhmen und Polen viele Nachahmer. So sehr indeß
das Volk dieser neuen Brüderschaft anhing, so wenig
fand sie die Billigung der Fürsten und der höhern
Geistlichkeit, deren entschiedenem Auftreten gegen das
allerdings zum Theil äußerst anstößige Thun und Trei-
ben der Geißler es denn auch gelang, die Sekte bei-
nahe völlig zu unterdrücken. Fast hundert Jahre spä-
ter erst, eben als die furchtbare Pest immer weiter in
Deutschland sich verbreitete, zeigten sich wiederum Geiß-
ler daselbst, und der Wahn, daß Gott jene Krankheit
über das menschliche Geschlecht als Strafe für dessen
Sünde verhängt habe und der vermeintliche Zorn des
höchstens Wesens nur durch harte Büßungen versöhnt
werden könnte, verschaffte der Brüderschaft aufs neue
ungeheuern Zulauf. Leute aus den verschiedensten
Ständen, selbst Priester und Mönche, Weltliche von
Adel und andere mehr versammelten sich zu ihnen.
Wer in die Brüderschaft eintrat, mußte sich wenigstens
34 Tage bei ihnen zu bleiben verpflichten, da sie sich
stets je 33 Tage lang nach der Zahl der 33 Lebens-
jahre Christi zwei mal täglich abgeißelten. Sie näh-
ten sich rothe Kreuze auf ihre meist weißen Kleider,
auch vorn und hinten auf ihre Hüte -- daher sie auch
Kreuzbrüder genannt wurden --, und hielten in der
Regel in feierlicher Procession paarweise, unter Glocken-
geläute und Vortragung ihrer seidenen oder purpurnen
und schön gestickten Fahnen ihren Einzug in den ver-
schiedenen Orten. Da sie sagten, daß sie keine Frauen-
zimmer anrühren dürften, so mußten sich die Einwoh-
nerinnen von der Procession entfernt halten. Sie san-
gen auf ihrem Zuge ein langes Lied ganz im Geiste
jenes finstern Zeitalters, dessen Anfang etwa so lautete:

Nun tretet her die bussen wollen,
Fliehen wir denn die heisse helle,
Lucifer ist ein böß geselle.
Wen er dann behafet,
Mit heissem pech er ihn labet.
Darumb fliehen wir mit ihm zu sein,
Und vermeiden der hellen Pein.
Wer diese busse nun wil pflegen,
[Spaltenumbruch] Der soll gelten und wieder geben.
So wird seine sünde gebußt,
Und sein letztes ende gut.

Wenn sie nun auf Kirchhöfe oder andere geräu-
mige Plätze kamen, so bildeten sie einen weiten Kreis,
in dessen Mitte sie ihre Kleider bis auf das Unterkleid,
sowie die Schuhe ablegten. Ein Tuch oder weißes
Hemd hing um die Hüften und Lenden her bis auf
die Füße herab, sodaß der untere Theil des Körpers
ganz damit bedeckt, der obere Theil aber bis an den
Gürtel entblößt war. So gingen sie im Kreise herum
und legten sich dann auf die Erde nieder, jeder, nach-
dem er gesündigt hatte, in einer andern Stellung, so-
daß man eines Jeden Sünde leicht erkennen konnte.
War er ein Meineidiger, so legte er sich auf die Seite
und reckte die Finger in die Höhe; war er ein Ehe-
brecher, so legte er sich auf den Bauch; war er ein
Vollsäufer, so setzte er die Hand an den Mund, als
ob er tränke; war er ein falscher Spieler, so machte
er es mit der Hand, als wenn er Würfel darin hätte;
die Mörder aber legten sich wie todt auf den Rücken.
Alsdann schritt ihr Meister über Jeden hinweg, be-
rührte ihn mit der Geißel und sang dabei folgende
Verse:

Steh' auf durch der reinen Marter Ehre,
Und hüte dich vor der Sünden mehre.

Jn dieser Weise schritt er über sie Alle dahin;
dann erhob sich einer nach dem andern wieder und
schritt dem Meister nach, bis zuletzt Alle aufgestanden
waren. Hierauf sangen sie:

Nun hebet up all' juwe Hände,
Dat Gott das grote Sterben wende;
Nun hebet up all juwe Arme,
Dat sich Gott öwer ju erbarm!

und schlugen sich mit ihren Geißeln von dreifachen
Riemen, welche vorn Knoten hatten, in denen entwe-
der scharfe Nadeln oder vier eiserne Stacheln kreuzweis
befestigt waren. Damit peitschten sie sich heftig bis
aufs Blut; einzelne jedoch trieben es beiweitem nicht
so arg, sondern schlugen sich so sanft, daß sie es kaum
gefühlt haben mögen. Wenn sie also sich gegeißelt
und ihre Bußlieder gesungen hatten, las einer von ih-
nen einen Brief vor, den, wie sie vorgaben, ein En-
gel vom Himmel herabgebracht haben sollte und in
welchem geschrieben stand, wie Gott erzürnt wäre über
die Sünden der Welt und wie er sie habe wollen un-
tergehen lassen; wie aber seine Mutter und seine Engel
ihn um Erbarmen gebeten hätten u. s. w.

Hierauf kleideten sie sich wieder an; dann aber tra-
ten die Bürger zu ihnen heran und baten sie Alle
mildthätig zu Tische; der eine nahm zwei, der andere
drei, ein dritter vier oder wol noch mehr mit sich,
wie er es ausführen konnte. Vor dem Hause, in
welches sie geladen waren, fielen sie erst auf ihre
Knien nieder und verrichteten ihr Gebet. Sie baten
um nichts; was man ihnen aber freiwillig gab, das
nahmen sie dankbar an.

Bei dieser scheinbaren Heiligkeit waren sie indeß
dennoch nicht rein von Verbrechen; auch erlaubten sich
die zum größten Theile ungelehrten, einfältigen Leute
in ihrer Geißelbuße nicht selten Eingriffe ins Predigt-
amt. Jhre Meinungen und Äußerungen von den
Mönchen, den Geistlichen und den Sacramenten der
Kirche waren anstößig und nur sehr schwer ließen sie
sich zurechtweisen.

Da aber endlich sogar die Weiber hin und wieder
in großer Menge anfingen, in Procession umherzuzie-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Der Leser wolle uns jedoch die weitere Ausführung
dieses grausigen Bildes erlassen, welchem die Schrecken
der nur erst überstandenen Choleraepidemie kaum zur
Seite gestellt werden können. Ebenso berühren wir
auch nur vorübergehend, wie dies große Sterben an
verschiedenen Orten leider zu einer mehr oder minder
grausamen Verfolgung der Juden Veranlassung gab,
welche durch Vergiftung der Quellen und Brunnen
sowie durch andere böse Mittel die Seuche hervorgeru-
fen haben sollten und darum von dem fanatischen und
nach den Schätzen und Reichthümern der Kinder Jsraels
lüsternen Pöbel mit wahrhaft empörender Wuth ge-
martert wurden. Eine andere, höchst merkwürdige Er-
scheinung im Gefolge der Pestnoth ist es vielmehr,
welche in fast noch höherm Grade als jene Verfolgun-
gen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen
geeignet ist; wir meinen die Überhandnahme und das
Unwesen der Flagellanten oder Geißler in Deutschland
um jene Zeit.

Als Begründer dieser Sekte wird der Einsiedler
Rainer zu Perugia um das Jahr 1260 genannt, der
aus Mistrauen gegen die kirchlichen Heilmittel durch
Geißeln Sündenvergebung zu erlangen hoffte. Und
wie nun nichts ansteckender ist als religiöse Schwär-
merei, so konnte es nicht fehlen, daß er sehr bald fast
an allen Orten Jtaliens zahlreiche Anhänger fand.
Ein Jahr später ( 1261 ) brachen dieselben schon in meh-
ren Scharen über die Alpen in Deutschland ein und
fanden auch hier, namentlich im Elsaß, in Baiern,
Böhmen und Polen viele Nachahmer. So sehr indeß
das Volk dieser neuen Brüderschaft anhing, so wenig
fand sie die Billigung der Fürsten und der höhern
Geistlichkeit, deren entschiedenem Auftreten gegen das
allerdings zum Theil äußerst anstößige Thun und Trei-
ben der Geißler es denn auch gelang, die Sekte bei-
nahe völlig zu unterdrücken. Fast hundert Jahre spä-
ter erst, eben als die furchtbare Pest immer weiter in
Deutschland sich verbreitete, zeigten sich wiederum Geiß-
ler daselbst, und der Wahn, daß Gott jene Krankheit
über das menschliche Geschlecht als Strafe für dessen
Sünde verhängt habe und der vermeintliche Zorn des
höchstens Wesens nur durch harte Büßungen versöhnt
werden könnte, verschaffte der Brüderschaft aufs neue
ungeheuern Zulauf. Leute aus den verschiedensten
Ständen, selbst Priester und Mönche, Weltliche von
Adel und andere mehr versammelten sich zu ihnen.
Wer in die Brüderschaft eintrat, mußte sich wenigstens
34 Tage bei ihnen zu bleiben verpflichten, da sie sich
stets je 33 Tage lang nach der Zahl der 33 Lebens-
jahre Christi zwei mal täglich abgeißelten. Sie näh-
ten sich rothe Kreuze auf ihre meist weißen Kleider,
auch vorn und hinten auf ihre Hüte — daher sie auch
Kreuzbrüder genannt wurden —, und hielten in der
Regel in feierlicher Procession paarweise, unter Glocken-
geläute und Vortragung ihrer seidenen oder purpurnen
und schön gestickten Fahnen ihren Einzug in den ver-
schiedenen Orten. Da sie sagten, daß sie keine Frauen-
zimmer anrühren dürften, so mußten sich die Einwoh-
nerinnen von der Procession entfernt halten. Sie san-
gen auf ihrem Zuge ein langes Lied ganz im Geiste
jenes finstern Zeitalters, dessen Anfang etwa so lautete:

Nun tretet her die bussen wollen,
Fliehen wir denn die heisse helle,
Lucifer ist ein böß geselle.
Wen er dann behafet,
Mit heissem pech er ihn labet.
Darumb fliehen wir mit ihm zu sein,
Und vermeiden der hellen Pein.
Wer diese busse nun wil pflegen,
[Spaltenumbruch] Der soll gelten und wieder geben.
So wird seine sünde gebußt,
Und sein letztes ende gut.

Wenn sie nun auf Kirchhöfe oder andere geräu-
mige Plätze kamen, so bildeten sie einen weiten Kreis,
in dessen Mitte sie ihre Kleider bis auf das Unterkleid,
sowie die Schuhe ablegten. Ein Tuch oder weißes
Hemd hing um die Hüften und Lenden her bis auf
die Füße herab, sodaß der untere Theil des Körpers
ganz damit bedeckt, der obere Theil aber bis an den
Gürtel entblößt war. So gingen sie im Kreise herum
und legten sich dann auf die Erde nieder, jeder, nach-
dem er gesündigt hatte, in einer andern Stellung, so-
daß man eines Jeden Sünde leicht erkennen konnte.
War er ein Meineidiger, so legte er sich auf die Seite
und reckte die Finger in die Höhe; war er ein Ehe-
brecher, so legte er sich auf den Bauch; war er ein
Vollsäufer, so setzte er die Hand an den Mund, als
ob er tränke; war er ein falscher Spieler, so machte
er es mit der Hand, als wenn er Würfel darin hätte;
die Mörder aber legten sich wie todt auf den Rücken.
Alsdann schritt ihr Meister über Jeden hinweg, be-
rührte ihn mit der Geißel und sang dabei folgende
Verse:

Steh' auf durch der reinen Marter Ehre,
Und hüte dich vor der Sünden mehre.

Jn dieser Weise schritt er über sie Alle dahin;
dann erhob sich einer nach dem andern wieder und
schritt dem Meister nach, bis zuletzt Alle aufgestanden
waren. Hierauf sangen sie:

Nun hebet up all' juwe Hände,
Dat Gott das grote Sterben wende;
Nun hebet up all juwe Arme,
Dat sich Gott öwer ju erbarm!

und schlugen sich mit ihren Geißeln von dreifachen
Riemen, welche vorn Knoten hatten, in denen entwe-
der scharfe Nadeln oder vier eiserne Stacheln kreuzweis
befestigt waren. Damit peitschten sie sich heftig bis
aufs Blut; einzelne jedoch trieben es beiweitem nicht
so arg, sondern schlugen sich so sanft, daß sie es kaum
gefühlt haben mögen. Wenn sie also sich gegeißelt
und ihre Bußlieder gesungen hatten, las einer von ih-
nen einen Brief vor, den, wie sie vorgaben, ein En-
gel vom Himmel herabgebracht haben sollte und in
welchem geschrieben stand, wie Gott erzürnt wäre über
die Sünden der Welt und wie er sie habe wollen un-
tergehen lassen; wie aber seine Mutter und seine Engel
ihn um Erbarmen gebeten hätten u. s. w.

Hierauf kleideten sie sich wieder an; dann aber tra-
ten die Bürger zu ihnen heran und baten sie Alle
mildthätig zu Tische; der eine nahm zwei, der andere
drei, ein dritter vier oder wol noch mehr mit sich,
wie er es ausführen konnte. Vor dem Hause, in
welches sie geladen waren, fielen sie erst auf ihre
Knien nieder und verrichteten ihr Gebet. Sie baten
um nichts; was man ihnen aber freiwillig gab, das
nahmen sie dankbar an.

Bei dieser scheinbaren Heiligkeit waren sie indeß
dennoch nicht rein von Verbrechen; auch erlaubten sich
die zum größten Theile ungelehrten, einfältigen Leute
in ihrer Geißelbuße nicht selten Eingriffe ins Predigt-
amt. Jhre Meinungen und Äußerungen von den
Mönchen, den Geistlichen und den Sacramenten der
Kirche waren anstößig und nur sehr schwer ließen sie
sich zurechtweisen.

Da aber endlich sogar die Weiber hin und wieder
in großer Menge anfingen, in Procession umherzuzie-
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <pb facs="#f0006" n="254"/>
        <fw type="pageNum" place="top">254</fw>
        <cb type="start"/>
        <p>Der Leser wolle uns jedoch die weitere Ausführung<lb/>
dieses grausigen Bildes erlassen, welchem die Schrecken<lb/>
der nur erst überstandenen Choleraepidemie kaum zur<lb/>
Seite gestellt werden können. Ebenso berühren wir<lb/>
auch nur vorübergehend, wie dies große Sterben an<lb/>
verschiedenen Orten leider zu einer mehr oder minder<lb/>
grausamen Verfolgung der Juden Veranlassung gab,<lb/>
welche durch Vergiftung der Quellen und Brunnen<lb/>
sowie durch andere böse Mittel die Seuche hervorgeru-<lb/>
fen haben sollten und darum von dem fanatischen und<lb/>
nach den Schätzen und Reichthümern der Kinder Jsraels<lb/>
lüsternen Pöbel mit wahrhaft empörender Wuth ge-<lb/>
martert wurden. Eine andere, höchst merkwürdige Er-<lb/>
scheinung im Gefolge der Pestnoth ist es vielmehr,<lb/>
welche in fast noch höherm Grade als jene Verfolgun-<lb/>
gen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen<lb/>
geeignet ist; wir meinen die Überhandnahme und das<lb/>
Unwesen der Flagellanten oder Geißler in Deutschland<lb/>
um jene Zeit.</p><lb/>
        <p>Als Begründer dieser Sekte wird der Einsiedler<lb/>
Rainer zu Perugia um das Jahr 1260 genannt, der<lb/>
aus Mistrauen gegen die kirchlichen Heilmittel durch<lb/>
Geißeln Sündenvergebung zu erlangen hoffte. Und<lb/>
wie nun nichts ansteckender ist als religiöse Schwär-<lb/>
merei, so konnte es nicht fehlen, daß er sehr bald fast<lb/>
an allen Orten Jtaliens zahlreiche Anhänger fand.<lb/>
Ein Jahr später ( 1261 ) brachen dieselben schon in meh-<lb/>
ren Scharen über die Alpen in Deutschland ein und<lb/>
fanden auch hier, namentlich im Elsaß, in Baiern,<lb/>
Böhmen und Polen viele Nachahmer. So sehr indeß<lb/>
das Volk dieser neuen Brüderschaft anhing, so wenig<lb/>
fand sie die Billigung der Fürsten und der höhern<lb/>
Geistlichkeit, deren entschiedenem Auftreten gegen das<lb/>
allerdings zum Theil äußerst anstößige Thun und Trei-<lb/>
ben der Geißler es denn auch gelang, die Sekte bei-<lb/>
nahe völlig zu unterdrücken. Fast hundert Jahre spä-<lb/>
ter erst, eben als die furchtbare Pest immer weiter in<lb/>
Deutschland sich verbreitete, zeigten sich wiederum Geiß-<lb/>
ler daselbst, und der Wahn, daß Gott jene Krankheit<lb/>
über das menschliche Geschlecht als Strafe für dessen<lb/>
Sünde verhängt habe und der vermeintliche Zorn des<lb/>
höchstens Wesens nur durch harte Büßungen versöhnt<lb/>
werden könnte, verschaffte der Brüderschaft aufs neue<lb/>
ungeheuern Zulauf. Leute aus den verschiedensten<lb/>
Ständen, selbst Priester und Mönche, Weltliche von<lb/>
Adel und andere mehr versammelten sich zu ihnen.<lb/>
Wer in die Brüderschaft eintrat, mußte sich wenigstens<lb/>
34 Tage bei ihnen zu bleiben verpflichten, da sie sich<lb/>
stets je 33 Tage lang nach der Zahl der 33 Lebens-<lb/>
jahre Christi zwei mal täglich abgeißelten. Sie näh-<lb/>
ten sich rothe Kreuze auf ihre meist weißen Kleider,<lb/>
auch vorn und hinten auf ihre Hüte &#x2014; daher sie auch<lb/>
Kreuzbrüder genannt wurden &#x2014;, und hielten in der<lb/>
Regel in feierlicher Procession paarweise, unter Glocken-<lb/>
geläute und Vortragung ihrer seidenen oder purpurnen<lb/>
und schön gestickten Fahnen ihren Einzug in den ver-<lb/>
schiedenen Orten. Da sie sagten, daß sie keine Frauen-<lb/>
zimmer anrühren dürften, so mußten sich die Einwoh-<lb/>
nerinnen von der Procession entfernt halten. Sie san-<lb/>
gen auf ihrem Zuge ein langes Lied ganz im Geiste<lb/>
jenes finstern Zeitalters, dessen Anfang etwa so lautete:</p><lb/>
        <lg>
          <l>Nun tretet her die bussen wollen,</l><lb/>
          <l>Fliehen wir denn die heisse helle,</l><lb/>
          <l>Lucifer ist ein böß geselle.</l><lb/>
          <l>Wen er dann behafet,</l><lb/>
          <l>Mit heissem pech er ihn labet.</l><lb/>
          <l>Darumb fliehen wir mit ihm zu sein,</l><lb/>
          <l>Und vermeiden der hellen Pein.</l><lb/>
          <l>Wer diese busse nun wil pflegen,</l><lb/>
          <cb n="2"/>
          <l>Der soll gelten und wieder geben.</l><lb/>
          <l>So wird seine sünde gebußt,</l><lb/>
          <l>Und sein letztes ende gut.</l>
        </lg><lb/>
        <p>Wenn sie nun auf Kirchhöfe oder andere geräu-<lb/>
mige Plätze kamen, so bildeten sie einen weiten Kreis,<lb/>
in dessen Mitte sie ihre Kleider bis auf das Unterkleid,<lb/>
sowie die Schuhe ablegten. Ein Tuch oder weißes<lb/>
Hemd hing um die Hüften und Lenden her bis auf<lb/>
die Füße herab, sodaß der untere Theil des Körpers<lb/>
ganz damit bedeckt, der obere Theil aber bis an den<lb/>
Gürtel entblößt war. So gingen sie im Kreise herum<lb/>
und legten sich dann auf die Erde nieder, jeder, nach-<lb/>
dem er gesündigt hatte, in einer andern Stellung, so-<lb/>
daß man eines Jeden Sünde leicht erkennen konnte.<lb/>
War er ein Meineidiger, so legte er sich auf die Seite<lb/>
und reckte die Finger in die Höhe; war er ein Ehe-<lb/>
brecher, so legte er sich auf den Bauch; war er ein<lb/>
Vollsäufer, so setzte er die Hand an den Mund, als<lb/>
ob er tränke; war er ein falscher Spieler, so machte<lb/>
er es mit der Hand, als wenn er Würfel darin hätte;<lb/>
die Mörder aber legten sich wie todt auf den Rücken.<lb/>
Alsdann schritt ihr Meister über Jeden hinweg, be-<lb/>
rührte ihn mit der Geißel und sang dabei folgende<lb/>
Verse:</p><lb/>
        <lg>
          <l>Steh' auf durch der reinen Marter Ehre,</l><lb/>
          <l>Und hüte dich vor der Sünden mehre.</l>
        </lg><lb/>
        <p>Jn dieser Weise schritt er über sie Alle dahin;<lb/>
dann erhob sich einer nach dem andern wieder und<lb/>
schritt dem Meister nach, bis zuletzt Alle aufgestanden<lb/>
waren. Hierauf sangen sie:</p><lb/>
        <lg>
          <l>Nun hebet up all' juwe Hände,</l><lb/>
          <l>Dat Gott das grote Sterben wende;</l><lb/>
          <l>Nun hebet up all juwe Arme,</l><lb/>
          <l>Dat sich Gott öwer ju erbarm!</l>
        </lg><lb/>
        <p>und schlugen sich mit ihren Geißeln von dreifachen<lb/>
Riemen, welche vorn Knoten hatten, in denen entwe-<lb/>
der scharfe Nadeln oder vier eiserne Stacheln kreuzweis<lb/>
befestigt waren. Damit peitschten sie sich heftig bis<lb/>
aufs Blut; einzelne jedoch trieben es beiweitem nicht<lb/>
so arg, sondern schlugen sich so sanft, daß sie es kaum<lb/>
gefühlt haben mögen. Wenn sie also sich gegeißelt<lb/>
und ihre Bußlieder gesungen hatten, las einer von ih-<lb/>
nen einen Brief vor, den, wie sie vorgaben, ein En-<lb/>
gel vom Himmel herabgebracht haben sollte und in<lb/>
welchem geschrieben stand, wie Gott erzürnt wäre über<lb/>
die Sünden der Welt und wie er sie habe wollen un-<lb/>
tergehen lassen; wie aber seine Mutter und seine Engel<lb/>
ihn um Erbarmen gebeten hätten u. s. w.</p><lb/>
        <p>Hierauf kleideten sie sich wieder an; dann aber tra-<lb/>
ten die Bürger zu ihnen heran und baten sie Alle<lb/>
mildthätig zu Tische; der eine nahm zwei, der andere<lb/>
drei, ein dritter vier oder wol noch mehr mit sich,<lb/>
wie er es ausführen konnte. Vor dem Hause, in<lb/>
welches sie geladen waren, fielen sie erst auf ihre<lb/>
Knien nieder und verrichteten ihr Gebet. Sie baten<lb/>
um nichts; was man ihnen aber freiwillig gab, das<lb/>
nahmen sie dankbar an.</p><lb/>
        <p>Bei dieser scheinbaren Heiligkeit waren sie indeß<lb/>
dennoch nicht rein von Verbrechen; auch erlaubten sich<lb/>
die zum größten Theile ungelehrten, einfältigen Leute<lb/>
in ihrer Geißelbuße nicht selten Eingriffe ins Predigt-<lb/>
amt. Jhre Meinungen und Äußerungen von den<lb/>
Mönchen, den Geistlichen und den Sacramenten der<lb/>
Kirche waren anstößig und nur sehr schwer ließen sie<lb/>
sich zurechtweisen.</p><lb/>
        <p>Da aber endlich sogar die Weiber hin und wieder<lb/>
in großer Menge anfingen, in Procession umherzuzie-<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0006] 254 Der Leser wolle uns jedoch die weitere Ausführung dieses grausigen Bildes erlassen, welchem die Schrecken der nur erst überstandenen Choleraepidemie kaum zur Seite gestellt werden können. Ebenso berühren wir auch nur vorübergehend, wie dies große Sterben an verschiedenen Orten leider zu einer mehr oder minder grausamen Verfolgung der Juden Veranlassung gab, welche durch Vergiftung der Quellen und Brunnen sowie durch andere böse Mittel die Seuche hervorgeru- fen haben sollten und darum von dem fanatischen und nach den Schätzen und Reichthümern der Kinder Jsraels lüsternen Pöbel mit wahrhaft empörender Wuth ge- martert wurden. Eine andere, höchst merkwürdige Er- scheinung im Gefolge der Pestnoth ist es vielmehr, welche in fast noch höherm Grade als jene Verfolgun- gen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen geeignet ist; wir meinen die Überhandnahme und das Unwesen der Flagellanten oder Geißler in Deutschland um jene Zeit. Als Begründer dieser Sekte wird der Einsiedler Rainer zu Perugia um das Jahr 1260 genannt, der aus Mistrauen gegen die kirchlichen Heilmittel durch Geißeln Sündenvergebung zu erlangen hoffte. Und wie nun nichts ansteckender ist als religiöse Schwär- merei, so konnte es nicht fehlen, daß er sehr bald fast an allen Orten Jtaliens zahlreiche Anhänger fand. Ein Jahr später ( 1261 ) brachen dieselben schon in meh- ren Scharen über die Alpen in Deutschland ein und fanden auch hier, namentlich im Elsaß, in Baiern, Böhmen und Polen viele Nachahmer. So sehr indeß das Volk dieser neuen Brüderschaft anhing, so wenig fand sie die Billigung der Fürsten und der höhern Geistlichkeit, deren entschiedenem Auftreten gegen das allerdings zum Theil äußerst anstößige Thun und Trei- ben der Geißler es denn auch gelang, die Sekte bei- nahe völlig zu unterdrücken. Fast hundert Jahre spä- ter erst, eben als die furchtbare Pest immer weiter in Deutschland sich verbreitete, zeigten sich wiederum Geiß- ler daselbst, und der Wahn, daß Gott jene Krankheit über das menschliche Geschlecht als Strafe für dessen Sünde verhängt habe und der vermeintliche Zorn des höchstens Wesens nur durch harte Büßungen versöhnt werden könnte, verschaffte der Brüderschaft aufs neue ungeheuern Zulauf. Leute aus den verschiedensten Ständen, selbst Priester und Mönche, Weltliche von Adel und andere mehr versammelten sich zu ihnen. Wer in die Brüderschaft eintrat, mußte sich wenigstens 34 Tage bei ihnen zu bleiben verpflichten, da sie sich stets je 33 Tage lang nach der Zahl der 33 Lebens- jahre Christi zwei mal täglich abgeißelten. Sie näh- ten sich rothe Kreuze auf ihre meist weißen Kleider, auch vorn und hinten auf ihre Hüte — daher sie auch Kreuzbrüder genannt wurden —, und hielten in der Regel in feierlicher Procession paarweise, unter Glocken- geläute und Vortragung ihrer seidenen oder purpurnen und schön gestickten Fahnen ihren Einzug in den ver- schiedenen Orten. Da sie sagten, daß sie keine Frauen- zimmer anrühren dürften, so mußten sich die Einwoh- nerinnen von der Procession entfernt halten. Sie san- gen auf ihrem Zuge ein langes Lied ganz im Geiste jenes finstern Zeitalters, dessen Anfang etwa so lautete: Nun tretet her die bussen wollen, Fliehen wir denn die heisse helle, Lucifer ist ein böß geselle. Wen er dann behafet, Mit heissem pech er ihn labet. Darumb fliehen wir mit ihm zu sein, Und vermeiden der hellen Pein. Wer diese busse nun wil pflegen, Der soll gelten und wieder geben. So wird seine sünde gebußt, Und sein letztes ende gut. Wenn sie nun auf Kirchhöfe oder andere geräu- mige Plätze kamen, so bildeten sie einen weiten Kreis, in dessen Mitte sie ihre Kleider bis auf das Unterkleid, sowie die Schuhe ablegten. Ein Tuch oder weißes Hemd hing um die Hüften und Lenden her bis auf die Füße herab, sodaß der untere Theil des Körpers ganz damit bedeckt, der obere Theil aber bis an den Gürtel entblößt war. So gingen sie im Kreise herum und legten sich dann auf die Erde nieder, jeder, nach- dem er gesündigt hatte, in einer andern Stellung, so- daß man eines Jeden Sünde leicht erkennen konnte. War er ein Meineidiger, so legte er sich auf die Seite und reckte die Finger in die Höhe; war er ein Ehe- brecher, so legte er sich auf den Bauch; war er ein Vollsäufer, so setzte er die Hand an den Mund, als ob er tränke; war er ein falscher Spieler, so machte er es mit der Hand, als wenn er Würfel darin hätte; die Mörder aber legten sich wie todt auf den Rücken. Alsdann schritt ihr Meister über Jeden hinweg, be- rührte ihn mit der Geißel und sang dabei folgende Verse: Steh' auf durch der reinen Marter Ehre, Und hüte dich vor der Sünden mehre. Jn dieser Weise schritt er über sie Alle dahin; dann erhob sich einer nach dem andern wieder und schritt dem Meister nach, bis zuletzt Alle aufgestanden waren. Hierauf sangen sie: Nun hebet up all' juwe Hände, Dat Gott das grote Sterben wende; Nun hebet up all juwe Arme, Dat sich Gott öwer ju erbarm! und schlugen sich mit ihren Geißeln von dreifachen Riemen, welche vorn Knoten hatten, in denen entwe- der scharfe Nadeln oder vier eiserne Stacheln kreuzweis befestigt waren. Damit peitschten sie sich heftig bis aufs Blut; einzelne jedoch trieben es beiweitem nicht so arg, sondern schlugen sich so sanft, daß sie es kaum gefühlt haben mögen. Wenn sie also sich gegeißelt und ihre Bußlieder gesungen hatten, las einer von ih- nen einen Brief vor, den, wie sie vorgaben, ein En- gel vom Himmel herabgebracht haben sollte und in welchem geschrieben stand, wie Gott erzürnt wäre über die Sünden der Welt und wie er sie habe wollen un- tergehen lassen; wie aber seine Mutter und seine Engel ihn um Erbarmen gebeten hätten u. s. w. Hierauf kleideten sie sich wieder an; dann aber tra- ten die Bürger zu ihnen heran und baten sie Alle mildthätig zu Tische; der eine nahm zwei, der andere drei, ein dritter vier oder wol noch mehr mit sich, wie er es ausführen konnte. Vor dem Hause, in welches sie geladen waren, fielen sie erst auf ihre Knien nieder und verrichteten ihr Gebet. Sie baten um nichts; was man ihnen aber freiwillig gab, das nahmen sie dankbar an. Bei dieser scheinbaren Heiligkeit waren sie indeß dennoch nicht rein von Verbrechen; auch erlaubten sich die zum größten Theile ungelehrten, einfältigen Leute in ihrer Geißelbuße nicht selten Eingriffe ins Predigt- amt. Jhre Meinungen und Äußerungen von den Mönchen, den Geistlichen und den Sacramenten der Kirche waren anstößig und nur sehr schwer ließen sie sich zurechtweisen. Da aber endlich sogar die Weiber hin und wieder in großer Menge anfingen, in Procession umherzuzie-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und TEI Transkription
Peter Fankhauser: Transformation von TUSTEP nach TEI P5. Transformation von TEI P5 in das DTA TEI P5 Format.

Weitere Informationen:

Siehe Dokumentation




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig084_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig084_1854/6
Zitationshilfe: Das Pfennig-Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Dritte Folge, Zweiter Jahrgang, Nr. 84. Leipzig (Sachsen), 3. August 1854, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig084_1854/6>, abgerufen am 02.06.2024.