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Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 45
[Beginn Spaltensatz] des Stärkeren anzusehen. Die Plüscharbeiter nahmen die Hülfe
ihrer Gefährten in den andern Arbeitszweigen in Anspruch, und
nun warf die mutualistische Gesellschaft die Frage einer allge-
meinen Einstellung der Arbeit auf.

Vom Gesichtspunkt der materiellen Erfolge aus war die
Maßregel unheilvoll; ihrem moralischen Eindrucke nach war sie
großartig. Läßt sich etwas Rührenderes denken, als zu sehen,
wie 50,000 Arbeiter plötzlich die Arbeit aufgeben und sich in
die härtesten Entbehrungen ergeben, um 1200 ihrer unglücklichsten
Brüder gegen eine Verletzung zu schützen? Wäre es den Arbeitern
möglich gewesen, diesen Strike siegreich durchzuführen, so würde
es eine unberechenbare Wichtigkeit gehabt haben.

Da eine große Anzahl der Arbeiter nicht zur Association ge-
hörte, so schickte diese in alle Viertel der Stadt Abgeordnete,
um die ganze Fabrikation dem gemeinschaftlichen Gesetze zu unter-
werfen. Einige Arbeiter wollten widerstehen: man drohte ihnen.
Der Strike war am 12. Februar ausgesprochen worden; 2 Tage
später hatten 20,000 Webestühle ihre Arbeit eingestellt.

Wie soll man die Bestürzung schildern, welche sich bei dieser
Nachricht in der Stadt verbreitete! Es schien, als ob sich das
Gespenst des November plötzlich vor den erschreckten Phan-
tasieen erhebe. Ueberall sah man unruhige oder drohende
Gesichter. Alle fühlten sich durch die schwüle Luft bedrückt,
welche einem Sturme vorauszugehen pflegt. Jeden Tag füllte
sich der Platz des Terreaux mit Gruppen, die einen mehr düstern
als belebten Anblick boten; mehrere Fabrikanten, die von Furcht
ergriffen wurden, hatten ihre Geschäfte eingestellt, ihre Häuser
geschlossen und suchten ein Asyl auf dem Lande.

Andere blieben, und diese, weit entfernt, sich der Furcht zu
überlassen, feuerten sich vielmehr zu wildem Jngrimme an, indem
sie sagten, es sei die Zeit gekommen, wo man der Sache ein
Ende machen müsse; sie hätten seit dem November eine Genug-
thuung zu fordern; der Grund der Frechheit, welche die Mutua-
listen entfaltet hätten, sei in der Erinnerung an den beklagens-
werthen Sieg zu suchen; und es sei dringend nöthig, denselben
eine ordentliche Lehre zu geben. Dieß waren die Ausdrücke, deren
sich der Courrier de Lyon, das leidenschaftliche Organ der indu-
striellen Aristokratie, bediente.

Und diese Gesinnung stimmte nur zu sehr mit jener der Be-
hörde überein. Der Regierung war es nicht unbekannt geblieben,
daß die republikanische Partei mit einer ungeheuren Arbeit der
Organisation beschäftigt war. Sie sah, wie die Gesellschaft der
Menschenrechte sich ausbreitete, immer kühner wurde, sich dis-
ziplinirte und ihr Netz selbst über die Städte zweiten und dritten
Ranges auswarf; sie sah voraus, daß das bevorstehende Gesetz,
welches das Vereinsrecht aufhob, das Signal zum Widerstande
werden müßte, der, wenn er gleichzeitig und in Folge des von
der Hauptstadt ausgegangenen Befehls auf allen Punkten des
Reiches zum Ausbruch käme, das Land in Feuer setzen und die
Monarchie an den Rand des Abgrundes bringen mußte. Daher
der Eifer, mit welchem sie der Krisis entgegenging. Da es un-
möglich war, die Schlacht zu vermeiden, so war es besser, sie in
einem Augenblicke zu liefern, wo man noch Herr der Umstände,
des Augenblicks, der Waffen und des Terrains war. Da man
entweder die republikanische Partei niederschmettern oder ihren
Streichen erliegen mußte, so war es am besten, sie inmitten einer
unvollendeten Organisation anzugreifen, ehe sie noch ihre Parole
über ganz Frankreich verbreitet und ihre Vorbereitungen beendet.
Lyon mußte der Regierung besser zum Schlachtfelde geeignet
scheinen als Paris, da Paris durch die Centralisation das Pri-
vilegium erhalten hatte, allein entscheidende Siege in Revolutions-
zeiten davon zu tragen.

Daher hatten die Fabrikanten und die Staatsgewalt ein
gleiches Jnteresse, die Lösung zu beschleunigen; die Ersteren, um
ihre Macht auf eine definitive Weise festzustellen und um ihren
gedehmüthigten Stolz durch Rache zu sättigen; die Zweite, um
ihren Feinden keine Zeit zur Vorbereitung und zur Aufstellung
ihrer Schlachtlinie zu lassen.

Jnzwischen suchten, da eine Hoffnung auf baldige siegreiche
Revolution kaum gefaßt werden konnte, die Führer der französi-
schen social=demokratischen Republikaner die Arbeiter von einem
Aufstande fern zu halten. Buonarotti und Cabet thaten beide
ihr Möglichstes, während anderseits später entlarvte Polizeispione,
z. B. ein gewisser Marcet, in Lyon Putsche zu organisiren
suchten. Jene beruhigenden Einflüsse gewannen aber die Ober-
hand, und da die Arbeitseinstellung fehl schlug, so suchte man
wenigstens zu hindern, daß sie mit einem Aufstande ende.

[Spaltenumbruch]

Der vollziehende Rath der Mutualisten war zur Einstellung
des Strikes geneigt; aber er konnte keine Befehle geben. Jndeß,
nach den Vorstellungen der Republikaner, überschritt er seine
Vollmachten, befahl die Wiederaufnahme der Arbeiten und fand
Gehorsam. Am 22. Februar 1834 arbeiteten wieder alle Webe-
stühle in Lyon.

Die Ruhe war wiedergekehrt. Aber bald vernahm man das
Gesetz gegen die Vereine, und das Volk wurde nun gewaltsam
in den Aufruhr zurückgeschleudert. Ein schrecklicher Schrei des
Zorns ward von allen Korporationen ausgestoßen; die Mutualisten
sehen sich direkt bedroht und versammeln sich tumultuarisch. Das
Echo des Fabri ques macht einen Protest bekannt. Derselbe
hatte 2540 Unterschriften und schloß mit den Worten: "Die
Mutualisten erklären, daß sie ihr Haupt nicht unter ein so ent-
würdigendes Joch beugen werden; sie erklären, daß sie ihre Ver-
sammlungen nicht aussetzen werden. Gestützt auf das unverletz-
lichste Recht, nämlich das Recht, arbeitend zu leben, werden sie
mit der Energie, die freien Menschen eigen ist, jedem rohen
Eingriffe widerstehen und bei der Vertheidigung eines Rechts,
das ihnen keine menschliche Macht entreißen kann, vor keinem
Opfer zurückbeben."

Die Staatsgewalt schien indeß den Bürgerkrieg in Lyon
herbeiführen zu wollen. So lange die Arbeitseinstellung gedauert
hatte, war kein Arbeiter verhaftet worden. Nach der Wiederauf-
nahme der Arbeit und zu einer Zeit, wo man es am wenigsten
erwartete, wurden sechs Arbeiter als Anführer der Koalition ins
Gefängniß gebracht. Jn der Croix=Rousse, in St. Georges, in
St. Just entsteht allgemeiner Unwille, und man feuert sich zum
Widerstande an. "Auch wir waren Mitglieder des voll-
ziehenden Rathes," schreiben zwanzig Werkführer an den Staats-
anwalt, "wir wollen das Schicksal unserer Gefährten theilen."

Das Gesetz gegen die Vereine lastete auf den gewerklichen
wie auf den politischen Gesellschaften; der Gedanke des Wider-
standes wird allgemein. Mutualisten, Schneider, Schuhmacher,
Hutmacher, Handwerker jeder Art und die Mitglieder der Ge-
sellschaft der Menschenrechte sind Alle Soldaten derselben Sache
geworden. Es findet kein Bedenken, kein Mißtrauen mehr statt.
Alle wollen: " Es lebe die Republik! " rufen und kämpfen.
Girard, einer der Anführer des vollziehenden Raths der Mutua-
listen, hat die Jnitiative ergriffen. Die verschiedenen Korpora-
tionen ordnen Mitglieder aus ihrer Mitte ab, um dem gemein-
schaftlichen Hasse eine gemeinschaftliche Richtung zu geben, und
man bildet einen Gesammtausschuß.

Der Lyoner Zweig der Gesellschaft der Menschenrechte unter
der Führung der Social=Demokraten, Baune, Martin, Albert
und Lagrange, war natürlich der Kern der Bewegung.

Der Kampf ward jetzt unvermeidlich. Es war ein Ver-
zweiflungskampf, aber einige Hoffnung auf Sieg hatten die
Social=Demokraten.

Einmal stand die ganze Arbeiterklasse fest zu ihnen, sodann
hofften sie, das Militär nicht nur durch Gewalt zu besiegen,
sondern auch für die Volkssache zu gewinnen.

Der Ausschuß der Gesellschaft der Menschenrechte hatte Ver-
bindungen in fast allen Regimentern, namentlich in der Ar-
tillerie; und diese Verbindungen waren so innig, daß Herr Baune
Stunde für Stunde von den Bewegungen desselben unterrichtet
wurde.

Dieß war der Zustand der Dinge und der Gemüther, als
der 5. April, der Tag des Gerichts für die gefangenen Mutua-
listen, herankam. Um das Benehmen ihrer Anführer zu feiern
und vielleicht auch um die Richter zu schrecken, hatte sich eine
große Anzahl von Mutualisten auf dem Platze St. Jean ver-
sammelt, an welchem das Korrektions=Tribunal liegt. Uebrigens
ist dies nur eine Demonstration, und man will sich vor den
Provokationen der Polizeiagenten sorgfältig hüten. Aber die
Anwesenheit eines Zeugen, welcher des Meineides beschuldigt
wird, und die Unverschämtheit eines Gensd'armen bringen die
Menge in Aufruhr. Der Staatsanwalt kommt herbei: man ver-
höhnt ihn, man stoßt ihn; der Gensd'arm wird unter Drohungen
verfolgt, und als Soldaten zum Vorschein kommen, rufen
die Arbeiter: "Nieder mit den Bajonnetten!" Die Soldaten
folgen dieser Aufforderung, und einige von ihnen fraternisiren
sogar mit dem Volke auf dem Platze St. Jean und im Hofe
des Palastes.

An diesem Tage war ein Mutualist gestorben: am folgenden
Tage geleiteten ihn 8000 Arbeiter zu Grabe und zogen langsam
durch die Stadt, welche dieser Trauerzug erschreckte.

[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 45
[Beginn Spaltensatz] des Stärkeren anzusehen. Die Plüscharbeiter nahmen die Hülfe
ihrer Gefährten in den andern Arbeitszweigen in Anspruch, und
nun warf die mutualistische Gesellschaft die Frage einer allge-
meinen Einstellung der Arbeit auf.

Vom Gesichtspunkt der materiellen Erfolge aus war die
Maßregel unheilvoll; ihrem moralischen Eindrucke nach war sie
großartig. Läßt sich etwas Rührenderes denken, als zu sehen,
wie 50,000 Arbeiter plötzlich die Arbeit aufgeben und sich in
die härtesten Entbehrungen ergeben, um 1200 ihrer unglücklichsten
Brüder gegen eine Verletzung zu schützen? Wäre es den Arbeitern
möglich gewesen, diesen Strike siegreich durchzuführen, so würde
es eine unberechenbare Wichtigkeit gehabt haben.

Da eine große Anzahl der Arbeiter nicht zur Association ge-
hörte, so schickte diese in alle Viertel der Stadt Abgeordnete,
um die ganze Fabrikation dem gemeinschaftlichen Gesetze zu unter-
werfen. Einige Arbeiter wollten widerstehen: man drohte ihnen.
Der Strike war am 12. Februar ausgesprochen worden; 2 Tage
später hatten 20,000 Webestühle ihre Arbeit eingestellt.

Wie soll man die Bestürzung schildern, welche sich bei dieser
Nachricht in der Stadt verbreitete! Es schien, als ob sich das
Gespenst des November plötzlich vor den erschreckten Phan-
tasieen erhebe. Ueberall sah man unruhige oder drohende
Gesichter. Alle fühlten sich durch die schwüle Luft bedrückt,
welche einem Sturme vorauszugehen pflegt. Jeden Tag füllte
sich der Platz des Terreaux mit Gruppen, die einen mehr düstern
als belebten Anblick boten; mehrere Fabrikanten, die von Furcht
ergriffen wurden, hatten ihre Geschäfte eingestellt, ihre Häuser
geschlossen und suchten ein Asyl auf dem Lande.

Andere blieben, und diese, weit entfernt, sich der Furcht zu
überlassen, feuerten sich vielmehr zu wildem Jngrimme an, indem
sie sagten, es sei die Zeit gekommen, wo man der Sache ein
Ende machen müsse; sie hätten seit dem November eine Genug-
thuung zu fordern; der Grund der Frechheit, welche die Mutua-
listen entfaltet hätten, sei in der Erinnerung an den beklagens-
werthen Sieg zu suchen; und es sei dringend nöthig, denselben
eine ordentliche Lehre zu geben. Dieß waren die Ausdrücke, deren
sich der Courrier de Lyon, das leidenschaftliche Organ der indu-
striellen Aristokratie, bediente.

Und diese Gesinnung stimmte nur zu sehr mit jener der Be-
hörde überein. Der Regierung war es nicht unbekannt geblieben,
daß die republikanische Partei mit einer ungeheuren Arbeit der
Organisation beschäftigt war. Sie sah, wie die Gesellschaft der
Menschenrechte sich ausbreitete, immer kühner wurde, sich dis-
ziplinirte und ihr Netz selbst über die Städte zweiten und dritten
Ranges auswarf; sie sah voraus, daß das bevorstehende Gesetz,
welches das Vereinsrecht aufhob, das Signal zum Widerstande
werden müßte, der, wenn er gleichzeitig und in Folge des von
der Hauptstadt ausgegangenen Befehls auf allen Punkten des
Reiches zum Ausbruch käme, das Land in Feuer setzen und die
Monarchie an den Rand des Abgrundes bringen mußte. Daher
der Eifer, mit welchem sie der Krisis entgegenging. Da es un-
möglich war, die Schlacht zu vermeiden, so war es besser, sie in
einem Augenblicke zu liefern, wo man noch Herr der Umstände,
des Augenblicks, der Waffen und des Terrains war. Da man
entweder die republikanische Partei niederschmettern oder ihren
Streichen erliegen mußte, so war es am besten, sie inmitten einer
unvollendeten Organisation anzugreifen, ehe sie noch ihre Parole
über ganz Frankreich verbreitet und ihre Vorbereitungen beendet.
Lyon mußte der Regierung besser zum Schlachtfelde geeignet
scheinen als Paris, da Paris durch die Centralisation das Pri-
vilegium erhalten hatte, allein entscheidende Siege in Revolutions-
zeiten davon zu tragen.

Daher hatten die Fabrikanten und die Staatsgewalt ein
gleiches Jnteresse, die Lösung zu beschleunigen; die Ersteren, um
ihre Macht auf eine definitive Weise festzustellen und um ihren
gedehmüthigten Stolz durch Rache zu sättigen; die Zweite, um
ihren Feinden keine Zeit zur Vorbereitung und zur Aufstellung
ihrer Schlachtlinie zu lassen.

Jnzwischen suchten, da eine Hoffnung auf baldige siegreiche
Revolution kaum gefaßt werden konnte, die Führer der französi-
schen social=demokratischen Republikaner die Arbeiter von einem
Aufstande fern zu halten. Buonarotti und Cabet thaten beide
ihr Möglichstes, während anderseits später entlarvte Polizeispione,
z. B. ein gewisser Marcet, in Lyon Putsche zu organisiren
suchten. Jene beruhigenden Einflüsse gewannen aber die Ober-
hand, und da die Arbeitseinstellung fehl schlug, so suchte man
wenigstens zu hindern, daß sie mit einem Aufstande ende.

[Spaltenumbruch]

Der vollziehende Rath der Mutualisten war zur Einstellung
des Strikes geneigt; aber er konnte keine Befehle geben. Jndeß,
nach den Vorstellungen der Republikaner, überschritt er seine
Vollmachten, befahl die Wiederaufnahme der Arbeiten und fand
Gehorsam. Am 22. Februar 1834 arbeiteten wieder alle Webe-
stühle in Lyon.

Die Ruhe war wiedergekehrt. Aber bald vernahm man das
Gesetz gegen die Vereine, und das Volk wurde nun gewaltsam
in den Aufruhr zurückgeschleudert. Ein schrecklicher Schrei des
Zorns ward von allen Korporationen ausgestoßen; die Mutualisten
sehen sich direkt bedroht und versammeln sich tumultuarisch. Das
Echo des Fabri ques macht einen Protest bekannt. Derselbe
hatte 2540 Unterschriften und schloß mit den Worten: „Die
Mutualisten erklären, daß sie ihr Haupt nicht unter ein so ent-
würdigendes Joch beugen werden; sie erklären, daß sie ihre Ver-
sammlungen nicht aussetzen werden. Gestützt auf das unverletz-
lichste Recht, nämlich das Recht, arbeitend zu leben, werden sie
mit der Energie, die freien Menschen eigen ist, jedem rohen
Eingriffe widerstehen und bei der Vertheidigung eines Rechts,
das ihnen keine menschliche Macht entreißen kann, vor keinem
Opfer zurückbeben.“

Die Staatsgewalt schien indeß den Bürgerkrieg in Lyon
herbeiführen zu wollen. So lange die Arbeitseinstellung gedauert
hatte, war kein Arbeiter verhaftet worden. Nach der Wiederauf-
nahme der Arbeit und zu einer Zeit, wo man es am wenigsten
erwartete, wurden sechs Arbeiter als Anführer der Koalition ins
Gefängniß gebracht. Jn der Croix=Rousse, in St. Georges, in
St. Just entsteht allgemeiner Unwille, und man feuert sich zum
Widerstande an. „Auch wir waren Mitglieder des voll-
ziehenden Rathes,“ schreiben zwanzig Werkführer an den Staats-
anwalt, „wir wollen das Schicksal unserer Gefährten theilen.“

Das Gesetz gegen die Vereine lastete auf den gewerklichen
wie auf den politischen Gesellschaften; der Gedanke des Wider-
standes wird allgemein. Mutualisten, Schneider, Schuhmacher,
Hutmacher, Handwerker jeder Art und die Mitglieder der Ge-
sellschaft der Menschenrechte sind Alle Soldaten derselben Sache
geworden. Es findet kein Bedenken, kein Mißtrauen mehr statt.
Alle wollen: „ Es lebe die Republik! “ rufen und kämpfen.
Girard, einer der Anführer des vollziehenden Raths der Mutua-
listen, hat die Jnitiative ergriffen. Die verschiedenen Korpora-
tionen ordnen Mitglieder aus ihrer Mitte ab, um dem gemein-
schaftlichen Hasse eine gemeinschaftliche Richtung zu geben, und
man bildet einen Gesammtausschuß.

Der Lyoner Zweig der Gesellschaft der Menschenrechte unter
der Führung der Social=Demokraten, Baune, Martin, Albert
und Lagrange, war natürlich der Kern der Bewegung.

Der Kampf ward jetzt unvermeidlich. Es war ein Ver-
zweiflungskampf, aber einige Hoffnung auf Sieg hatten die
Social=Demokraten.

Einmal stand die ganze Arbeiterklasse fest zu ihnen, sodann
hofften sie, das Militär nicht nur durch Gewalt zu besiegen,
sondern auch für die Volkssache zu gewinnen.

Der Ausschuß der Gesellschaft der Menschenrechte hatte Ver-
bindungen in fast allen Regimentern, namentlich in der Ar-
tillerie; und diese Verbindungen waren so innig, daß Herr Baune
Stunde für Stunde von den Bewegungen desselben unterrichtet
wurde.

Dieß war der Zustand der Dinge und der Gemüther, als
der 5. April, der Tag des Gerichts für die gefangenen Mutua-
listen, herankam. Um das Benehmen ihrer Anführer zu feiern
und vielleicht auch um die Richter zu schrecken, hatte sich eine
große Anzahl von Mutualisten auf dem Platze St. Jean ver-
sammelt, an welchem das Korrektions=Tribunal liegt. Uebrigens
ist dies nur eine Demonstration, und man will sich vor den
Provokationen der Polizeiagenten sorgfältig hüten. Aber die
Anwesenheit eines Zeugen, welcher des Meineides beschuldigt
wird, und die Unverschämtheit eines Gensd'armen bringen die
Menge in Aufruhr. Der Staatsanwalt kommt herbei: man ver-
höhnt ihn, man stoßt ihn; der Gensd'arm wird unter Drohungen
verfolgt, und als Soldaten zum Vorschein kommen, rufen
die Arbeiter: „Nieder mit den Bajonnetten!“ Die Soldaten
folgen dieser Aufforderung, und einige von ihnen fraternisiren
sogar mit dem Volke auf dem Platze St. Jean und im Hofe
des Palastes.

An diesem Tage war ein Mutualist gestorben: am folgenden
Tage geleiteten ihn 8000 Arbeiter zu Grabe und zogen langsam
durch die Stadt, welche dieser Trauerzug erschreckte.

[Ende Spaltensatz]
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[45/0021] Zur Unterhaltung und Belehrung. 45 des Stärkeren anzusehen. Die Plüscharbeiter nahmen die Hülfe ihrer Gefährten in den andern Arbeitszweigen in Anspruch, und nun warf die mutualistische Gesellschaft die Frage einer allge- meinen Einstellung der Arbeit auf. Vom Gesichtspunkt der materiellen Erfolge aus war die Maßregel unheilvoll; ihrem moralischen Eindrucke nach war sie großartig. Läßt sich etwas Rührenderes denken, als zu sehen, wie 50,000 Arbeiter plötzlich die Arbeit aufgeben und sich in die härtesten Entbehrungen ergeben, um 1200 ihrer unglücklichsten Brüder gegen eine Verletzung zu schützen? Wäre es den Arbeitern möglich gewesen, diesen Strike siegreich durchzuführen, so würde es eine unberechenbare Wichtigkeit gehabt haben. Da eine große Anzahl der Arbeiter nicht zur Association ge- hörte, so schickte diese in alle Viertel der Stadt Abgeordnete, um die ganze Fabrikation dem gemeinschaftlichen Gesetze zu unter- werfen. Einige Arbeiter wollten widerstehen: man drohte ihnen. Der Strike war am 12. Februar ausgesprochen worden; 2 Tage später hatten 20,000 Webestühle ihre Arbeit eingestellt. Wie soll man die Bestürzung schildern, welche sich bei dieser Nachricht in der Stadt verbreitete! Es schien, als ob sich das Gespenst des November plötzlich vor den erschreckten Phan- tasieen erhebe. Ueberall sah man unruhige oder drohende Gesichter. Alle fühlten sich durch die schwüle Luft bedrückt, welche einem Sturme vorauszugehen pflegt. Jeden Tag füllte sich der Platz des Terreaux mit Gruppen, die einen mehr düstern als belebten Anblick boten; mehrere Fabrikanten, die von Furcht ergriffen wurden, hatten ihre Geschäfte eingestellt, ihre Häuser geschlossen und suchten ein Asyl auf dem Lande. Andere blieben, und diese, weit entfernt, sich der Furcht zu überlassen, feuerten sich vielmehr zu wildem Jngrimme an, indem sie sagten, es sei die Zeit gekommen, wo man der Sache ein Ende machen müsse; sie hätten seit dem November eine Genug- thuung zu fordern; der Grund der Frechheit, welche die Mutua- listen entfaltet hätten, sei in der Erinnerung an den beklagens- werthen Sieg zu suchen; und es sei dringend nöthig, denselben eine ordentliche Lehre zu geben. Dieß waren die Ausdrücke, deren sich der Courrier de Lyon, das leidenschaftliche Organ der indu- striellen Aristokratie, bediente. Und diese Gesinnung stimmte nur zu sehr mit jener der Be- hörde überein. Der Regierung war es nicht unbekannt geblieben, daß die republikanische Partei mit einer ungeheuren Arbeit der Organisation beschäftigt war. Sie sah, wie die Gesellschaft der Menschenrechte sich ausbreitete, immer kühner wurde, sich dis- ziplinirte und ihr Netz selbst über die Städte zweiten und dritten Ranges auswarf; sie sah voraus, daß das bevorstehende Gesetz, welches das Vereinsrecht aufhob, das Signal zum Widerstande werden müßte, der, wenn er gleichzeitig und in Folge des von der Hauptstadt ausgegangenen Befehls auf allen Punkten des Reiches zum Ausbruch käme, das Land in Feuer setzen und die Monarchie an den Rand des Abgrundes bringen mußte. Daher der Eifer, mit welchem sie der Krisis entgegenging. Da es un- möglich war, die Schlacht zu vermeiden, so war es besser, sie in einem Augenblicke zu liefern, wo man noch Herr der Umstände, des Augenblicks, der Waffen und des Terrains war. Da man entweder die republikanische Partei niederschmettern oder ihren Streichen erliegen mußte, so war es am besten, sie inmitten einer unvollendeten Organisation anzugreifen, ehe sie noch ihre Parole über ganz Frankreich verbreitet und ihre Vorbereitungen beendet. Lyon mußte der Regierung besser zum Schlachtfelde geeignet scheinen als Paris, da Paris durch die Centralisation das Pri- vilegium erhalten hatte, allein entscheidende Siege in Revolutions- zeiten davon zu tragen. Daher hatten die Fabrikanten und die Staatsgewalt ein gleiches Jnteresse, die Lösung zu beschleunigen; die Ersteren, um ihre Macht auf eine definitive Weise festzustellen und um ihren gedehmüthigten Stolz durch Rache zu sättigen; die Zweite, um ihren Feinden keine Zeit zur Vorbereitung und zur Aufstellung ihrer Schlachtlinie zu lassen. Jnzwischen suchten, da eine Hoffnung auf baldige siegreiche Revolution kaum gefaßt werden konnte, die Führer der französi- schen social=demokratischen Republikaner die Arbeiter von einem Aufstande fern zu halten. Buonarotti und Cabet thaten beide ihr Möglichstes, während anderseits später entlarvte Polizeispione, z. B. ein gewisser Marcet, in Lyon Putsche zu organisiren suchten. Jene beruhigenden Einflüsse gewannen aber die Ober- hand, und da die Arbeitseinstellung fehl schlug, so suchte man wenigstens zu hindern, daß sie mit einem Aufstande ende. Der vollziehende Rath der Mutualisten war zur Einstellung des Strikes geneigt; aber er konnte keine Befehle geben. Jndeß, nach den Vorstellungen der Republikaner, überschritt er seine Vollmachten, befahl die Wiederaufnahme der Arbeiten und fand Gehorsam. Am 22. Februar 1834 arbeiteten wieder alle Webe- stühle in Lyon. Die Ruhe war wiedergekehrt. Aber bald vernahm man das Gesetz gegen die Vereine, und das Volk wurde nun gewaltsam in den Aufruhr zurückgeschleudert. Ein schrecklicher Schrei des Zorns ward von allen Korporationen ausgestoßen; die Mutualisten sehen sich direkt bedroht und versammeln sich tumultuarisch. Das Echo des Fabri ques macht einen Protest bekannt. Derselbe hatte 2540 Unterschriften und schloß mit den Worten: „Die Mutualisten erklären, daß sie ihr Haupt nicht unter ein so ent- würdigendes Joch beugen werden; sie erklären, daß sie ihre Ver- sammlungen nicht aussetzen werden. Gestützt auf das unverletz- lichste Recht, nämlich das Recht, arbeitend zu leben, werden sie mit der Energie, die freien Menschen eigen ist, jedem rohen Eingriffe widerstehen und bei der Vertheidigung eines Rechts, das ihnen keine menschliche Macht entreißen kann, vor keinem Opfer zurückbeben.“ Die Staatsgewalt schien indeß den Bürgerkrieg in Lyon herbeiführen zu wollen. So lange die Arbeitseinstellung gedauert hatte, war kein Arbeiter verhaftet worden. Nach der Wiederauf- nahme der Arbeit und zu einer Zeit, wo man es am wenigsten erwartete, wurden sechs Arbeiter als Anführer der Koalition ins Gefängniß gebracht. Jn der Croix=Rousse, in St. Georges, in St. Just entsteht allgemeiner Unwille, und man feuert sich zum Widerstande an. „Auch wir waren Mitglieder des voll- ziehenden Rathes,“ schreiben zwanzig Werkführer an den Staats- anwalt, „wir wollen das Schicksal unserer Gefährten theilen.“ Das Gesetz gegen die Vereine lastete auf den gewerklichen wie auf den politischen Gesellschaften; der Gedanke des Wider- standes wird allgemein. Mutualisten, Schneider, Schuhmacher, Hutmacher, Handwerker jeder Art und die Mitglieder der Ge- sellschaft der Menschenrechte sind Alle Soldaten derselben Sache geworden. Es findet kein Bedenken, kein Mißtrauen mehr statt. Alle wollen: „ Es lebe die Republik! “ rufen und kämpfen. Girard, einer der Anführer des vollziehenden Raths der Mutua- listen, hat die Jnitiative ergriffen. Die verschiedenen Korpora- tionen ordnen Mitglieder aus ihrer Mitte ab, um dem gemein- schaftlichen Hasse eine gemeinschaftliche Richtung zu geben, und man bildet einen Gesammtausschuß. Der Lyoner Zweig der Gesellschaft der Menschenrechte unter der Führung der Social=Demokraten, Baune, Martin, Albert und Lagrange, war natürlich der Kern der Bewegung. Der Kampf ward jetzt unvermeidlich. Es war ein Ver- zweiflungskampf, aber einige Hoffnung auf Sieg hatten die Social=Demokraten. Einmal stand die ganze Arbeiterklasse fest zu ihnen, sodann hofften sie, das Militär nicht nur durch Gewalt zu besiegen, sondern auch für die Volkssache zu gewinnen. Der Ausschuß der Gesellschaft der Menschenrechte hatte Ver- bindungen in fast allen Regimentern, namentlich in der Ar- tillerie; und diese Verbindungen waren so innig, daß Herr Baune Stunde für Stunde von den Bewegungen desselben unterrichtet wurde. Dieß war der Zustand der Dinge und der Gemüther, als der 5. April, der Tag des Gerichts für die gefangenen Mutua- listen, herankam. Um das Benehmen ihrer Anführer zu feiern und vielleicht auch um die Richter zu schrecken, hatte sich eine große Anzahl von Mutualisten auf dem Platze St. Jean ver- sammelt, an welchem das Korrektions=Tribunal liegt. Uebrigens ist dies nur eine Demonstration, und man will sich vor den Provokationen der Polizeiagenten sorgfältig hüten. Aber die Anwesenheit eines Zeugen, welcher des Meineides beschuldigt wird, und die Unverschämtheit eines Gensd'armen bringen die Menge in Aufruhr. Der Staatsanwalt kommt herbei: man ver- höhnt ihn, man stoßt ihn; der Gensd'arm wird unter Drohungen verfolgt, und als Soldaten zum Vorschein kommen, rufen die Arbeiter: „Nieder mit den Bajonnetten!“ Die Soldaten folgen dieser Aufforderung, und einige von ihnen fraternisiren sogar mit dem Volke auf dem Platze St. Jean und im Hofe des Palastes. An diesem Tage war ein Mutualist gestorben: am folgenden Tage geleiteten ihn 8000 Arbeiter zu Grabe und zogen langsam durch die Stadt, welche dieser Trauerzug erschreckte.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social02_1873/21>, abgerufen am 01.06.2024.