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Sonntags-Blatt. Nr. 18. Berlin, 3. Mai 1868.

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Völkerleben in der kargalinischen und asiatischen Steppe
und der Baschkirei.

Von
W. Groß.
( Fortsetzung. )

Das Arrangement im Jnnern der Wohnungen und die Aus-
schmückung derselben ist sehr einfach und von den Vermögens-
umständen des Einzelnen abhängig. Der Divan, mehrere mit
Silberblech verzierte Kasten, zuweilen auch ein Tisch und einige
Stühle bilden in der Regel das Ameublement. Während Tisch und
Stühle jedoch nur dem untergeordneten Personal oder einem christ-
lichen Gast zur Benutzung dienen, ist der dem Eingange gegenüber
angebrachte und mit Teppichen bekleidete Divan, der die ganze Breite
des Zimmers einnimmt und an beiden Wandseiten mit aufgespeicherten
Kissen beladen ist, allein dem Hausherrn vorbehalten, so daß ein
Platz auf demselben zu den Auszeichnungen des aufmerksamen Wirths
gehört, die nie ohne Hochachtung und Dankbarkeit angenommen und
von dem Gast oder der bevorzugten Gattin mißverstanden werden. Es
ist der Ruheort sowohl bei Tag als bei Nacht; auf ihm wird ge-
schlafen, gespeist und geschrieben, sowie alle Beschäftigungen vor-
genommen, welche der Hausherr zu seiner Kurzweil nöthig hat.

So sehr wir nun auch, von unserem Stadtpunkt aus betrachtet,
im Hinblick auf das Leben dieser Völker Ursach zu haben glauben,
dieselben zu bemitleiden, so möchte es doch sehr zweifelhaft schei-
nen, ob sie uns dafür Dank wissen oder ob sie uns unser Mit-
leiden nicht mit Verachtung zurückgeben würden. Sofern wir freilich
nur den Kulturstand, auf dem sie stehen, ins Auge fassen, so würden
wir sie zum mindesten nicht zu beneiden haben; allein weniger dürften
wir Veranlassung haben sie zu bedauern, sobald wir Brauch und
Sitten des Landes berücksichtigen und speziell auf ihr häusliches
Leben und die Art und Weise, wie sie sich ernähren, eingehen wollen.

Wer Gelegenheit gehabt hat, sich durch einen längeren und regen
Verkehr in die Verhältnisse des engeren Familienlebens dieser Völker
einweihen zu lassen, der wird bei nur einiger Aufmerksamkeit erfahren
und die Ueberzeugung gewonnen haben, daß mit wenigen Ausnahmen,
die nicht als Norm gelten können, Armuth und Magerkeit ihre Mahl-
zeiten nicht auszeichnen; dagegen würde sich weit eher das Gegen-
theil nachweisen lassen, und das Quantum, das an einer einzigen
Mahlzeit verspeist wird, fast unsere Besorgniß erregen können. Der
bis spät in die Nacht auch hier wie in der Steppe dampfende Kessel,
der ununterbrochen die Thätigkeit einer der meist verblühten Frauen
in Anspruch nimmt, um neue Gerichte zu produziren, gleicht einer
unversieglichen wunderbaren Quelle und liefert fast ohne Unterbrechung
Auflagen über Auflagen der Kochkunst, von welchen jedoch die eine
der anderen sehr ähnlich sieht.

Dem selbstempfangenen Eindruck nach zu urtheilen, den ein solches
zum ersten Mal genossenes Mahl auf mich ausübte, möchte ich
glauben, daß es nicht uninteressant wäre, die Einzelheiten eines
solchen näher kennen zu lernen, und will ich mich bemühen, dasselbe
zu schildern.

Jch muß vorausschicken, daß schon die erste Schüssel auf einen
gut gepflegten Magen schließen läßt und geeignet sein dürfte,
den Verdruß und Neid vieler unserer Bauernmagen wachzurufen,
während die nachfolgenden Schüsseln weit eher angethan sind, die
Beunruhigung resp. Reizbarkeit zu steigern, als diese Regung des
Mißwollens abzuschwächen. Fast immer bestehen ihre Mahlzeiten aus
drei bis vier Gängen, und zwar in folgender Ordnung.

Zuerst sah ich immer in einem hölzernen Napf, der bei den hervor-
ragenden Familien möglichst bunt bemalt war, das Fleisch auftragen und
auf den Divan vor dem Hausherrn hinstellen, der bereits in Erwar-
tung des Kommenden mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Kissen
am Platz sitzt, um denselben zu empfangen, mit dem Kennerblick eines
Generals schon aus der Ferne seinen Jnhalt erspähend und musternd,
um die Geschicklichkeit seines ehemaligen Lieblings zu loben oder zu
tadeln.

Sobald die Prüfung vorüber und die Prüfung mit Hülfe des
Auges und der Nase zu seiner Zufriedenheit ausfiel und sein Blick
entweder sich klärt oder verfinstert, streift er nach Fleischersitte die
weiten Aermel seines Chakal etwas nach oben, wäscht mit dem
ihm dargereichten Wasser die Hände und ergreift mit denselben, wie
der Adler das Lamm, fest und entschlossen das dampfende und duftende
Fleisch, um es in Stücke zu zerlegen, während das triefende Fett
zwischen den Fingern hindurch wie aus einer Oelpresse abläuft.

Bevor dieses interessante Zerlegen und die darauf folgende eben
so interessante Eintheilung in Portionen beendigt ist, welche letztere
abermals von einer außerordentlichen Uebung und mathematischen
[Spaltenumbruch] Sicherheit in der Abschätzung der einzelnen Größen Zeugniß ab-
legt, füllen sich auch die noch leeren Plätze an der erwähnten Tafel
mit den Mitgliedern der oft sehr zahlreichen Familie, und ihm zur
Seite erscheint seine Dulcinea, vorausgesetzt, daß er nicht eifer-
süchtig ist und die Anwesenheit eines Gastes das Erscheinen der
jüngeren Gemahlinnen ihm nicht rathsam erscheinen läßt.

Die Unterhaltung während des Diners ist nichts weniger als lebhaft;
im Gegentheil herrscht dabei eine fast ängstliche Stille, und selten hat
einer der Tischgenossen eine halblaute Bemerkung zu machen. Ernst
und gemessen erhalten die Mitglieder die ihnen zugetheilten Stücke,
eben so gemessen und schweigsam nehmen sie sie hin, um sie eben
so geräuschlos verschwinden zu lassen, obwohl ich bemerkt zu haben
glaube, daß die Vertheilung in einem Punkte nicht ganz unpar-
teiisch ausfiel und dann und wann scheele Blicke zu seiner rechts
sitzenden Flamme sich hinüber stahlen.

Alle diejenigen Jnstrumente, wie Messer und Gabel, ohne welche
wir nicht mit einem Beefsteak fertig werden zu können meinen, viel
weniger mit einem Mittagsmahl, sind dem Baschkiren ganz über-
flüssige und zum Theil auch noch ganz unbekannte Sachen, daher
auch an seiner Tafel nie vorhanden. Nur in sehr seltenen Fällen,
wenn die Zähigkeit eines sehnigen Stücks der Schärfe der Zähne
und der Kraft der Finger hartnäckigen Widerstand leisten sollte,
wird das zur Seite hängende Messer gezogen, um mit demselben
das unzureichende Gebiß zu unterstützen.

Nach dem Fleisch folgt in der Regel als zweites Gericht eine
Nudel= oder Klößchensuppe, was an und für sich nicht eben interessant
erscheinen dürfte, wenn nicht die Art und Weise, wie sie verspeist
wird, der Aufmerksamkeit und Beachtung werth wäre. Die run-
den hölzernen Löffel, welche neben dem Napf hingeschüttet werden,
bleiben vorläufig außer Anwendung. Der Hausherr taucht zuerst
mit den Fingern bis auf den Grund der Schüssel und ergreift eine
Handvoll der zu Boden gesunkenen Teigmassen resp. Nudeln, die beim
Emporziehen der Hand aus der Tiefe theils zitternd um die Finger
geschlungen, theils zwischen denselben, wie zappelnde Regenwürmer
lang herunterhängend, gehalten und dann verschluckt werden. Dem
Beispiel des Hausherrn folgen die Nächstsitzenden, wenn es die Um-
stände erlauben, die bevorzugte Gattin, dann der Zweite, Dritte,
Vierte der Ordnung nach bis zum Letzten, um denselben Fischzug
von Neuem zu beginnen, bis derselbe immer geringere Resultate
ergiebt und die Nudeln verschwunden sind, worauf zu den Waffen
gegriffen und mit den Löffeln die Brühe hinterher gegessen wird.
Nach der Suppe folgt ein gemischtes Gericht, dessen Bestandtheile
ich nicht habe ermitteln können, dessen Farbe jedoch einen Milchschim-
mer hatte und dessen Aroma auf die in der Steppe wild wachsende
Zwiebel schließen ließ, worauf entweder Thee oder noch irgend ein
Dessert genommen wird, nach welchem das Mahl als beendigt an-
gesehen werden kann, die Tischgenossen sich entfernen und der Haus-
herr seiner früheren Ruhe sich hingiebt.

Eine Schwäche oder Leidenschaft, die jeder Baschkire theilt, ist die
Liebe zu Kartoffeln, Thee und Brot -- drei Artikel, die, mit Ausnahme
des ersten, der Kartoffel, die höchst selten vorkommt, bei den Russen
reichlich vertreten sich vorfinden, und die dazu beitragen, den Bekenner
Muhameds mit dem verabscheuungswürdigen Christen, wie er vorzugs-
weise den ihm zunächst bekannten Russen zu nennen beliebt, einigermaßen
auszusöhnen. Jeder einzelne dieser drei Artikel ist im Stande, ihn aus
einer bedeutenden Entfernung von vielen Meilen herbei zu locken, und
mit der größten Zufriedenheit läßt er den klügeren Russen gewähren,
wenn dieser jene Liebhaberei zu seinem Vortheil ausbeutet und die
von ihm geleistete Arbeit mit Thee und Brot oder mit der noch sel-
teneren Kartoffel bezahlt. Jch selbst habe, wenn kein Geldgebot ihre
Arbeitsscheu besiegen konnte, mit einem Samowar kochenden Wassers,
einigen Loth Thee, etwas Zucker und einer Quantität gekochter Kar-
toffeln, die statt des Gebäcks trocken zum Thee verspeist werden, eine
große Anzahl Baschkiren für die Arbeit gewonnen.

Eine eben solche Vorliebe, wie sie der Steppenbewohner für einige
dieser Delikatessen an den Tag legt, verräth er für alle Süßigkeiten,
wogegen ein eben so starker Widerwille gegen alle Säuren sich
kund giebt. Jch will hierfür als Beweis einen Scherz anzuführen
mir erlauben, der, so oft ich mir denselben in das Gedächtniß zurück-
führe, mich heiter stimmt.

Mehr als einmal bereitete ich mir das Vergnügen, Natschalniks
oder Beamte der Baschkiren, von welchen ich aufgesucht und mit
Kumis und Honig beschenkt wurde, zu Tisch einzuladen, um mich an
ihren kleinen Verlegenheiten zu amüsiren. Bei einem solchen Mahl
ereignete sich's, daß eine Schüssel Salat servirt wurde -- ein Gericht,
das meinem Gast völlig fremd war; allein die Aufmerksamkeit, welche
allseitig der Schüssel erwiesen wurde, machte ihn unsicher und besiegte
endlich das Mißtrauen, mit welchem er das seltsame Gericht musterte,
so daß er sich zu einem Versuch verleiten ließ und mit Entschlossen-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]
Völkerleben in der kargalinischen und asiatischen Steppe
und der Baschkirei.

Von
W. Groß.
( Fortsetzung. )

Das Arrangement im Jnnern der Wohnungen und die Aus-
schmückung derselben ist sehr einfach und von den Vermögens-
umständen des Einzelnen abhängig. Der Divan, mehrere mit
Silberblech verzierte Kasten, zuweilen auch ein Tisch und einige
Stühle bilden in der Regel das Ameublement. Während Tisch und
Stühle jedoch nur dem untergeordneten Personal oder einem christ-
lichen Gast zur Benutzung dienen, ist der dem Eingange gegenüber
angebrachte und mit Teppichen bekleidete Divan, der die ganze Breite
des Zimmers einnimmt und an beiden Wandseiten mit aufgespeicherten
Kissen beladen ist, allein dem Hausherrn vorbehalten, so daß ein
Platz auf demselben zu den Auszeichnungen des aufmerksamen Wirths
gehört, die nie ohne Hochachtung und Dankbarkeit angenommen und
von dem Gast oder der bevorzugten Gattin mißverstanden werden. Es
ist der Ruheort sowohl bei Tag als bei Nacht; auf ihm wird ge-
schlafen, gespeist und geschrieben, sowie alle Beschäftigungen vor-
genommen, welche der Hausherr zu seiner Kurzweil nöthig hat.

So sehr wir nun auch, von unserem Stadtpunkt aus betrachtet,
im Hinblick auf das Leben dieser Völker Ursach zu haben glauben,
dieselben zu bemitleiden, so möchte es doch sehr zweifelhaft schei-
nen, ob sie uns dafür Dank wissen oder ob sie uns unser Mit-
leiden nicht mit Verachtung zurückgeben würden. Sofern wir freilich
nur den Kulturstand, auf dem sie stehen, ins Auge fassen, so würden
wir sie zum mindesten nicht zu beneiden haben; allein weniger dürften
wir Veranlassung haben sie zu bedauern, sobald wir Brauch und
Sitten des Landes berücksichtigen und speziell auf ihr häusliches
Leben und die Art und Weise, wie sie sich ernähren, eingehen wollen.

Wer Gelegenheit gehabt hat, sich durch einen längeren und regen
Verkehr in die Verhältnisse des engeren Familienlebens dieser Völker
einweihen zu lassen, der wird bei nur einiger Aufmerksamkeit erfahren
und die Ueberzeugung gewonnen haben, daß mit wenigen Ausnahmen,
die nicht als Norm gelten können, Armuth und Magerkeit ihre Mahl-
zeiten nicht auszeichnen; dagegen würde sich weit eher das Gegen-
theil nachweisen lassen, und das Quantum, das an einer einzigen
Mahlzeit verspeist wird, fast unsere Besorgniß erregen können. Der
bis spät in die Nacht auch hier wie in der Steppe dampfende Kessel,
der ununterbrochen die Thätigkeit einer der meist verblühten Frauen
in Anspruch nimmt, um neue Gerichte zu produziren, gleicht einer
unversieglichen wunderbaren Quelle und liefert fast ohne Unterbrechung
Auflagen über Auflagen der Kochkunst, von welchen jedoch die eine
der anderen sehr ähnlich sieht.

Dem selbstempfangenen Eindruck nach zu urtheilen, den ein solches
zum ersten Mal genossenes Mahl auf mich ausübte, möchte ich
glauben, daß es nicht uninteressant wäre, die Einzelheiten eines
solchen näher kennen zu lernen, und will ich mich bemühen, dasselbe
zu schildern.

Jch muß vorausschicken, daß schon die erste Schüssel auf einen
gut gepflegten Magen schließen läßt und geeignet sein dürfte,
den Verdruß und Neid vieler unserer Bauernmagen wachzurufen,
während die nachfolgenden Schüsseln weit eher angethan sind, die
Beunruhigung resp. Reizbarkeit zu steigern, als diese Regung des
Mißwollens abzuschwächen. Fast immer bestehen ihre Mahlzeiten aus
drei bis vier Gängen, und zwar in folgender Ordnung.

Zuerst sah ich immer in einem hölzernen Napf, der bei den hervor-
ragenden Familien möglichst bunt bemalt war, das Fleisch auftragen und
auf den Divan vor dem Hausherrn hinstellen, der bereits in Erwar-
tung des Kommenden mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Kissen
am Platz sitzt, um denselben zu empfangen, mit dem Kennerblick eines
Generals schon aus der Ferne seinen Jnhalt erspähend und musternd,
um die Geschicklichkeit seines ehemaligen Lieblings zu loben oder zu
tadeln.

Sobald die Prüfung vorüber und die Prüfung mit Hülfe des
Auges und der Nase zu seiner Zufriedenheit ausfiel und sein Blick
entweder sich klärt oder verfinstert, streift er nach Fleischersitte die
weiten Aermel seines Chakal etwas nach oben, wäscht mit dem
ihm dargereichten Wasser die Hände und ergreift mit denselben, wie
der Adler das Lamm, fest und entschlossen das dampfende und duftende
Fleisch, um es in Stücke zu zerlegen, während das triefende Fett
zwischen den Fingern hindurch wie aus einer Oelpresse abläuft.

Bevor dieses interessante Zerlegen und die darauf folgende eben
so interessante Eintheilung in Portionen beendigt ist, welche letztere
abermals von einer außerordentlichen Uebung und mathematischen
[Spaltenumbruch] Sicherheit in der Abschätzung der einzelnen Größen Zeugniß ab-
legt, füllen sich auch die noch leeren Plätze an der erwähnten Tafel
mit den Mitgliedern der oft sehr zahlreichen Familie, und ihm zur
Seite erscheint seine Dulcinea, vorausgesetzt, daß er nicht eifer-
süchtig ist und die Anwesenheit eines Gastes das Erscheinen der
jüngeren Gemahlinnen ihm nicht rathsam erscheinen läßt.

Die Unterhaltung während des Diners ist nichts weniger als lebhaft;
im Gegentheil herrscht dabei eine fast ängstliche Stille, und selten hat
einer der Tischgenossen eine halblaute Bemerkung zu machen. Ernst
und gemessen erhalten die Mitglieder die ihnen zugetheilten Stücke,
eben so gemessen und schweigsam nehmen sie sie hin, um sie eben
so geräuschlos verschwinden zu lassen, obwohl ich bemerkt zu haben
glaube, daß die Vertheilung in einem Punkte nicht ganz unpar-
teiisch ausfiel und dann und wann scheele Blicke zu seiner rechts
sitzenden Flamme sich hinüber stahlen.

Alle diejenigen Jnstrumente, wie Messer und Gabel, ohne welche
wir nicht mit einem Beefsteak fertig werden zu können meinen, viel
weniger mit einem Mittagsmahl, sind dem Baschkiren ganz über-
flüssige und zum Theil auch noch ganz unbekannte Sachen, daher
auch an seiner Tafel nie vorhanden. Nur in sehr seltenen Fällen,
wenn die Zähigkeit eines sehnigen Stücks der Schärfe der Zähne
und der Kraft der Finger hartnäckigen Widerstand leisten sollte,
wird das zur Seite hängende Messer gezogen, um mit demselben
das unzureichende Gebiß zu unterstützen.

Nach dem Fleisch folgt in der Regel als zweites Gericht eine
Nudel= oder Klößchensuppe, was an und für sich nicht eben interessant
erscheinen dürfte, wenn nicht die Art und Weise, wie sie verspeist
wird, der Aufmerksamkeit und Beachtung werth wäre. Die run-
den hölzernen Löffel, welche neben dem Napf hingeschüttet werden,
bleiben vorläufig außer Anwendung. Der Hausherr taucht zuerst
mit den Fingern bis auf den Grund der Schüssel und ergreift eine
Handvoll der zu Boden gesunkenen Teigmassen resp. Nudeln, die beim
Emporziehen der Hand aus der Tiefe theils zitternd um die Finger
geschlungen, theils zwischen denselben, wie zappelnde Regenwürmer
lang herunterhängend, gehalten und dann verschluckt werden. Dem
Beispiel des Hausherrn folgen die Nächstsitzenden, wenn es die Um-
stände erlauben, die bevorzugte Gattin, dann der Zweite, Dritte,
Vierte der Ordnung nach bis zum Letzten, um denselben Fischzug
von Neuem zu beginnen, bis derselbe immer geringere Resultate
ergiebt und die Nudeln verschwunden sind, worauf zu den Waffen
gegriffen und mit den Löffeln die Brühe hinterher gegessen wird.
Nach der Suppe folgt ein gemischtes Gericht, dessen Bestandtheile
ich nicht habe ermitteln können, dessen Farbe jedoch einen Milchschim-
mer hatte und dessen Aroma auf die in der Steppe wild wachsende
Zwiebel schließen ließ, worauf entweder Thee oder noch irgend ein
Dessert genommen wird, nach welchem das Mahl als beendigt an-
gesehen werden kann, die Tischgenossen sich entfernen und der Haus-
herr seiner früheren Ruhe sich hingiebt.

Eine Schwäche oder Leidenschaft, die jeder Baschkire theilt, ist die
Liebe zu Kartoffeln, Thee und Brot — drei Artikel, die, mit Ausnahme
des ersten, der Kartoffel, die höchst selten vorkommt, bei den Russen
reichlich vertreten sich vorfinden, und die dazu beitragen, den Bekenner
Muhameds mit dem verabscheuungswürdigen Christen, wie er vorzugs-
weise den ihm zunächst bekannten Russen zu nennen beliebt, einigermaßen
auszusöhnen. Jeder einzelne dieser drei Artikel ist im Stande, ihn aus
einer bedeutenden Entfernung von vielen Meilen herbei zu locken, und
mit der größten Zufriedenheit läßt er den klügeren Russen gewähren,
wenn dieser jene Liebhaberei zu seinem Vortheil ausbeutet und die
von ihm geleistete Arbeit mit Thee und Brot oder mit der noch sel-
teneren Kartoffel bezahlt. Jch selbst habe, wenn kein Geldgebot ihre
Arbeitsscheu besiegen konnte, mit einem Samowar kochenden Wassers,
einigen Loth Thee, etwas Zucker und einer Quantität gekochter Kar-
toffeln, die statt des Gebäcks trocken zum Thee verspeist werden, eine
große Anzahl Baschkiren für die Arbeit gewonnen.

Eine eben solche Vorliebe, wie sie der Steppenbewohner für einige
dieser Delikatessen an den Tag legt, verräth er für alle Süßigkeiten,
wogegen ein eben so starker Widerwille gegen alle Säuren sich
kund giebt. Jch will hierfür als Beweis einen Scherz anzuführen
mir erlauben, der, so oft ich mir denselben in das Gedächtniß zurück-
führe, mich heiter stimmt.

Mehr als einmal bereitete ich mir das Vergnügen, Natschalniks
oder Beamte der Baschkiren, von welchen ich aufgesucht und mit
Kumis und Honig beschenkt wurde, zu Tisch einzuladen, um mich an
ihren kleinen Verlegenheiten zu amüsiren. Bei einem solchen Mahl
ereignete sich's, daß eine Schüssel Salat servirt wurde — ein Gericht,
das meinem Gast völlig fremd war; allein die Aufmerksamkeit, welche
allseitig der Schüssel erwiesen wurde, machte ihn unsicher und besiegte
endlich das Mißtrauen, mit welchem er das seltsame Gericht musterte,
so daß er sich zu einem Versuch verleiten ließ und mit Entschlossen-
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[140/0004] 140 Völkerleben in der kargalinischen und asiatischen Steppe und der Baschkirei. Von W. Groß. ( Fortsetzung. ) Das Arrangement im Jnnern der Wohnungen und die Aus- schmückung derselben ist sehr einfach und von den Vermögens- umständen des Einzelnen abhängig. Der Divan, mehrere mit Silberblech verzierte Kasten, zuweilen auch ein Tisch und einige Stühle bilden in der Regel das Ameublement. Während Tisch und Stühle jedoch nur dem untergeordneten Personal oder einem christ- lichen Gast zur Benutzung dienen, ist der dem Eingange gegenüber angebrachte und mit Teppichen bekleidete Divan, der die ganze Breite des Zimmers einnimmt und an beiden Wandseiten mit aufgespeicherten Kissen beladen ist, allein dem Hausherrn vorbehalten, so daß ein Platz auf demselben zu den Auszeichnungen des aufmerksamen Wirths gehört, die nie ohne Hochachtung und Dankbarkeit angenommen und von dem Gast oder der bevorzugten Gattin mißverstanden werden. Es ist der Ruheort sowohl bei Tag als bei Nacht; auf ihm wird ge- schlafen, gespeist und geschrieben, sowie alle Beschäftigungen vor- genommen, welche der Hausherr zu seiner Kurzweil nöthig hat. So sehr wir nun auch, von unserem Stadtpunkt aus betrachtet, im Hinblick auf das Leben dieser Völker Ursach zu haben glauben, dieselben zu bemitleiden, so möchte es doch sehr zweifelhaft schei- nen, ob sie uns dafür Dank wissen oder ob sie uns unser Mit- leiden nicht mit Verachtung zurückgeben würden. Sofern wir freilich nur den Kulturstand, auf dem sie stehen, ins Auge fassen, so würden wir sie zum mindesten nicht zu beneiden haben; allein weniger dürften wir Veranlassung haben sie zu bedauern, sobald wir Brauch und Sitten des Landes berücksichtigen und speziell auf ihr häusliches Leben und die Art und Weise, wie sie sich ernähren, eingehen wollen. Wer Gelegenheit gehabt hat, sich durch einen längeren und regen Verkehr in die Verhältnisse des engeren Familienlebens dieser Völker einweihen zu lassen, der wird bei nur einiger Aufmerksamkeit erfahren und die Ueberzeugung gewonnen haben, daß mit wenigen Ausnahmen, die nicht als Norm gelten können, Armuth und Magerkeit ihre Mahl- zeiten nicht auszeichnen; dagegen würde sich weit eher das Gegen- theil nachweisen lassen, und das Quantum, das an einer einzigen Mahlzeit verspeist wird, fast unsere Besorgniß erregen können. Der bis spät in die Nacht auch hier wie in der Steppe dampfende Kessel, der ununterbrochen die Thätigkeit einer der meist verblühten Frauen in Anspruch nimmt, um neue Gerichte zu produziren, gleicht einer unversieglichen wunderbaren Quelle und liefert fast ohne Unterbrechung Auflagen über Auflagen der Kochkunst, von welchen jedoch die eine der anderen sehr ähnlich sieht. Dem selbstempfangenen Eindruck nach zu urtheilen, den ein solches zum ersten Mal genossenes Mahl auf mich ausübte, möchte ich glauben, daß es nicht uninteressant wäre, die Einzelheiten eines solchen näher kennen zu lernen, und will ich mich bemühen, dasselbe zu schildern. Jch muß vorausschicken, daß schon die erste Schüssel auf einen gut gepflegten Magen schließen läßt und geeignet sein dürfte, den Verdruß und Neid vieler unserer Bauernmagen wachzurufen, während die nachfolgenden Schüsseln weit eher angethan sind, die Beunruhigung resp. Reizbarkeit zu steigern, als diese Regung des Mißwollens abzuschwächen. Fast immer bestehen ihre Mahlzeiten aus drei bis vier Gängen, und zwar in folgender Ordnung. Zuerst sah ich immer in einem hölzernen Napf, der bei den hervor- ragenden Familien möglichst bunt bemalt war, das Fleisch auftragen und auf den Divan vor dem Hausherrn hinstellen, der bereits in Erwar- tung des Kommenden mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Kissen am Platz sitzt, um denselben zu empfangen, mit dem Kennerblick eines Generals schon aus der Ferne seinen Jnhalt erspähend und musternd, um die Geschicklichkeit seines ehemaligen Lieblings zu loben oder zu tadeln. Sobald die Prüfung vorüber und die Prüfung mit Hülfe des Auges und der Nase zu seiner Zufriedenheit ausfiel und sein Blick entweder sich klärt oder verfinstert, streift er nach Fleischersitte die weiten Aermel seines Chakal etwas nach oben, wäscht mit dem ihm dargereichten Wasser die Hände und ergreift mit denselben, wie der Adler das Lamm, fest und entschlossen das dampfende und duftende Fleisch, um es in Stücke zu zerlegen, während das triefende Fett zwischen den Fingern hindurch wie aus einer Oelpresse abläuft. Bevor dieses interessante Zerlegen und die darauf folgende eben so interessante Eintheilung in Portionen beendigt ist, welche letztere abermals von einer außerordentlichen Uebung und mathematischen Sicherheit in der Abschätzung der einzelnen Größen Zeugniß ab- legt, füllen sich auch die noch leeren Plätze an der erwähnten Tafel mit den Mitgliedern der oft sehr zahlreichen Familie, und ihm zur Seite erscheint seine Dulcinea, vorausgesetzt, daß er nicht eifer- süchtig ist und die Anwesenheit eines Gastes das Erscheinen der jüngeren Gemahlinnen ihm nicht rathsam erscheinen läßt. Die Unterhaltung während des Diners ist nichts weniger als lebhaft; im Gegentheil herrscht dabei eine fast ängstliche Stille, und selten hat einer der Tischgenossen eine halblaute Bemerkung zu machen. Ernst und gemessen erhalten die Mitglieder die ihnen zugetheilten Stücke, eben so gemessen und schweigsam nehmen sie sie hin, um sie eben so geräuschlos verschwinden zu lassen, obwohl ich bemerkt zu haben glaube, daß die Vertheilung in einem Punkte nicht ganz unpar- teiisch ausfiel und dann und wann scheele Blicke zu seiner rechts sitzenden Flamme sich hinüber stahlen. Alle diejenigen Jnstrumente, wie Messer und Gabel, ohne welche wir nicht mit einem Beefsteak fertig werden zu können meinen, viel weniger mit einem Mittagsmahl, sind dem Baschkiren ganz über- flüssige und zum Theil auch noch ganz unbekannte Sachen, daher auch an seiner Tafel nie vorhanden. Nur in sehr seltenen Fällen, wenn die Zähigkeit eines sehnigen Stücks der Schärfe der Zähne und der Kraft der Finger hartnäckigen Widerstand leisten sollte, wird das zur Seite hängende Messer gezogen, um mit demselben das unzureichende Gebiß zu unterstützen. Nach dem Fleisch folgt in der Regel als zweites Gericht eine Nudel= oder Klößchensuppe, was an und für sich nicht eben interessant erscheinen dürfte, wenn nicht die Art und Weise, wie sie verspeist wird, der Aufmerksamkeit und Beachtung werth wäre. Die run- den hölzernen Löffel, welche neben dem Napf hingeschüttet werden, bleiben vorläufig außer Anwendung. Der Hausherr taucht zuerst mit den Fingern bis auf den Grund der Schüssel und ergreift eine Handvoll der zu Boden gesunkenen Teigmassen resp. Nudeln, die beim Emporziehen der Hand aus der Tiefe theils zitternd um die Finger geschlungen, theils zwischen denselben, wie zappelnde Regenwürmer lang herunterhängend, gehalten und dann verschluckt werden. Dem Beispiel des Hausherrn folgen die Nächstsitzenden, wenn es die Um- stände erlauben, die bevorzugte Gattin, dann der Zweite, Dritte, Vierte der Ordnung nach bis zum Letzten, um denselben Fischzug von Neuem zu beginnen, bis derselbe immer geringere Resultate ergiebt und die Nudeln verschwunden sind, worauf zu den Waffen gegriffen und mit den Löffeln die Brühe hinterher gegessen wird. Nach der Suppe folgt ein gemischtes Gericht, dessen Bestandtheile ich nicht habe ermitteln können, dessen Farbe jedoch einen Milchschim- mer hatte und dessen Aroma auf die in der Steppe wild wachsende Zwiebel schließen ließ, worauf entweder Thee oder noch irgend ein Dessert genommen wird, nach welchem das Mahl als beendigt an- gesehen werden kann, die Tischgenossen sich entfernen und der Haus- herr seiner früheren Ruhe sich hingiebt. Eine Schwäche oder Leidenschaft, die jeder Baschkire theilt, ist die Liebe zu Kartoffeln, Thee und Brot — drei Artikel, die, mit Ausnahme des ersten, der Kartoffel, die höchst selten vorkommt, bei den Russen reichlich vertreten sich vorfinden, und die dazu beitragen, den Bekenner Muhameds mit dem verabscheuungswürdigen Christen, wie er vorzugs- weise den ihm zunächst bekannten Russen zu nennen beliebt, einigermaßen auszusöhnen. Jeder einzelne dieser drei Artikel ist im Stande, ihn aus einer bedeutenden Entfernung von vielen Meilen herbei zu locken, und mit der größten Zufriedenheit läßt er den klügeren Russen gewähren, wenn dieser jene Liebhaberei zu seinem Vortheil ausbeutet und die von ihm geleistete Arbeit mit Thee und Brot oder mit der noch sel- teneren Kartoffel bezahlt. Jch selbst habe, wenn kein Geldgebot ihre Arbeitsscheu besiegen konnte, mit einem Samowar kochenden Wassers, einigen Loth Thee, etwas Zucker und einer Quantität gekochter Kar- toffeln, die statt des Gebäcks trocken zum Thee verspeist werden, eine große Anzahl Baschkiren für die Arbeit gewonnen. Eine eben solche Vorliebe, wie sie der Steppenbewohner für einige dieser Delikatessen an den Tag legt, verräth er für alle Süßigkeiten, wogegen ein eben so starker Widerwille gegen alle Säuren sich kund giebt. Jch will hierfür als Beweis einen Scherz anzuführen mir erlauben, der, so oft ich mir denselben in das Gedächtniß zurück- führe, mich heiter stimmt. Mehr als einmal bereitete ich mir das Vergnügen, Natschalniks oder Beamte der Baschkiren, von welchen ich aufgesucht und mit Kumis und Honig beschenkt wurde, zu Tisch einzuladen, um mich an ihren kleinen Verlegenheiten zu amüsiren. Bei einem solchen Mahl ereignete sich's, daß eine Schüssel Salat servirt wurde — ein Gericht, das meinem Gast völlig fremd war; allein die Aufmerksamkeit, welche allseitig der Schüssel erwiesen wurde, machte ihn unsicher und besiegte endlich das Mißtrauen, mit welchem er das seltsame Gericht musterte, so daß er sich zu einem Versuch verleiten ließ und mit Entschlossen-

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 18. Berlin, 3. Mai 1868, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt18_1868/4>, abgerufen am 01.06.2024.