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Sonntags-Blatt. Nr. 4. Berlin, 26. Januar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] Käthchen zu suchen. Vielleicht finde ich sie im Elend und darf ihr
die helfende Bruderhand reichen, die sie nicht zurückstoßen wird.
Vielleicht finde ich sie in sündigem Glanz. Ob sie dann den War-
nungsruf des treuen Bruders beachten wird?

Leb' wohl, mein Freund! Dein     Paul.

"Mutter, Mutter, Du siehst so bleich aus und hustest so viel;
bist Du krank, süße Mutter?"

"Es ist nichts, mein Herz, ich werde bald wieder wohl sein. Hast
Du Deine Aufgabe gelernt?"

"Ja, Mama, ich habe sie sehr gut gelernt", erwiderte das Kind
mit leuchtenden Augen. "Darf ich sie hersagen?"

Die Mutter nickte freundlich, und das kleine Mädchen brachte mit
wichtiger Miene ein Buch herbei, stellte sich vor die Mutter und
sagte mit ihrer frischen Stimme ein einfaches deutsches Kinderliedchen.
Als sie es ohne Anstoß zu Ende gebracht hatte, klatschte sie in die
Hände und rief:

"Bist Du nun froh, Mama?"

"Ja, meine Paula."

"Aber warum weinst Du immer, wenn ich ein deutsches Liedchen
lerne?" fuhr die Kleine fort und sah betrübt in die thränenvollen
Augen ihrer Mutter.

"Weil ich die deutsche Sprache sehr lieb habe, und weil ich in
Deutschland geboren bin."

"Aber warum gehen wir denn nicht nach Deutschland?" fuhr die
unermüdliche Fragerin fort.

Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust der bleichen Frau; aber
sie erwiderte freundlich:

"Der Vater kann nicht von England fort, und wir müssen bei
ihm bleiben."

Die Kleine sah zweifelnd aus, aber sie fragte nicht weiter, son-
dern wandte sich zu einer Katze, die schnurrend im Winkel lag, und
begann ein munteres Spiel.

Es war ein großes, ärmlich ausgestattetes Gemach, in dem Mutter
und Tochter sich befanden. Der Fußboden war gesprungen und wurm-
stichig, Wände und Decke von Alter und Rauch geschwärzt; aber
die alten Dielen waren sauber gescheuert, und jedes Stück der ärm-
lichen Einrichtung zeugte von der ordnenden Hand, die hier waltete.
Das verwaschene Kleidchen des Kindes war ohne Risse und Flecken;
aber man hätte wohl auch diese vergessen über den zierlichen Locken-
kopf, der mit großen schwarzen Augen so fröhlich in die Welt schaute.
Auf ihm ruhten dann und wann mit zärtlicher Liebe die Augen der
Frau, die an einem der Fenster eifrig mit einer Handarbeit beschäftigt
war. Wie Sonnenstrahlen erhellten diese Liebesblicke die bleichen, ab-
gehärmten Züge des noch jugendlichen Gesichtes, das unverkennbare
Spuren großer, durch Sorge und Entbehrungen vor der Zeit zerstörter
Schönheit trug.

Jetzt wandte sich die kleine Paula von der Katze mit einer neuen
Frage an die Mutter.

"Mama, warum schilt der Vater immer, wenn ich deutsche Lieder
lerne?"

"Er meint es nicht böse", sagte die Mutter ausweichend.

"Hat er Deutschland nicht lieb?"

"O ja, er hat es wohl auch lieb. Aber nimm jetzt Dein Strick-
zeug und setze Dich zu mir, ich erzähle Dir ein Märchen.

"Ja, ja, ein Märchen!" jubelte die Kleine und tanzte in der
Stube herum. Dann holte sie eifrig ihr Strickzeug hervor, setzte sich
auf einen Schemel zu den Füßen ihrer Mutter und sagte erwartungs-
voll: "Nun, Mama?"

Diese begann:

"Es war einmal eine Königin, die hatte kein Kind --"

Plötzlich hielt sie inne, auf der Treppe ertönten schwere Schritte.

"Da kommt der Vater!" rief Paula, augenscheinlich wenig erbaut
von der Störung. "Wo ist er denn so lange gewesen, Mama?"

"Jch weiß es nicht", erwiderte diese und holte tief Athem.

Die Thür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien ein großer,
breitschultriger Mann in schlechtem Anzuge, mit einem Gesicht, das
den Trinker verrieth ebenso wie der Duft von Spirituosen, der sich
gleich nach seinem Eintritt durch das Zimmer verbreitete.

"Nun, da sitzt Jhr und faullenzt!" rief er mit rohem Ton.

Die Frau hatte sich von ihrem Sitz erhoben; Paula ging auf
den Ankömmling zu und bot ihm die kleine Hand; aber er achtete
nicht darauf, und betrübt schlich das Kind in die Ecke zu seiner
alten Freundin, der Katze. Mit schmerzlichem Blick folgte ihm die
Frau; dann sagte sie sanft:

"Guten Tag, Wilhelm; wie geht es Dir?"

"Wie soll mir's gehen?" brummte er und warf sich auf das alte
Sopha, daß es krachte. "Schlecht geht mir's, wie immer, und Hun-
ger hab' ich."

[Spaltenumbruch]

Sie ging an den Wandschrank, holte Brot und Käse hervor und
setzte Beides auf den Tisch.

Er lachte kurz auf.

"Weiter hast Du keine Leckerbissen?" fragte er spöttisch.

"Es ist Alles, was ich im Hause habe."

"Natürlich, Du hast nie Etwas im Hause! Wahrhaftig, es war
der dummste Streich, daß ich Dich feines Fräulein heirathete, das
nichts versteht und nicht arbeiten mag!"

Sie sah mit trübem Lächeln auf ihre arbeitsharten Hände, aber
erwiderte nichts.

"Französisch parlirt sie und ein Bißchen klimpern kann sie", fuhr
er fort; "aber damit lockt man keinen Hund hinter dem Ofen vor.
Hätte ich eine tüchtige Frau, es könnte anders mit mir stehen."

Damit schnitt er sich mißvergnügt ein mächtiges Stück Käse ab.

"Hast Du Arbeit gefunden, Wilhelm?" fragte sie nach einer
Pause.

"Arbeit? Findet man Arbeit in diesem verwünschten Lande?"

Sie seufzte schwer und schwieg. Aus ihrer Ecke aber rief Paula
mit heller Stimme:

"Vater, wir wollen nach Deutschland gehen."

"Was schwatzt die kleine Kröte da von Deutschland?" sprach
er rauh.

Paula kam aus der Ecke hervor.

"Jch bin keine Kröte", sagte sie, "und Mama hat Deutschland
lieb und ich auch."

Er lachte.

"So, Du auch? Dann zog er aus seiner Tasche eine Flasche her-
vor und setzte sie an seinen Mund; aber mit einem Fluch ließ er sie
sinken -- sie war leer. Paula war erschrocken zu ihrer Mutter geeilt,
die den Arm um sie schlang und mit ängstlichem Blick den zornigen
Gatten betrachtete. Plötzlich erhob er sich, deutete auf einen alten
Schrank, der lebensmüde an einer Wand lehnte, und sprach herrisch:
"Räume den da aus, Frau; ich hab' ihn verkauft, und er wird in
einer Stunde abgeholt."

"Aber Wilhelm, unser einziger Schrank!" rief sie erschrocken.

"Dummes Zeug!" unterbrach er sie. "Es ist wohl wichtiger, daß
Du einen Schrank hast, als daß Dein Mann etwas Ordentliches zu
essen hat? Es bleibt dabei; wenn ich wiederkomme, muß der Schrank
ausgeräumt sein."

Damit ging er hinaus und warf die Thür dröhnend ins Schloß.
Paula aber umschlang die Mutter mit beiden Aermchen und sagte:

"Weine nicht, Mama; wenn ich groß bin, und Geld verdienen
kann, kaufe ich Dir einen andern Schrank, und den darf der Vater
Dir nicht wegnehmen."

Die Mutter küßte das Kind und wehrte ihren Thränen.



Die Geschichte der jungen Frau war eine kurze, aber sehr traurige.
Vor etwa sechs Jahren war sie mit diesem Manne von Deutschland
nach London gekommen. Die Nachbarn erzählten sich noch davon,
wie schön sie gewesen, aber wie still und ernst. Man wunderte sich über
ihr vornehmes Wesen und erzählte sich allerlei romantische, freilich
rein erfundene Geschichten von ihr; denn ihr Mann war nur ein
Tischler, zwar ein hübscher, gewandter Mensch, aber man sah doch
bald, daß er nicht zu dieser Frau paßte.

Jm Anfang waren die Verhältnisse des jungen Paares recht an-
ständig; es hatte einiges Geld von Deutschland mitgebracht, und zu-
weilen kam auch ein Brief mit fünf großen Siegeln an. Der Mann fand
Beschäftigung bei einem Meister, und die Frau erklärte, sie wolle
Unterricht in der französischen Sprache und in feinen Handarbeiten
ertheilen. Es fanden sich aber nur wenige Schülerinnen, so daß sie
bald genöthigt war, ihre Thätigkeit für ein Putzgeschäft zu ver-
werthen, das viel verlangte und schlecht bezahlte. Die Geldsendungen
aus Deutschland hörten auch auf, und bald erzählte man sich in der
Nachbarschaft, daß der Mann hier und da betrunken nach Hause ge-
kommen sei; auch von heftigen Auftritten zwischen den Eheleuten
wußte man zu berichten. Erst langsam, aber allmälig immer schneller
und schneller ging es abwärts mit den Verhältnissen der kleinen Familie.
Nach der Geburt eines Kindes kränkelte die Frau, und mit ihrer
Fähigkeit zum Arbeiten verminderten sich die Einnahmen zusehends.
Der Mann gerieth in schlechte Gesellschaft und verzechte die Nächte
hindurch seinen spärlichen Verdienst, während daheim bei Weib und
Kind oft der bleiche Mangel Haus hielt. Die Frau erholte sich nach
und nach, aber bei angestrengter Arbeit war es ihr oft kaum möglich,
den geringen Lebensbedarf für sich und ihr Kind zu erwerben. Was
aber die Nachbarn am meisten in Erstaunen setzte, war die Thatsache,
daß sie jetzt freundlicher und glücklicher als früher schien, daß sie sanfter
gegen ihren Mann war und seine trunkenen Launen mit Engels-
geduld ertrug. Die guten Leute wußten eben nicht, welch' eine Quelle
des Glücks die Mutter in ihrem Kinde besaß und was eine Mutter
für ihr Kind ertragen kann.

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Käthchen zu suchen. Vielleicht finde ich sie im Elend und darf ihr
die helfende Bruderhand reichen, die sie nicht zurückstoßen wird.
Vielleicht finde ich sie in sündigem Glanz. Ob sie dann den War-
nungsruf des treuen Bruders beachten wird?

Leb' wohl, mein Freund! Dein     Paul.

„Mutter, Mutter, Du siehst so bleich aus und hustest so viel;
bist Du krank, süße Mutter?“

„Es ist nichts, mein Herz, ich werde bald wieder wohl sein. Hast
Du Deine Aufgabe gelernt?“

„Ja, Mama, ich habe sie sehr gut gelernt“, erwiderte das Kind
mit leuchtenden Augen. „Darf ich sie hersagen?“

Die Mutter nickte freundlich, und das kleine Mädchen brachte mit
wichtiger Miene ein Buch herbei, stellte sich vor die Mutter und
sagte mit ihrer frischen Stimme ein einfaches deutsches Kinderliedchen.
Als sie es ohne Anstoß zu Ende gebracht hatte, klatschte sie in die
Hände und rief:

„Bist Du nun froh, Mama?“

„Ja, meine Paula.“

„Aber warum weinst Du immer, wenn ich ein deutsches Liedchen
lerne?“ fuhr die Kleine fort und sah betrübt in die thränenvollen
Augen ihrer Mutter.

„Weil ich die deutsche Sprache sehr lieb habe, und weil ich in
Deutschland geboren bin.“

„Aber warum gehen wir denn nicht nach Deutschland?“ fuhr die
unermüdliche Fragerin fort.

Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust der bleichen Frau; aber
sie erwiderte freundlich:

„Der Vater kann nicht von England fort, und wir müssen bei
ihm bleiben.“

Die Kleine sah zweifelnd aus, aber sie fragte nicht weiter, son-
dern wandte sich zu einer Katze, die schnurrend im Winkel lag, und
begann ein munteres Spiel.

Es war ein großes, ärmlich ausgestattetes Gemach, in dem Mutter
und Tochter sich befanden. Der Fußboden war gesprungen und wurm-
stichig, Wände und Decke von Alter und Rauch geschwärzt; aber
die alten Dielen waren sauber gescheuert, und jedes Stück der ärm-
lichen Einrichtung zeugte von der ordnenden Hand, die hier waltete.
Das verwaschene Kleidchen des Kindes war ohne Risse und Flecken;
aber man hätte wohl auch diese vergessen über den zierlichen Locken-
kopf, der mit großen schwarzen Augen so fröhlich in die Welt schaute.
Auf ihm ruhten dann und wann mit zärtlicher Liebe die Augen der
Frau, die an einem der Fenster eifrig mit einer Handarbeit beschäftigt
war. Wie Sonnenstrahlen erhellten diese Liebesblicke die bleichen, ab-
gehärmten Züge des noch jugendlichen Gesichtes, das unverkennbare
Spuren großer, durch Sorge und Entbehrungen vor der Zeit zerstörter
Schönheit trug.

Jetzt wandte sich die kleine Paula von der Katze mit einer neuen
Frage an die Mutter.

„Mama, warum schilt der Vater immer, wenn ich deutsche Lieder
lerne?“

„Er meint es nicht böse“, sagte die Mutter ausweichend.

„Hat er Deutschland nicht lieb?“

„O ja, er hat es wohl auch lieb. Aber nimm jetzt Dein Strick-
zeug und setze Dich zu mir, ich erzähle Dir ein Märchen.

„Ja, ja, ein Märchen!“ jubelte die Kleine und tanzte in der
Stube herum. Dann holte sie eifrig ihr Strickzeug hervor, setzte sich
auf einen Schemel zu den Füßen ihrer Mutter und sagte erwartungs-
voll: „Nun, Mama?“

Diese begann:

„Es war einmal eine Königin, die hatte kein Kind —“

Plötzlich hielt sie inne, auf der Treppe ertönten schwere Schritte.

„Da kommt der Vater!“ rief Paula, augenscheinlich wenig erbaut
von der Störung. „Wo ist er denn so lange gewesen, Mama?“

„Jch weiß es nicht“, erwiderte diese und holte tief Athem.

Die Thür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien ein großer,
breitschultriger Mann in schlechtem Anzuge, mit einem Gesicht, das
den Trinker verrieth ebenso wie der Duft von Spirituosen, der sich
gleich nach seinem Eintritt durch das Zimmer verbreitete.

„Nun, da sitzt Jhr und faullenzt!“ rief er mit rohem Ton.

Die Frau hatte sich von ihrem Sitz erhoben; Paula ging auf
den Ankömmling zu und bot ihm die kleine Hand; aber er achtete
nicht darauf, und betrübt schlich das Kind in die Ecke zu seiner
alten Freundin, der Katze. Mit schmerzlichem Blick folgte ihm die
Frau; dann sagte sie sanft:

„Guten Tag, Wilhelm; wie geht es Dir?“

„Wie soll mir's gehen?“ brummte er und warf sich auf das alte
Sopha, daß es krachte. „Schlecht geht mir's, wie immer, und Hun-
ger hab' ich.“

[Spaltenumbruch]

Sie ging an den Wandschrank, holte Brot und Käse hervor und
setzte Beides auf den Tisch.

Er lachte kurz auf.

„Weiter hast Du keine Leckerbissen?“ fragte er spöttisch.

„Es ist Alles, was ich im Hause habe.“

„Natürlich, Du hast nie Etwas im Hause! Wahrhaftig, es war
der dummste Streich, daß ich Dich feines Fräulein heirathete, das
nichts versteht und nicht arbeiten mag!“

Sie sah mit trübem Lächeln auf ihre arbeitsharten Hände, aber
erwiderte nichts.

„Französisch parlirt sie und ein Bißchen klimpern kann sie“, fuhr
er fort; „aber damit lockt man keinen Hund hinter dem Ofen vor.
Hätte ich eine tüchtige Frau, es könnte anders mit mir stehen.“

Damit schnitt er sich mißvergnügt ein mächtiges Stück Käse ab.

„Hast Du Arbeit gefunden, Wilhelm?“ fragte sie nach einer
Pause.

„Arbeit? Findet man Arbeit in diesem verwünschten Lande?“

Sie seufzte schwer und schwieg. Aus ihrer Ecke aber rief Paula
mit heller Stimme:

„Vater, wir wollen nach Deutschland gehen.“

„Was schwatzt die kleine Kröte da von Deutschland?“ sprach
er rauh.

Paula kam aus der Ecke hervor.

„Jch bin keine Kröte“, sagte sie, „und Mama hat Deutschland
lieb und ich auch.“

Er lachte.

„So, Du auch? Dann zog er aus seiner Tasche eine Flasche her-
vor und setzte sie an seinen Mund; aber mit einem Fluch ließ er sie
sinken — sie war leer. Paula war erschrocken zu ihrer Mutter geeilt,
die den Arm um sie schlang und mit ängstlichem Blick den zornigen
Gatten betrachtete. Plötzlich erhob er sich, deutete auf einen alten
Schrank, der lebensmüde an einer Wand lehnte, und sprach herrisch:
„Räume den da aus, Frau; ich hab' ihn verkauft, und er wird in
einer Stunde abgeholt.“

„Aber Wilhelm, unser einziger Schrank!“ rief sie erschrocken.

„Dummes Zeug!“ unterbrach er sie. „Es ist wohl wichtiger, daß
Du einen Schrank hast, als daß Dein Mann etwas Ordentliches zu
essen hat? Es bleibt dabei; wenn ich wiederkomme, muß der Schrank
ausgeräumt sein.“

Damit ging er hinaus und warf die Thür dröhnend ins Schloß.
Paula aber umschlang die Mutter mit beiden Aermchen und sagte:

„Weine nicht, Mama; wenn ich groß bin, und Geld verdienen
kann, kaufe ich Dir einen andern Schrank, und den darf der Vater
Dir nicht wegnehmen.“

Die Mutter küßte das Kind und wehrte ihren Thränen.



Die Geschichte der jungen Frau war eine kurze, aber sehr traurige.
Vor etwa sechs Jahren war sie mit diesem Manne von Deutschland
nach London gekommen. Die Nachbarn erzählten sich noch davon,
wie schön sie gewesen, aber wie still und ernst. Man wunderte sich über
ihr vornehmes Wesen und erzählte sich allerlei romantische, freilich
rein erfundene Geschichten von ihr; denn ihr Mann war nur ein
Tischler, zwar ein hübscher, gewandter Mensch, aber man sah doch
bald, daß er nicht zu dieser Frau paßte.

Jm Anfang waren die Verhältnisse des jungen Paares recht an-
ständig; es hatte einiges Geld von Deutschland mitgebracht, und zu-
weilen kam auch ein Brief mit fünf großen Siegeln an. Der Mann fand
Beschäftigung bei einem Meister, und die Frau erklärte, sie wolle
Unterricht in der französischen Sprache und in feinen Handarbeiten
ertheilen. Es fanden sich aber nur wenige Schülerinnen, so daß sie
bald genöthigt war, ihre Thätigkeit für ein Putzgeschäft zu ver-
werthen, das viel verlangte und schlecht bezahlte. Die Geldsendungen
aus Deutschland hörten auch auf, und bald erzählte man sich in der
Nachbarschaft, daß der Mann hier und da betrunken nach Hause ge-
kommen sei; auch von heftigen Auftritten zwischen den Eheleuten
wußte man zu berichten. Erst langsam, aber allmälig immer schneller
und schneller ging es abwärts mit den Verhältnissen der kleinen Familie.
Nach der Geburt eines Kindes kränkelte die Frau, und mit ihrer
Fähigkeit zum Arbeiten verminderten sich die Einnahmen zusehends.
Der Mann gerieth in schlechte Gesellschaft und verzechte die Nächte
hindurch seinen spärlichen Verdienst, während daheim bei Weib und
Kind oft der bleiche Mangel Haus hielt. Die Frau erholte sich nach
und nach, aber bei angestrengter Arbeit war es ihr oft kaum möglich,
den geringen Lebensbedarf für sich und ihr Kind zu erwerben. Was
aber die Nachbarn am meisten in Erstaunen setzte, war die Thatsache,
daß sie jetzt freundlicher und glücklicher als früher schien, daß sie sanfter
gegen ihren Mann war und seine trunkenen Launen mit Engels-
geduld ertrug. Die guten Leute wußten eben nicht, welch' eine Quelle
des Glücks die Mutter in ihrem Kinde besaß und was eine Mutter
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[Ende Spaltensatz]
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[26/0002] 26 Käthchen zu suchen. Vielleicht finde ich sie im Elend und darf ihr die helfende Bruderhand reichen, die sie nicht zurückstoßen wird. Vielleicht finde ich sie in sündigem Glanz. Ob sie dann den War- nungsruf des treuen Bruders beachten wird? Leb' wohl, mein Freund! Dein Paul. „Mutter, Mutter, Du siehst so bleich aus und hustest so viel; bist Du krank, süße Mutter?“ „Es ist nichts, mein Herz, ich werde bald wieder wohl sein. Hast Du Deine Aufgabe gelernt?“ „Ja, Mama, ich habe sie sehr gut gelernt“, erwiderte das Kind mit leuchtenden Augen. „Darf ich sie hersagen?“ Die Mutter nickte freundlich, und das kleine Mädchen brachte mit wichtiger Miene ein Buch herbei, stellte sich vor die Mutter und sagte mit ihrer frischen Stimme ein einfaches deutsches Kinderliedchen. Als sie es ohne Anstoß zu Ende gebracht hatte, klatschte sie in die Hände und rief: „Bist Du nun froh, Mama?“ „Ja, meine Paula.“ „Aber warum weinst Du immer, wenn ich ein deutsches Liedchen lerne?“ fuhr die Kleine fort und sah betrübt in die thränenvollen Augen ihrer Mutter. „Weil ich die deutsche Sprache sehr lieb habe, und weil ich in Deutschland geboren bin.“ „Aber warum gehen wir denn nicht nach Deutschland?“ fuhr die unermüdliche Fragerin fort. Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust der bleichen Frau; aber sie erwiderte freundlich: „Der Vater kann nicht von England fort, und wir müssen bei ihm bleiben.“ Die Kleine sah zweifelnd aus, aber sie fragte nicht weiter, son- dern wandte sich zu einer Katze, die schnurrend im Winkel lag, und begann ein munteres Spiel. Es war ein großes, ärmlich ausgestattetes Gemach, in dem Mutter und Tochter sich befanden. Der Fußboden war gesprungen und wurm- stichig, Wände und Decke von Alter und Rauch geschwärzt; aber die alten Dielen waren sauber gescheuert, und jedes Stück der ärm- lichen Einrichtung zeugte von der ordnenden Hand, die hier waltete. Das verwaschene Kleidchen des Kindes war ohne Risse und Flecken; aber man hätte wohl auch diese vergessen über den zierlichen Locken- kopf, der mit großen schwarzen Augen so fröhlich in die Welt schaute. Auf ihm ruhten dann und wann mit zärtlicher Liebe die Augen der Frau, die an einem der Fenster eifrig mit einer Handarbeit beschäftigt war. Wie Sonnenstrahlen erhellten diese Liebesblicke die bleichen, ab- gehärmten Züge des noch jugendlichen Gesichtes, das unverkennbare Spuren großer, durch Sorge und Entbehrungen vor der Zeit zerstörter Schönheit trug. Jetzt wandte sich die kleine Paula von der Katze mit einer neuen Frage an die Mutter. „Mama, warum schilt der Vater immer, wenn ich deutsche Lieder lerne?“ „Er meint es nicht böse“, sagte die Mutter ausweichend. „Hat er Deutschland nicht lieb?“ „O ja, er hat es wohl auch lieb. Aber nimm jetzt Dein Strick- zeug und setze Dich zu mir, ich erzähle Dir ein Märchen. „Ja, ja, ein Märchen!“ jubelte die Kleine und tanzte in der Stube herum. Dann holte sie eifrig ihr Strickzeug hervor, setzte sich auf einen Schemel zu den Füßen ihrer Mutter und sagte erwartungs- voll: „Nun, Mama?“ Diese begann: „Es war einmal eine Königin, die hatte kein Kind —“ Plötzlich hielt sie inne, auf der Treppe ertönten schwere Schritte. „Da kommt der Vater!“ rief Paula, augenscheinlich wenig erbaut von der Störung. „Wo ist er denn so lange gewesen, Mama?“ „Jch weiß es nicht“, erwiderte diese und holte tief Athem. Die Thür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien ein großer, breitschultriger Mann in schlechtem Anzuge, mit einem Gesicht, das den Trinker verrieth ebenso wie der Duft von Spirituosen, der sich gleich nach seinem Eintritt durch das Zimmer verbreitete. „Nun, da sitzt Jhr und faullenzt!“ rief er mit rohem Ton. Die Frau hatte sich von ihrem Sitz erhoben; Paula ging auf den Ankömmling zu und bot ihm die kleine Hand; aber er achtete nicht darauf, und betrübt schlich das Kind in die Ecke zu seiner alten Freundin, der Katze. Mit schmerzlichem Blick folgte ihm die Frau; dann sagte sie sanft: „Guten Tag, Wilhelm; wie geht es Dir?“ „Wie soll mir's gehen?“ brummte er und warf sich auf das alte Sopha, daß es krachte. „Schlecht geht mir's, wie immer, und Hun- ger hab' ich.“ Sie ging an den Wandschrank, holte Brot und Käse hervor und setzte Beides auf den Tisch. Er lachte kurz auf. „Weiter hast Du keine Leckerbissen?“ fragte er spöttisch. „Es ist Alles, was ich im Hause habe.“ „Natürlich, Du hast nie Etwas im Hause! Wahrhaftig, es war der dummste Streich, daß ich Dich feines Fräulein heirathete, das nichts versteht und nicht arbeiten mag!“ Sie sah mit trübem Lächeln auf ihre arbeitsharten Hände, aber erwiderte nichts. „Französisch parlirt sie und ein Bißchen klimpern kann sie“, fuhr er fort; „aber damit lockt man keinen Hund hinter dem Ofen vor. Hätte ich eine tüchtige Frau, es könnte anders mit mir stehen.“ Damit schnitt er sich mißvergnügt ein mächtiges Stück Käse ab. „Hast Du Arbeit gefunden, Wilhelm?“ fragte sie nach einer Pause. „Arbeit? Findet man Arbeit in diesem verwünschten Lande?“ Sie seufzte schwer und schwieg. Aus ihrer Ecke aber rief Paula mit heller Stimme: „Vater, wir wollen nach Deutschland gehen.“ „Was schwatzt die kleine Kröte da von Deutschland?“ sprach er rauh. Paula kam aus der Ecke hervor. „Jch bin keine Kröte“, sagte sie, „und Mama hat Deutschland lieb und ich auch.“ Er lachte. „So, Du auch? Dann zog er aus seiner Tasche eine Flasche her- vor und setzte sie an seinen Mund; aber mit einem Fluch ließ er sie sinken — sie war leer. Paula war erschrocken zu ihrer Mutter geeilt, die den Arm um sie schlang und mit ängstlichem Blick den zornigen Gatten betrachtete. Plötzlich erhob er sich, deutete auf einen alten Schrank, der lebensmüde an einer Wand lehnte, und sprach herrisch: „Räume den da aus, Frau; ich hab' ihn verkauft, und er wird in einer Stunde abgeholt.“ „Aber Wilhelm, unser einziger Schrank!“ rief sie erschrocken. „Dummes Zeug!“ unterbrach er sie. „Es ist wohl wichtiger, daß Du einen Schrank hast, als daß Dein Mann etwas Ordentliches zu essen hat? Es bleibt dabei; wenn ich wiederkomme, muß der Schrank ausgeräumt sein.“ Damit ging er hinaus und warf die Thür dröhnend ins Schloß. Paula aber umschlang die Mutter mit beiden Aermchen und sagte: „Weine nicht, Mama; wenn ich groß bin, und Geld verdienen kann, kaufe ich Dir einen andern Schrank, und den darf der Vater Dir nicht wegnehmen.“ Die Mutter küßte das Kind und wehrte ihren Thränen. Die Geschichte der jungen Frau war eine kurze, aber sehr traurige. Vor etwa sechs Jahren war sie mit diesem Manne von Deutschland nach London gekommen. Die Nachbarn erzählten sich noch davon, wie schön sie gewesen, aber wie still und ernst. Man wunderte sich über ihr vornehmes Wesen und erzählte sich allerlei romantische, freilich rein erfundene Geschichten von ihr; denn ihr Mann war nur ein Tischler, zwar ein hübscher, gewandter Mensch, aber man sah doch bald, daß er nicht zu dieser Frau paßte. Jm Anfang waren die Verhältnisse des jungen Paares recht an- ständig; es hatte einiges Geld von Deutschland mitgebracht, und zu- weilen kam auch ein Brief mit fünf großen Siegeln an. Der Mann fand Beschäftigung bei einem Meister, und die Frau erklärte, sie wolle Unterricht in der französischen Sprache und in feinen Handarbeiten ertheilen. Es fanden sich aber nur wenige Schülerinnen, so daß sie bald genöthigt war, ihre Thätigkeit für ein Putzgeschäft zu ver- werthen, das viel verlangte und schlecht bezahlte. Die Geldsendungen aus Deutschland hörten auch auf, und bald erzählte man sich in der Nachbarschaft, daß der Mann hier und da betrunken nach Hause ge- kommen sei; auch von heftigen Auftritten zwischen den Eheleuten wußte man zu berichten. Erst langsam, aber allmälig immer schneller und schneller ging es abwärts mit den Verhältnissen der kleinen Familie. Nach der Geburt eines Kindes kränkelte die Frau, und mit ihrer Fähigkeit zum Arbeiten verminderten sich die Einnahmen zusehends. Der Mann gerieth in schlechte Gesellschaft und verzechte die Nächte hindurch seinen spärlichen Verdienst, während daheim bei Weib und Kind oft der bleiche Mangel Haus hielt. Die Frau erholte sich nach und nach, aber bei angestrengter Arbeit war es ihr oft kaum möglich, den geringen Lebensbedarf für sich und ihr Kind zu erwerben. Was aber die Nachbarn am meisten in Erstaunen setzte, war die Thatsache, daß sie jetzt freundlicher und glücklicher als früher schien, daß sie sanfter gegen ihren Mann war und seine trunkenen Launen mit Engels- geduld ertrug. Die guten Leute wußten eben nicht, welch' eine Quelle des Glücks die Mutter in ihrem Kinde besaß und was eine Mutter für ihr Kind ertragen kann.

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 4. Berlin, 26. Januar 1868, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt04_1868/2>, abgerufen am 01.06.2024.