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Sonntags-Blatt. Nr. 5. Berlin, 2. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] Meilen hin Dörfer und einzelne Häuser aus den niedrig umzäunten
Feldern aufragen sah; nur gegen Süden nahm das Giebelgewirr einer
kleinen, altersgrauen Stadt die weitere Aussicht. Das Städtchen lag
etwa zehn Meilen entfernt, ein buntes Gemenge wunderlich aus wetter-
gebräunten Dachziegeln durcheinander geschobener Spitzdächer, wenn
man es von Weitem betrachtete. Ab und zu blickte eine Mastspitze
mitten zwischen ihnen durch und verrieth, daß ein Fluß oder ein künst-
licher Hafen sich durch die alte Stadt hinziehen müsse; denn der hohe
Deich, der den Schloßpark begrenzte, umgürtete auch, wie eine Brust-
wehr, die auf das Meer zulaufenden Straßen. Die letzten Häuser,
die sich unmittelbar unter ihm befanden, nahmen sich gar klein aus,
da sie kaum an ihn hinanragten. Desto riesiger erschienen Menschen
oder Gegenstände, die auf der Höhe des Deiches fortbewegt wurden,
aus der Ferne, vorzüglich Abends, wo die Umrisse der Gestalten
scharf gegen den blauen Horizont ohne jeglichen Hintergrund hervor-
traten, und jene wie gespenstische Silhouetten in der leeren Luft umher
zu wandern schienen.

Denn man mußte auf dem Deich selbst oder dahinter in der Höhe
der Schloßfenster sich befinden, um das Meer sehen zu [unleserliches Material - 6 Zeichen fehlen]können. Uebri-
gens war, wie schon gesagt, in diesem Augenblick überhaupt nichts davon
vorhanden, sondern das Land dehnte sich seewärts ebenso endlos hinaus,
wie auf der andern Seite. Nur war es nicht grün und trug nicht
hier und da Bäume und mit hölzernen Pferdeköpfen geschmückte
Giebeldächer. Es war ein einförmiges und einfarbiges Grau, ohne
jegliches Merkmal. Das Auge, das darüber hinflog, fand keinen
Ruhepunkt, als am Ende, wo die bereits erwähnten Jnseln jetzt höher
und deutlicher, gleichsam auf einem Unterbau, emporragten. Es
hatte den Anschein, als sei Alles gleichmäßig trocken und als könne
man unbehindert bis an die Jnseln hinübergehen; nur dem kundigen
Auge verriethen hier und da aufblinkende Sonnenreflexe die Anwesen-
heit jener schmalen, aber tiefen Rinnsale, die als unüberspringliche
Gräben sich durch "die Watte" hinziehen und oft das Erreichen des
vorgesteckten Zieles zu Fuß unmöglich machen.

Es war jetzt gegen Abend, und die Sonne stand schon ziemlich
tief im Westen. Sie lag freundlich auf den von grünem Schimmer
überzogenen Baumkronen im Park und glänzte über die graue Rück-
seite des Schlosses, die unten mit blüthenübersäeten Pfirsich= und
Aprikosenbäumen verdeckt war. Ein Paar der hochstämmigsten von
ihnen ragten bis an die geöffneten Fenster des zweiten Stockwerks
empor. Auch durch diese fiel die Sonne in einen großen, mit alter-
thümlichen Schnitzmöbeln behaglich ausgestatteten Saal. Das Jn-
nere desselben entsprach den Erwartungen, welche das Gebäude von
Außen erregte. Die Neugestaltung der Zeit war an Beiden gleich-
mäßig vorübergegangen und hatte ihre ehemals modische Erscheinung
als veraltet hinter sich zurückgelassen. Aber Wenige hatten behauptet,
daß dies zum Nachtheil derselben geschehe. Die Meisten fühlten un-
bewußt, daß die Zimmer, wie das ganze Haus, eine Geschichte be-
saßen, welche wohlthuender auf das Gemüth der Besuchenden ein-
wirkte, als die mit Marmorplatten und Goldeinfassung luxuriös ein-
gerichteten Empfanggemächer der zwei oder drei reichen Kaufleute in
der Stadt, deren Handel ihnen derartigen Prunk verstattete. Vor
Allem lag die Frühlingssonne so warm auf dem braunen Holzgetäfel
und auf den alten, breit umrahmten Portraitgesichtern, wie sie nur
jemals vor Jahrzehenden und Jahrhunderten auf den lebendigen
Wangen derselben gelegen haben mochte, und es durchschauerte heimlich
den, der es ansah, ohne daß er wußte, warum.

Auch die schon ältliche Dame mit dem vornehm feinen, etwas
blassen Gesicht, dessen Augen in diesem Moment nachdenklich auf dem
Gemälde ruhten, das gerade am hellsten von dem Sonnengewoge
übergossen war. Dies stellte eine schöne männliche Gestalt dar mit
langem blonden Haar; in den blauen freundlichen Augen lag ein ver-
wandter Ausdruck mit denjenigen, die zu ihnen aufschauten. Jm
Uebrigen stach das Bild von den übrigen Gemälden, die rund umher
die Wände bedeckten, auffällig ab. Während die Anderen, je nach der
Tracht des Jahrhunderts, in dem sie gelebt, in sorgfältiger Gala-
kleidung erschienen, hatte dies in Bezug auf die Letztere fast etwas
gewaltsam Vernachlässigtes. Der weite Strand bildete den Hinter-
grund desselben, und schaumgekrönte Wellen schlugen über den Rand
des Kahns, in dem der Mann, die Hand an einen Mast gelehnt, auf-
recht stand. Sein langes Haar flatterte im Winde zurück, wie die
derbe Schiffertracht, die ihn umgab -- eigentlich nur ein vorn geöffnetes
Hemd, aus dem der schlanke Hals und der Anfang der hochgewölbten
Brust hervortrat, denn die dazu gehörige Jacke lag neben ihm im
Nachen. Ein breiter Gurt hielt das grobe Beinkleid über der Hüfte.
Es war Etwas in dem Bilde, das es auf den ersten Blick als Phan-
tasiestück kennzeichnete. Es mochte Portrait sein und war es sicherlich,
doch die Kleidung war aus der Einbildung hinzugefügt und war un-
fraglich neueren Datums als der Kopf, der so verwegen aus ihr
hervorragte.

Wie gesagt, bildete das Gemälde einen auffälligen Kontrast mit
den anderen Portraits, die den Saal schmückten. Auch der vollste
[Spaltenumbruch] Sonnenglanz hätte diese ernsten, bedächtigen Gesichter in ihren steifen
Halskrausen und verbrämten Gewändern nicht aufzuheitern vermocht.
Sie hatten eine unverkennbare Aehnlichkeit untereinander, so daß man
sie für Brüder und Schwestern gehalten hätte, wenn ihre verwandt-
schaftlichen Beziehungen nicht durch die Verschiedenheit ihres Kostüms
verrathen wären, das sie als Väter und Großväter, Urgroßmütter und
nicht mehr mit speziellen Namen zu belegende Urahnen kenntlich
machte.

Die schöne Frau blickte sie nicht an, aber es war, als ob die
Bilder mit einem fast stechenden Ausdruck der Augen auf sie nieder-
schauten. Kein einziges bot Aehnlichkeit mit ihr als das zuerst ge-
schilderte, und ein kleines medaillonartiges Gemälde, das gerade unter
diesem hing. Es war nur ein mit dichten blonden Locken über-
fluteter Kinderkopf, doch in allen Zügen aus dem Gesicht des Mannes
herausgeschnitten. Derselbe träumerisch verwegene Zug lag in den
hellblauen Augen und in dem ganzen Gesicht, von dem es schwer
war mit Bestimmtheit zu sagen, ob es einem Knaben oder einem
Mädchen angehöre. Mit Gewißheit vermochte man nur zu behaupten,
daß die Augen, die jetzt von dem größeren Bilde auf den Medaillon-
kopf herabglitten, die der Mutter desselben sein mußten. Trotzdem
daß fast ein halbes Jahrhundert sich in die Stirn= und Wangen-
falten der Beschauerin hineingelagert haben mochte, ließ das frische
schöne Kindergesicht an der Wand sich noch aus ihren freundlichen
Zügen herstellen. Nur mußte man eben gar manche Furche aus-
glätten, manchen Schatten fortwischen, und die Sonne durfte nicht,
wie jetzt, auf dem schlichten Haar spielen und die weißen Striche be-
leuchten, welche die allzu emsige Hand der Jahre hineingezeichnet.

Die ältliche Dame war die Freifrau von Torwisch, die Wittwe
des letzten Amtmanns dieses Namens, dessen Stellung sich seit Jahr-
hunderten in der Torwisch'schen Familie vom Vater auf den Sohn
vererbt hatte. Dieselbe war jetzt erloschen, mindestens in männlicher Linie.
Der Mann mit dem strengen, fast düsteren Gesicht, der vis-a-vis
im Saal das Gegenstück zu dem heitern Seemanns=Antlitz bildete,
hatte den letzten Raum zwischen den alten Ahnenbildern ausgefüllt.
Es war, als ob die Großväter und Großmütter über ihn hin sich
begrüßten, und als ob die Letzteren sich enger an ihn hindrängten, um
einem etwaigen Versuch, noch einen Platz an seiner Seite zu be-
anspruchen, entgegen zu treten. Dabei blickten sie feindselig auf die
Dame am Tisch herab.

Es waren schon fast zwei Jahrzehende verflossen, seitdem Herr
von Torwisch, ohne einen Sohn zu hinterlassen, auf dem Friedhof
des Städtchens, das er beinah unumschränkt regiert hatte, in seine
Ahnengruft, zu den Gebeinen derer, die hier von der Leinwand nieder-
schauten, hinabgesenkt worden. So gerieth die von seinen Vorfahren
seit Jahrhunderten behauptete Stellung in andere Hände, und zugleich
war der Name derer von Torwisch in Gefahr völlig auszusterben.
Er sollte die Freude, diese beseitigt zu sehen, nicht erleben, und konnte
sich nur mit der unsicheren Beruhigung aufs Sterbebett legen, daß
seine Gemahlin Hoffnung gab, bald nach seinem Tode einem letzten
Nachkommen der Torwisch das Leben zu schenken. Allein in seinen
letzten Tagen fürchtete er die ängstliche Wahrscheinlichkeit immer mehr,
daß es eine Tochter sein werde, und er war eifrig darauf bedacht, für
diesen Fall Maßregeln zu treffen, die das gänzliche Aussterben seines
Hauses verhüten sollten. Er hatte einen Bruder besessen, der schon
vor ihm mit Hinterlassung eines einzigen Sohnes gestorben war. Auf
diesen, einem bereits zehnjährigen Knaben, setzte er alle seine Hoff-
nungen für die Eventualität einer "weiblichen Geburt" seiner Ge-
mahlin. Er hatte kaum ein Testament errichtet, in welchem er seine
sämmtlichen Besitzthümer seiner eventuellen Tochter nur unter der Be-
dingung vermachte, daß sie an ihrem zwanzigsten Geburtstage Herrn
Alfred von Torwisch die Hand reichen werde, als er mit einem letzten
Seufzer die Augen schloß und starb.

Drei Monate nach diesem Ereigniß wurde der blonde Lockenkopf
in dem Medaillon an der Wand geboren und erhielt den Namen
Posthuma von Torwisch.

Es war aus zweifachem Grunde gut, daß Herr von Torwisch
diesen Tag nicht erlebte. Einmal weil er seine Hauptbefürchtung be-
stätigt gesehen hätte, dann, weil es ihm Verdruß bereitet haben
würde, daß seine Tochter keinen von den Zügen besaß, die seit Jahr-
hunderten in der Familie derer von Torwisch erblich gewesen. Nichts
Strenges, Stolzes wie die Männer, nichts Herbes, Hochmüthiges
wie die Frauen. Ein lachender, lieblicher Mädchenkopf, nur der
Mutter ähnlich und nur dem schönen, trotzigen Seemanns=Antlitz mit
den flatternden, winddurchstreiften Haaren.

Wen stellte dieses Bild dar, das erst nach dem Tode des Herrn
von Torwisch wie ein Sonnenblick unter den finsteren Ahnenportraits
erschienen war? Jedenfalls keinen Vorfahren von jüngerem Datum
als jene, obwohl kein freiherrlicher Name mit Rang und Qualitäts-
angabe darunter stand. "Paul Steen" war einfach auf den Rand des
Nachens geschrieben; der Künstler hatte auf diese Weise den Namen des
Dargestellten mitgetheilt. Es war das derselbe Name, den die Mutter
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Meilen hin Dörfer und einzelne Häuser aus den niedrig umzäunten
Feldern aufragen sah; nur gegen Süden nahm das Giebelgewirr einer
kleinen, altersgrauen Stadt die weitere Aussicht. Das Städtchen lag
etwa zehn Meilen entfernt, ein buntes Gemenge wunderlich aus wetter-
gebräunten Dachziegeln durcheinander geschobener Spitzdächer, wenn
man es von Weitem betrachtete. Ab und zu blickte eine Mastspitze
mitten zwischen ihnen durch und verrieth, daß ein Fluß oder ein künst-
licher Hafen sich durch die alte Stadt hinziehen müsse; denn der hohe
Deich, der den Schloßpark begrenzte, umgürtete auch, wie eine Brust-
wehr, die auf das Meer zulaufenden Straßen. Die letzten Häuser,
die sich unmittelbar unter ihm befanden, nahmen sich gar klein aus,
da sie kaum an ihn hinanragten. Desto riesiger erschienen Menschen
oder Gegenstände, die auf der Höhe des Deiches fortbewegt wurden,
aus der Ferne, vorzüglich Abends, wo die Umrisse der Gestalten
scharf gegen den blauen Horizont ohne jeglichen Hintergrund hervor-
traten, und jene wie gespenstische Silhouetten in der leeren Luft umher
zu wandern schienen.

Denn man mußte auf dem Deich selbst oder dahinter in der Höhe
der Schloßfenster sich befinden, um das Meer sehen zu [unleserliches Material – 6 Zeichen fehlen]können. Uebri-
gens war, wie schon gesagt, in diesem Augenblick überhaupt nichts davon
vorhanden, sondern das Land dehnte sich seewärts ebenso endlos hinaus,
wie auf der andern Seite. Nur war es nicht grün und trug nicht
hier und da Bäume und mit hölzernen Pferdeköpfen geschmückte
Giebeldächer. Es war ein einförmiges und einfarbiges Grau, ohne
jegliches Merkmal. Das Auge, das darüber hinflog, fand keinen
Ruhepunkt, als am Ende, wo die bereits erwähnten Jnseln jetzt höher
und deutlicher, gleichsam auf einem Unterbau, emporragten. Es
hatte den Anschein, als sei Alles gleichmäßig trocken und als könne
man unbehindert bis an die Jnseln hinübergehen; nur dem kundigen
Auge verriethen hier und da aufblinkende Sonnenreflexe die Anwesen-
heit jener schmalen, aber tiefen Rinnsale, die als unüberspringliche
Gräben sich durch „die Watte“ hinziehen und oft das Erreichen des
vorgesteckten Zieles zu Fuß unmöglich machen.

Es war jetzt gegen Abend, und die Sonne stand schon ziemlich
tief im Westen. Sie lag freundlich auf den von grünem Schimmer
überzogenen Baumkronen im Park und glänzte über die graue Rück-
seite des Schlosses, die unten mit blüthenübersäeten Pfirsich= und
Aprikosenbäumen verdeckt war. Ein Paar der hochstämmigsten von
ihnen ragten bis an die geöffneten Fenster des zweiten Stockwerks
empor. Auch durch diese fiel die Sonne in einen großen, mit alter-
thümlichen Schnitzmöbeln behaglich ausgestatteten Saal. Das Jn-
nere desselben entsprach den Erwartungen, welche das Gebäude von
Außen erregte. Die Neugestaltung der Zeit war an Beiden gleich-
mäßig vorübergegangen und hatte ihre ehemals modische Erscheinung
als veraltet hinter sich zurückgelassen. Aber Wenige hatten behauptet,
daß dies zum Nachtheil derselben geschehe. Die Meisten fühlten un-
bewußt, daß die Zimmer, wie das ganze Haus, eine Geschichte be-
saßen, welche wohlthuender auf das Gemüth der Besuchenden ein-
wirkte, als die mit Marmorplatten und Goldeinfassung luxuriös ein-
gerichteten Empfanggemächer der zwei oder drei reichen Kaufleute in
der Stadt, deren Handel ihnen derartigen Prunk verstattete. Vor
Allem lag die Frühlingssonne so warm auf dem braunen Holzgetäfel
und auf den alten, breit umrahmten Portraitgesichtern, wie sie nur
jemals vor Jahrzehenden und Jahrhunderten auf den lebendigen
Wangen derselben gelegen haben mochte, und es durchschauerte heimlich
den, der es ansah, ohne daß er wußte, warum.

Auch die schon ältliche Dame mit dem vornehm feinen, etwas
blassen Gesicht, dessen Augen in diesem Moment nachdenklich auf dem
Gemälde ruhten, das gerade am hellsten von dem Sonnengewoge
übergossen war. Dies stellte eine schöne männliche Gestalt dar mit
langem blonden Haar; in den blauen freundlichen Augen lag ein ver-
wandter Ausdruck mit denjenigen, die zu ihnen aufschauten. Jm
Uebrigen stach das Bild von den übrigen Gemälden, die rund umher
die Wände bedeckten, auffällig ab. Während die Anderen, je nach der
Tracht des Jahrhunderts, in dem sie gelebt, in sorgfältiger Gala-
kleidung erschienen, hatte dies in Bezug auf die Letztere fast etwas
gewaltsam Vernachlässigtes. Der weite Strand bildete den Hinter-
grund desselben, und schaumgekrönte Wellen schlugen über den Rand
des Kahns, in dem der Mann, die Hand an einen Mast gelehnt, auf-
recht stand. Sein langes Haar flatterte im Winde zurück, wie die
derbe Schiffertracht, die ihn umgab — eigentlich nur ein vorn geöffnetes
Hemd, aus dem der schlanke Hals und der Anfang der hochgewölbten
Brust hervortrat, denn die dazu gehörige Jacke lag neben ihm im
Nachen. Ein breiter Gurt hielt das grobe Beinkleid über der Hüfte.
Es war Etwas in dem Bilde, das es auf den ersten Blick als Phan-
tasiestück kennzeichnete. Es mochte Portrait sein und war es sicherlich,
doch die Kleidung war aus der Einbildung hinzugefügt und war un-
fraglich neueren Datums als der Kopf, der so verwegen aus ihr
hervorragte.

Wie gesagt, bildete das Gemälde einen auffälligen Kontrast mit
den anderen Portraits, die den Saal schmückten. Auch der vollste
[Spaltenumbruch] Sonnenglanz hätte diese ernsten, bedächtigen Gesichter in ihren steifen
Halskrausen und verbrämten Gewändern nicht aufzuheitern vermocht.
Sie hatten eine unverkennbare Aehnlichkeit untereinander, so daß man
sie für Brüder und Schwestern gehalten hätte, wenn ihre verwandt-
schaftlichen Beziehungen nicht durch die Verschiedenheit ihres Kostüms
verrathen wären, das sie als Väter und Großväter, Urgroßmütter und
nicht mehr mit speziellen Namen zu belegende Urahnen kenntlich
machte.

Die schöne Frau blickte sie nicht an, aber es war, als ob die
Bilder mit einem fast stechenden Ausdruck der Augen auf sie nieder-
schauten. Kein einziges bot Aehnlichkeit mit ihr als das zuerst ge-
schilderte, und ein kleines medaillonartiges Gemälde, das gerade unter
diesem hing. Es war nur ein mit dichten blonden Locken über-
fluteter Kinderkopf, doch in allen Zügen aus dem Gesicht des Mannes
herausgeschnitten. Derselbe träumerisch verwegene Zug lag in den
hellblauen Augen und in dem ganzen Gesicht, von dem es schwer
war mit Bestimmtheit zu sagen, ob es einem Knaben oder einem
Mädchen angehöre. Mit Gewißheit vermochte man nur zu behaupten,
daß die Augen, die jetzt von dem größeren Bilde auf den Medaillon-
kopf herabglitten, die der Mutter desselben sein mußten. Trotzdem
daß fast ein halbes Jahrhundert sich in die Stirn= und Wangen-
falten der Beschauerin hineingelagert haben mochte, ließ das frische
schöne Kindergesicht an der Wand sich noch aus ihren freundlichen
Zügen herstellen. Nur mußte man eben gar manche Furche aus-
glätten, manchen Schatten fortwischen, und die Sonne durfte nicht,
wie jetzt, auf dem schlichten Haar spielen und die weißen Striche be-
leuchten, welche die allzu emsige Hand der Jahre hineingezeichnet.

Die ältliche Dame war die Freifrau von Torwisch, die Wittwe
des letzten Amtmanns dieses Namens, dessen Stellung sich seit Jahr-
hunderten in der Torwisch'schen Familie vom Vater auf den Sohn
vererbt hatte. Dieselbe war jetzt erloschen, mindestens in männlicher Linie.
Der Mann mit dem strengen, fast düsteren Gesicht, der vis-à-vis
im Saal das Gegenstück zu dem heitern Seemanns=Antlitz bildete,
hatte den letzten Raum zwischen den alten Ahnenbildern ausgefüllt.
Es war, als ob die Großväter und Großmütter über ihn hin sich
begrüßten, und als ob die Letzteren sich enger an ihn hindrängten, um
einem etwaigen Versuch, noch einen Platz an seiner Seite zu be-
anspruchen, entgegen zu treten. Dabei blickten sie feindselig auf die
Dame am Tisch herab.

Es waren schon fast zwei Jahrzehende verflossen, seitdem Herr
von Torwisch, ohne einen Sohn zu hinterlassen, auf dem Friedhof
des Städtchens, das er beinah unumschränkt regiert hatte, in seine
Ahnengruft, zu den Gebeinen derer, die hier von der Leinwand nieder-
schauten, hinabgesenkt worden. So gerieth die von seinen Vorfahren
seit Jahrhunderten behauptete Stellung in andere Hände, und zugleich
war der Name derer von Torwisch in Gefahr völlig auszusterben.
Er sollte die Freude, diese beseitigt zu sehen, nicht erleben, und konnte
sich nur mit der unsicheren Beruhigung aufs Sterbebett legen, daß
seine Gemahlin Hoffnung gab, bald nach seinem Tode einem letzten
Nachkommen der Torwisch das Leben zu schenken. Allein in seinen
letzten Tagen fürchtete er die ängstliche Wahrscheinlichkeit immer mehr,
daß es eine Tochter sein werde, und er war eifrig darauf bedacht, für
diesen Fall Maßregeln zu treffen, die das gänzliche Aussterben seines
Hauses verhüten sollten. Er hatte einen Bruder besessen, der schon
vor ihm mit Hinterlassung eines einzigen Sohnes gestorben war. Auf
diesen, einem bereits zehnjährigen Knaben, setzte er alle seine Hoff-
nungen für die Eventualität einer „weiblichen Geburt“ seiner Ge-
mahlin. Er hatte kaum ein Testament errichtet, in welchem er seine
sämmtlichen Besitzthümer seiner eventuellen Tochter nur unter der Be-
dingung vermachte, daß sie an ihrem zwanzigsten Geburtstage Herrn
Alfred von Torwisch die Hand reichen werde, als er mit einem letzten
Seufzer die Augen schloß und starb.

Drei Monate nach diesem Ereigniß wurde der blonde Lockenkopf
in dem Medaillon an der Wand geboren und erhielt den Namen
Posthuma von Torwisch.

Es war aus zweifachem Grunde gut, daß Herr von Torwisch
diesen Tag nicht erlebte. Einmal weil er seine Hauptbefürchtung be-
stätigt gesehen hätte, dann, weil es ihm Verdruß bereitet haben
würde, daß seine Tochter keinen von den Zügen besaß, die seit Jahr-
hunderten in der Familie derer von Torwisch erblich gewesen. Nichts
Strenges, Stolzes wie die Männer, nichts Herbes, Hochmüthiges
wie die Frauen. Ein lachender, lieblicher Mädchenkopf, nur der
Mutter ähnlich und nur dem schönen, trotzigen Seemanns=Antlitz mit
den flatternden, winddurchstreiften Haaren.

Wen stellte dieses Bild dar, das erst nach dem Tode des Herrn
von Torwisch wie ein Sonnenblick unter den finsteren Ahnenportraits
erschienen war? Jedenfalls keinen Vorfahren von jüngerem Datum
als jene, obwohl kein freiherrlicher Name mit Rang und Qualitäts-
angabe darunter stand. „Paul Steen“ war einfach auf den Rand des
Nachens geschrieben; der Künstler hatte auf diese Weise den Namen des
Dargestellten mitgetheilt. Es war das derselbe Name, den die Mutter
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[35/0003] 35 Meilen hin Dörfer und einzelne Häuser aus den niedrig umzäunten Feldern aufragen sah; nur gegen Süden nahm das Giebelgewirr einer kleinen, altersgrauen Stadt die weitere Aussicht. Das Städtchen lag etwa zehn Meilen entfernt, ein buntes Gemenge wunderlich aus wetter- gebräunten Dachziegeln durcheinander geschobener Spitzdächer, wenn man es von Weitem betrachtete. Ab und zu blickte eine Mastspitze mitten zwischen ihnen durch und verrieth, daß ein Fluß oder ein künst- licher Hafen sich durch die alte Stadt hinziehen müsse; denn der hohe Deich, der den Schloßpark begrenzte, umgürtete auch, wie eine Brust- wehr, die auf das Meer zulaufenden Straßen. Die letzten Häuser, die sich unmittelbar unter ihm befanden, nahmen sich gar klein aus, da sie kaum an ihn hinanragten. Desto riesiger erschienen Menschen oder Gegenstände, die auf der Höhe des Deiches fortbewegt wurden, aus der Ferne, vorzüglich Abends, wo die Umrisse der Gestalten scharf gegen den blauen Horizont ohne jeglichen Hintergrund hervor- traten, und jene wie gespenstische Silhouetten in der leeren Luft umher zu wandern schienen. Denn man mußte auf dem Deich selbst oder dahinter in der Höhe der Schloßfenster sich befinden, um das Meer sehen zu ______können. Uebri- gens war, wie schon gesagt, in diesem Augenblick überhaupt nichts davon vorhanden, sondern das Land dehnte sich seewärts ebenso endlos hinaus, wie auf der andern Seite. Nur war es nicht grün und trug nicht hier und da Bäume und mit hölzernen Pferdeköpfen geschmückte Giebeldächer. Es war ein einförmiges und einfarbiges Grau, ohne jegliches Merkmal. Das Auge, das darüber hinflog, fand keinen Ruhepunkt, als am Ende, wo die bereits erwähnten Jnseln jetzt höher und deutlicher, gleichsam auf einem Unterbau, emporragten. Es hatte den Anschein, als sei Alles gleichmäßig trocken und als könne man unbehindert bis an die Jnseln hinübergehen; nur dem kundigen Auge verriethen hier und da aufblinkende Sonnenreflexe die Anwesen- heit jener schmalen, aber tiefen Rinnsale, die als unüberspringliche Gräben sich durch „die Watte“ hinziehen und oft das Erreichen des vorgesteckten Zieles zu Fuß unmöglich machen. Es war jetzt gegen Abend, und die Sonne stand schon ziemlich tief im Westen. Sie lag freundlich auf den von grünem Schimmer überzogenen Baumkronen im Park und glänzte über die graue Rück- seite des Schlosses, die unten mit blüthenübersäeten Pfirsich= und Aprikosenbäumen verdeckt war. Ein Paar der hochstämmigsten von ihnen ragten bis an die geöffneten Fenster des zweiten Stockwerks empor. Auch durch diese fiel die Sonne in einen großen, mit alter- thümlichen Schnitzmöbeln behaglich ausgestatteten Saal. Das Jn- nere desselben entsprach den Erwartungen, welche das Gebäude von Außen erregte. Die Neugestaltung der Zeit war an Beiden gleich- mäßig vorübergegangen und hatte ihre ehemals modische Erscheinung als veraltet hinter sich zurückgelassen. Aber Wenige hatten behauptet, daß dies zum Nachtheil derselben geschehe. Die Meisten fühlten un- bewußt, daß die Zimmer, wie das ganze Haus, eine Geschichte be- saßen, welche wohlthuender auf das Gemüth der Besuchenden ein- wirkte, als die mit Marmorplatten und Goldeinfassung luxuriös ein- gerichteten Empfanggemächer der zwei oder drei reichen Kaufleute in der Stadt, deren Handel ihnen derartigen Prunk verstattete. Vor Allem lag die Frühlingssonne so warm auf dem braunen Holzgetäfel und auf den alten, breit umrahmten Portraitgesichtern, wie sie nur jemals vor Jahrzehenden und Jahrhunderten auf den lebendigen Wangen derselben gelegen haben mochte, und es durchschauerte heimlich den, der es ansah, ohne daß er wußte, warum. Auch die schon ältliche Dame mit dem vornehm feinen, etwas blassen Gesicht, dessen Augen in diesem Moment nachdenklich auf dem Gemälde ruhten, das gerade am hellsten von dem Sonnengewoge übergossen war. Dies stellte eine schöne männliche Gestalt dar mit langem blonden Haar; in den blauen freundlichen Augen lag ein ver- wandter Ausdruck mit denjenigen, die zu ihnen aufschauten. Jm Uebrigen stach das Bild von den übrigen Gemälden, die rund umher die Wände bedeckten, auffällig ab. Während die Anderen, je nach der Tracht des Jahrhunderts, in dem sie gelebt, in sorgfältiger Gala- kleidung erschienen, hatte dies in Bezug auf die Letztere fast etwas gewaltsam Vernachlässigtes. Der weite Strand bildete den Hinter- grund desselben, und schaumgekrönte Wellen schlugen über den Rand des Kahns, in dem der Mann, die Hand an einen Mast gelehnt, auf- recht stand. Sein langes Haar flatterte im Winde zurück, wie die derbe Schiffertracht, die ihn umgab — eigentlich nur ein vorn geöffnetes Hemd, aus dem der schlanke Hals und der Anfang der hochgewölbten Brust hervortrat, denn die dazu gehörige Jacke lag neben ihm im Nachen. Ein breiter Gurt hielt das grobe Beinkleid über der Hüfte. Es war Etwas in dem Bilde, das es auf den ersten Blick als Phan- tasiestück kennzeichnete. Es mochte Portrait sein und war es sicherlich, doch die Kleidung war aus der Einbildung hinzugefügt und war un- fraglich neueren Datums als der Kopf, der so verwegen aus ihr hervorragte. Wie gesagt, bildete das Gemälde einen auffälligen Kontrast mit den anderen Portraits, die den Saal schmückten. Auch der vollste Sonnenglanz hätte diese ernsten, bedächtigen Gesichter in ihren steifen Halskrausen und verbrämten Gewändern nicht aufzuheitern vermocht. Sie hatten eine unverkennbare Aehnlichkeit untereinander, so daß man sie für Brüder und Schwestern gehalten hätte, wenn ihre verwandt- schaftlichen Beziehungen nicht durch die Verschiedenheit ihres Kostüms verrathen wären, das sie als Väter und Großväter, Urgroßmütter und nicht mehr mit speziellen Namen zu belegende Urahnen kenntlich machte. Die schöne Frau blickte sie nicht an, aber es war, als ob die Bilder mit einem fast stechenden Ausdruck der Augen auf sie nieder- schauten. Kein einziges bot Aehnlichkeit mit ihr als das zuerst ge- schilderte, und ein kleines medaillonartiges Gemälde, das gerade unter diesem hing. Es war nur ein mit dichten blonden Locken über- fluteter Kinderkopf, doch in allen Zügen aus dem Gesicht des Mannes herausgeschnitten. Derselbe träumerisch verwegene Zug lag in den hellblauen Augen und in dem ganzen Gesicht, von dem es schwer war mit Bestimmtheit zu sagen, ob es einem Knaben oder einem Mädchen angehöre. Mit Gewißheit vermochte man nur zu behaupten, daß die Augen, die jetzt von dem größeren Bilde auf den Medaillon- kopf herabglitten, die der Mutter desselben sein mußten. Trotzdem daß fast ein halbes Jahrhundert sich in die Stirn= und Wangen- falten der Beschauerin hineingelagert haben mochte, ließ das frische schöne Kindergesicht an der Wand sich noch aus ihren freundlichen Zügen herstellen. Nur mußte man eben gar manche Furche aus- glätten, manchen Schatten fortwischen, und die Sonne durfte nicht, wie jetzt, auf dem schlichten Haar spielen und die weißen Striche be- leuchten, welche die allzu emsige Hand der Jahre hineingezeichnet. Die ältliche Dame war die Freifrau von Torwisch, die Wittwe des letzten Amtmanns dieses Namens, dessen Stellung sich seit Jahr- hunderten in der Torwisch'schen Familie vom Vater auf den Sohn vererbt hatte. Dieselbe war jetzt erloschen, mindestens in männlicher Linie. Der Mann mit dem strengen, fast düsteren Gesicht, der vis-à-vis im Saal das Gegenstück zu dem heitern Seemanns=Antlitz bildete, hatte den letzten Raum zwischen den alten Ahnenbildern ausgefüllt. Es war, als ob die Großväter und Großmütter über ihn hin sich begrüßten, und als ob die Letzteren sich enger an ihn hindrängten, um einem etwaigen Versuch, noch einen Platz an seiner Seite zu be- anspruchen, entgegen zu treten. Dabei blickten sie feindselig auf die Dame am Tisch herab. Es waren schon fast zwei Jahrzehende verflossen, seitdem Herr von Torwisch, ohne einen Sohn zu hinterlassen, auf dem Friedhof des Städtchens, das er beinah unumschränkt regiert hatte, in seine Ahnengruft, zu den Gebeinen derer, die hier von der Leinwand nieder- schauten, hinabgesenkt worden. So gerieth die von seinen Vorfahren seit Jahrhunderten behauptete Stellung in andere Hände, und zugleich war der Name derer von Torwisch in Gefahr völlig auszusterben. Er sollte die Freude, diese beseitigt zu sehen, nicht erleben, und konnte sich nur mit der unsicheren Beruhigung aufs Sterbebett legen, daß seine Gemahlin Hoffnung gab, bald nach seinem Tode einem letzten Nachkommen der Torwisch das Leben zu schenken. Allein in seinen letzten Tagen fürchtete er die ängstliche Wahrscheinlichkeit immer mehr, daß es eine Tochter sein werde, und er war eifrig darauf bedacht, für diesen Fall Maßregeln zu treffen, die das gänzliche Aussterben seines Hauses verhüten sollten. Er hatte einen Bruder besessen, der schon vor ihm mit Hinterlassung eines einzigen Sohnes gestorben war. Auf diesen, einem bereits zehnjährigen Knaben, setzte er alle seine Hoff- nungen für die Eventualität einer „weiblichen Geburt“ seiner Ge- mahlin. Er hatte kaum ein Testament errichtet, in welchem er seine sämmtlichen Besitzthümer seiner eventuellen Tochter nur unter der Be- dingung vermachte, daß sie an ihrem zwanzigsten Geburtstage Herrn Alfred von Torwisch die Hand reichen werde, als er mit einem letzten Seufzer die Augen schloß und starb. Drei Monate nach diesem Ereigniß wurde der blonde Lockenkopf in dem Medaillon an der Wand geboren und erhielt den Namen Posthuma von Torwisch. Es war aus zweifachem Grunde gut, daß Herr von Torwisch diesen Tag nicht erlebte. Einmal weil er seine Hauptbefürchtung be- stätigt gesehen hätte, dann, weil es ihm Verdruß bereitet haben würde, daß seine Tochter keinen von den Zügen besaß, die seit Jahr- hunderten in der Familie derer von Torwisch erblich gewesen. Nichts Strenges, Stolzes wie die Männer, nichts Herbes, Hochmüthiges wie die Frauen. Ein lachender, lieblicher Mädchenkopf, nur der Mutter ähnlich und nur dem schönen, trotzigen Seemanns=Antlitz mit den flatternden, winddurchstreiften Haaren. Wen stellte dieses Bild dar, das erst nach dem Tode des Herrn von Torwisch wie ein Sonnenblick unter den finsteren Ahnenportraits erschienen war? Jedenfalls keinen Vorfahren von jüngerem Datum als jene, obwohl kein freiherrlicher Name mit Rang und Qualitäts- angabe darunter stand. „Paul Steen“ war einfach auf den Rand des Nachens geschrieben; der Künstler hatte auf diese Weise den Namen des Dargestellten mitgetheilt. Es war das derselbe Name, den die Mutter

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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 5. Berlin, 2. Februar 1868, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt05_1868/3>, abgerufen am 14.06.2024.