Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sonntags-Blatt. Nr. 23. Berlin, 7. Juni 1868.

Bild:
erste Seite
Sonntags=Blatt
für
Jedermann aus dem Volke.
Nr. 23. -- 1868.Ernst Dohm.Am 7. Juni.


Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.



Zwei Väter.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]

Nachdem dies Geschäft abgemacht war, begann Ludwig mit erregter
Stimme:

"Heut, des Nachmittags, ging ich hin; ich war diesmal früher
mit meinen Besuchen fertig geworden als gewöhnlich. Der
Diener sagte mir, Marie sei ausgegangen, nur Helene sei zu Hause.
Jch wollte wieder umkehren; aber, dachte ich bei mir, welche thörichte
Furcht! Jch ging hinein. Helene saß am Fenster und beachtete nicht
meinen Eintritt in das Zimmer. Als ich sie anredete, sah sie mich
mit ihren großen dunklen Augen theilnahmlos an; sie hatte offenbar
gar nicht gehört, was ich gesprochen hatte. Dazu fiel mir auf, daß
sie bleicher als gewöhnlich aussah. Jch wandte mich nochmals mit
einigen Worten an sie; nach kurzer Pause nahm sie von dem Tisch,
welcher vor ihrem Stuhl stand, einen Brief auf und reichte ihn mir,
ohne ein Wort hinzuzufügen. Der Brief war von ihrem Vater und
offenbar in der äußersten Erregung geschrieben, wie nicht nur der
Jnhalt, sondern auch die unsicheren Zeichen erkennen ließen. Der
Vater forderte die Rückkehr der Tochter noch an diesem Abend aus
dem fluchbelasteten Hause. Käme sie nicht sogleich, so würde er seine
ganze väterliche Gewalt und sogar die Behörden aufbieten. Da-
zwischen waren die merkwürdigsten Aeußerungen über die Bewohner
des Hauses eingeflochten, in welchem sie sich befinde, untermischt sogar
mit furchtbaren Drohungen. Wenn ich auch nicht Alles verstand --
so viel war mir gewiß, daß ich Helene verlieren sollte; denn am Ende
des Briefes war hinzugefügt, daß sie mit dem kommenden Morgen ab-
reisen werde. Jch stand erschüttert; vor mir saß das Mädchen,
welches mich unverwandt und angstvoll anblickte. Nichts mehr weiß
ich von dem, was ich ihr sagte; ich sprach wirr und zusammenhangs-
los, bald von dem Verlust, der mich bedrohe, bald von dem Schrecken,
welchen ihr dies Vorgehen ihres Vaters verursachen müsse. Endlich,
endlich brachte ich es so weit, daß die Angst ihres Herzens sich in
Worten Luft zu machen suchte. Offen, wie sie es immer that,
erklärte sie mir, daß sie jetzt mehr denn je eine unbesiegbare Scheu
hätte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Sie wolle nicht
mehr als seine Tochter angesehen werden, denn er habe seine Rechte
nur gemißbraucht; die Furcht sei das einzige Band, welches zwischen
ihr und ihrem Vater bestehe. Aber wohin sollte sie fliehen, um sich
seinen Wuthausbrüchen zu entziehen? "Meine Lage ist schrecklich", rief
sie aus und sprang vom Stuhl auf; "überall, wohin ich komme, ver-
breite ich Kummer um mich her. Jch muß weg von hier. Helfen
Sie mir, wie Sie schon einmal gethan haben!" Sie faßte meine
Hände und legte erschöpft ihren Kopf an meine Brust. Jn diesem
Augenblick konnte ich nicht mehr, was mich innerlich bewegte,
zurückhalten. Jch sprach ihr von meiner Liebe, und daß es die einzige
Rettung vor ihrem Mißgeschick wäre, wenn sie meine Hand an-
nähme; die Braut habe noch andere Pflichten, als ihrem Vater
blindlings zu gehorchen. Jch umfaßte, ich küßte sie. Sie ließ Alles
geschehen, und ihr Haupt fiel immer wieder an meine Brust zurück.
Mit beredten Worten drängte ich sie, sich zu entscheiden; die heißesten
Versicherungen strömten von meinen Lippen. Sie antwortete mir
nicht. Da riß ich mich von ihr los. Laß diese Zeit nicht nutzlos
verstreichen, rief ich aus, es sind kostbare Minuten für unser Beider
Leben. Helene, sprich ohne Scheu, liebst Du mich? Sie wankte;
dann raffte sie sich plötzlich auf und stürzte auf mich zu, umschlang
meinen Hals mit ihren Armen und gestand mir, daß sie mich schon
lange geliebt habe. Freund, die Erinnerung an diesen Moment soll
[Spaltenumbruch] ein langes, qualvolles Leben nicht verwischen! Jedes Elend will ich
um das Bewußtsein einer solchen Liebe tragen. Was folgt, ist furcht-
bar für mich und sie. Jch will es Dir erzählen, aber zuvor muß ich
erst ein wenig mich sammeln; alle bösen Geister dringen bei der
Erinnerung daran auf mich ein."

Dem Arzt stand wirklich der Angstschweiß auf der Stirn; er warf
sich erschöpft auf das Sopha neben dem Assessor hin.

Nach einer Pause -- der Assessor hatte kein Wort erwidert --
fuhr er fort:

"Sie löste sich plötzlich aus der Umarmung mit einem fürchter-
lichen Schrei, stürzte nach dem Fenster zu und sank am Stuhl nieder.
Jch trat neben sie und suchte sie aufzurichten. Nein, nein, verlaß
mich! rief sie. Niemals will ich wieder von Deiner Liebe hören!
Jch wollte sie besänftigen und zwang mich selbst, ruhig zu sein. Sie
erhob sich; darauf stand sie vor mir und gewann bald ihr gewöhn-
liches sanftes Wesen wieder. Ludwig, sprach sie und reichte mir die
Hand, wir müssen scheiden. Jch würde ein undankbares Geschöpf
sein, wollte ich anders handeln. Jn diesem Hause habe ich alle Liebe
und Treue gefunden, welche ich je habe hoffen können. Zur Ver-
geltung dafür muß ich meiner Liebe entsagen. Jch hatte es be-
schlossen, lange ehe Du hier gesprochen hast; ich wußte, daß Du mich
liebst, aber ich habe es mir zugeschworen, bei dem Andenken meiner
Mutter, niemals Marie und ihrem Vater das Leid anzuthun und
Dich zu erhören. Und wenn Du Dich auch von Marie zu trennen
suchst, wir werden uns dennoch fern stehen; denn ich will nicht das
Bewußtsein mit mir herumtragen, lieblos gegen die Einzigen ge-
handelt zu haben, welche mir ihre Arme öffneten. Jn ruhigen Stun-
den, nach qualvoller Ueberlegung, bin ich zu diesem Entschluß ge-
kommen. Er soll mir feststehn. Vergiß, Ludwig, daß Du mich jetzt
schwach gefunden hast. Du wirst mich nie wieder so finden -- und
nun geh, mein Freund! -- Nein, nein, ich nehme diese Entsagung nicht
an! schrie ich. Jn der heftigsten Erregung sprach ich von ihrem
Schicksal, von dem meinen. Jch bat heiß und innig, und die Thränen
stürzten mir aus den Augen. Sie verlor ihre Fassung nicht und wies
meine Bitten zurück. Da warf ich mich ihr zu Füßen und beschwor
sie, wenn ihr mein Leben etwas gelte, nicht so starr zu sein. Sie blieb
kalt, und ich wurde heftig und heftiger. Der drohende Verlust stand
furchtbar vor meiner Seele. Jch wollte sie umschlingen, sie sträubte
sich dagegen, und als ich es dennoch nochmals versuchte, rief sie laut um
Hülfe. Der Banquier trat ein und fand mich zu ihren Füßen. Jch
beachtete ihn nicht und fuhr fort zu flehen; sie aber eilte in seine
Arme und bat ihn, sie zu schützen. Mir war wie einem Ertrinkenden
zu Muth. Jch sammelte alle meine Kräfte und wandte mich an den
Banquier. Rücksichtslos erklärte ich ihm meine Liebe zu Helene und
löste ich mein Verhältniß zu Marie. Diese war inzwischen ebenfalls
hereingekommen, und aus dem Hintergrund des Zimmers drang mir
ihr Weinen ins Ohr. Unerschüttert fuhr ich fort, berief mich auf
die Liebe Helenens und auf die drohende Trennung. Jch weiß nicht,
woher ich die fürchterliche Kraft nahm, jede Einwendung des Ban-
quiers, welcher mich bat, gemäßigt zu sein, abzuweisen; ich achtete
nur auf das Eine und versuchte immer wieder, ihren Beschluß zu
ändern. Es half mir nichts. Auf das Bestimmteste erklärte sie dem
Banquier, daß sie mich nicht liebe. Darauf sank sie erschöpft nieder,
und der Banquier wies mir im Zorn die Thür."

Der Arzt schwieg und sah finster vor sich hin.

[Ende Spaltensatz]
Sonntags=Blatt
für
Jedermann aus dem Volke.
Nr. 23. — 1868.Ernst Dohm.Am 7. Juni.


Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.



Zwei Väter.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]

Nachdem dies Geschäft abgemacht war, begann Ludwig mit erregter
Stimme:

„Heut, des Nachmittags, ging ich hin; ich war diesmal früher
mit meinen Besuchen fertig geworden als gewöhnlich. Der
Diener sagte mir, Marie sei ausgegangen, nur Helene sei zu Hause.
Jch wollte wieder umkehren; aber, dachte ich bei mir, welche thörichte
Furcht! Jch ging hinein. Helene saß am Fenster und beachtete nicht
meinen Eintritt in das Zimmer. Als ich sie anredete, sah sie mich
mit ihren großen dunklen Augen theilnahmlos an; sie hatte offenbar
gar nicht gehört, was ich gesprochen hatte. Dazu fiel mir auf, daß
sie bleicher als gewöhnlich aussah. Jch wandte mich nochmals mit
einigen Worten an sie; nach kurzer Pause nahm sie von dem Tisch,
welcher vor ihrem Stuhl stand, einen Brief auf und reichte ihn mir,
ohne ein Wort hinzuzufügen. Der Brief war von ihrem Vater und
offenbar in der äußersten Erregung geschrieben, wie nicht nur der
Jnhalt, sondern auch die unsicheren Zeichen erkennen ließen. Der
Vater forderte die Rückkehr der Tochter noch an diesem Abend aus
dem fluchbelasteten Hause. Käme sie nicht sogleich, so würde er seine
ganze väterliche Gewalt und sogar die Behörden aufbieten. Da-
zwischen waren die merkwürdigsten Aeußerungen über die Bewohner
des Hauses eingeflochten, in welchem sie sich befinde, untermischt sogar
mit furchtbaren Drohungen. Wenn ich auch nicht Alles verstand —
so viel war mir gewiß, daß ich Helene verlieren sollte; denn am Ende
des Briefes war hinzugefügt, daß sie mit dem kommenden Morgen ab-
reisen werde. Jch stand erschüttert; vor mir saß das Mädchen,
welches mich unverwandt und angstvoll anblickte. Nichts mehr weiß
ich von dem, was ich ihr sagte; ich sprach wirr und zusammenhangs-
los, bald von dem Verlust, der mich bedrohe, bald von dem Schrecken,
welchen ihr dies Vorgehen ihres Vaters verursachen müsse. Endlich,
endlich brachte ich es so weit, daß die Angst ihres Herzens sich in
Worten Luft zu machen suchte. Offen, wie sie es immer that,
erklärte sie mir, daß sie jetzt mehr denn je eine unbesiegbare Scheu
hätte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Sie wolle nicht
mehr als seine Tochter angesehen werden, denn er habe seine Rechte
nur gemißbraucht; die Furcht sei das einzige Band, welches zwischen
ihr und ihrem Vater bestehe. Aber wohin sollte sie fliehen, um sich
seinen Wuthausbrüchen zu entziehen? „Meine Lage ist schrecklich“, rief
sie aus und sprang vom Stuhl auf; „überall, wohin ich komme, ver-
breite ich Kummer um mich her. Jch muß weg von hier. Helfen
Sie mir, wie Sie schon einmal gethan haben!“ Sie faßte meine
Hände und legte erschöpft ihren Kopf an meine Brust. Jn diesem
Augenblick konnte ich nicht mehr, was mich innerlich bewegte,
zurückhalten. Jch sprach ihr von meiner Liebe, und daß es die einzige
Rettung vor ihrem Mißgeschick wäre, wenn sie meine Hand an-
nähme; die Braut habe noch andere Pflichten, als ihrem Vater
blindlings zu gehorchen. Jch umfaßte, ich küßte sie. Sie ließ Alles
geschehen, und ihr Haupt fiel immer wieder an meine Brust zurück.
Mit beredten Worten drängte ich sie, sich zu entscheiden; die heißesten
Versicherungen strömten von meinen Lippen. Sie antwortete mir
nicht. Da riß ich mich von ihr los. Laß diese Zeit nicht nutzlos
verstreichen, rief ich aus, es sind kostbare Minuten für unser Beider
Leben. Helene, sprich ohne Scheu, liebst Du mich? Sie wankte;
dann raffte sie sich plötzlich auf und stürzte auf mich zu, umschlang
meinen Hals mit ihren Armen und gestand mir, daß sie mich schon
lange geliebt habe. Freund, die Erinnerung an diesen Moment soll
[Spaltenumbruch] ein langes, qualvolles Leben nicht verwischen! Jedes Elend will ich
um das Bewußtsein einer solchen Liebe tragen. Was folgt, ist furcht-
bar für mich und sie. Jch will es Dir erzählen, aber zuvor muß ich
erst ein wenig mich sammeln; alle bösen Geister dringen bei der
Erinnerung daran auf mich ein.“

Dem Arzt stand wirklich der Angstschweiß auf der Stirn; er warf
sich erschöpft auf das Sopha neben dem Assessor hin.

Nach einer Pause — der Assessor hatte kein Wort erwidert —
fuhr er fort:

„Sie löste sich plötzlich aus der Umarmung mit einem fürchter-
lichen Schrei, stürzte nach dem Fenster zu und sank am Stuhl nieder.
Jch trat neben sie und suchte sie aufzurichten. Nein, nein, verlaß
mich! rief sie. Niemals will ich wieder von Deiner Liebe hören!
Jch wollte sie besänftigen und zwang mich selbst, ruhig zu sein. Sie
erhob sich; darauf stand sie vor mir und gewann bald ihr gewöhn-
liches sanftes Wesen wieder. Ludwig, sprach sie und reichte mir die
Hand, wir müssen scheiden. Jch würde ein undankbares Geschöpf
sein, wollte ich anders handeln. Jn diesem Hause habe ich alle Liebe
und Treue gefunden, welche ich je habe hoffen können. Zur Ver-
geltung dafür muß ich meiner Liebe entsagen. Jch hatte es be-
schlossen, lange ehe Du hier gesprochen hast; ich wußte, daß Du mich
liebst, aber ich habe es mir zugeschworen, bei dem Andenken meiner
Mutter, niemals Marie und ihrem Vater das Leid anzuthun und
Dich zu erhören. Und wenn Du Dich auch von Marie zu trennen
suchst, wir werden uns dennoch fern stehen; denn ich will nicht das
Bewußtsein mit mir herumtragen, lieblos gegen die Einzigen ge-
handelt zu haben, welche mir ihre Arme öffneten. Jn ruhigen Stun-
den, nach qualvoller Ueberlegung, bin ich zu diesem Entschluß ge-
kommen. Er soll mir feststehn. Vergiß, Ludwig, daß Du mich jetzt
schwach gefunden hast. Du wirst mich nie wieder so finden — und
nun geh, mein Freund! — Nein, nein, ich nehme diese Entsagung nicht
an! schrie ich. Jn der heftigsten Erregung sprach ich von ihrem
Schicksal, von dem meinen. Jch bat heiß und innig, und die Thränen
stürzten mir aus den Augen. Sie verlor ihre Fassung nicht und wies
meine Bitten zurück. Da warf ich mich ihr zu Füßen und beschwor
sie, wenn ihr mein Leben etwas gelte, nicht so starr zu sein. Sie blieb
kalt, und ich wurde heftig und heftiger. Der drohende Verlust stand
furchtbar vor meiner Seele. Jch wollte sie umschlingen, sie sträubte
sich dagegen, und als ich es dennoch nochmals versuchte, rief sie laut um
Hülfe. Der Banquier trat ein und fand mich zu ihren Füßen. Jch
beachtete ihn nicht und fuhr fort zu flehen; sie aber eilte in seine
Arme und bat ihn, sie zu schützen. Mir war wie einem Ertrinkenden
zu Muth. Jch sammelte alle meine Kräfte und wandte mich an den
Banquier. Rücksichtslos erklärte ich ihm meine Liebe zu Helene und
löste ich mein Verhältniß zu Marie. Diese war inzwischen ebenfalls
hereingekommen, und aus dem Hintergrund des Zimmers drang mir
ihr Weinen ins Ohr. Unerschüttert fuhr ich fort, berief mich auf
die Liebe Helenens und auf die drohende Trennung. Jch weiß nicht,
woher ich die fürchterliche Kraft nahm, jede Einwendung des Ban-
quiers, welcher mich bat, gemäßigt zu sein, abzuweisen; ich achtete
nur auf das Eine und versuchte immer wieder, ihren Beschluß zu
ändern. Es half mir nichts. Auf das Bestimmteste erklärte sie dem
Banquier, daß sie mich nicht liebe. Darauf sank sie erschöpft nieder,
und der Banquier wies mir im Zorn die Thür.“

Der Arzt schwieg und sah finster vor sich hin.

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0001" n="105"/>
      <titlePage type="heading">
        <docTitle>
          <titlePart type="main"> <hi rendition="#b #c #fr #larger">Sonntags=Blatt</hi><lb/> <hi rendition="#c #smaller">für</hi><lb/> <hi rendition="#c #fr">Jedermann aus dem Volke.</hi> </titlePart>
        </docTitle><lb/>
        <byline> <hi rendition="#c">Begründet von Otto Ruppius.<lb/>
Herausgegeben von </hi><lb/>
        </byline>
        <docImprint> <hi rendition="#aq">Nr. 23. &#x2014; 1868.</hi> <hi rendition="#c #fr #g">Ernst Dohm.</hi> <docDate> <hi rendition="#right">Am 7. Juni.</hi> </docDate>
        </docImprint>
      </titlePage><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div type="jExpedition" n="1">
        <p rendition="#c">Erscheint jeden <hi rendition="#g">Sonntag.</hi> Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.<lb/>
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </front>
    <body>
      <div xml:id="Vaeter4" type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#fr"><hi rendition="#g">Zwei Väter</hi>.</hi><lb/>
          <ref target="nn_sonntagsblatt22_1868#Vaeter3">( Fortsetzung. )</ref>
        </head><lb/>
        <cb type="start"/>
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#in">N</hi>achdem dies Geschäft abgemacht war, begann Ludwig mit erregter<lb/>
Stimme:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Heut, des Nachmittags, ging ich hin; ich war diesmal früher<lb/>
mit meinen Besuchen fertig geworden als gewöhnlich. Der<lb/>
Diener sagte mir, Marie sei ausgegangen, nur Helene sei zu Hause.<lb/>
Jch wollte wieder umkehren; aber, dachte ich bei mir, welche thörichte<lb/>
Furcht! Jch ging hinein. Helene saß am Fenster und beachtete nicht<lb/>
meinen Eintritt in das Zimmer. Als ich sie anredete, sah sie mich<lb/>
mit ihren großen dunklen Augen theilnahmlos an; sie hatte offenbar<lb/>
gar nicht gehört, was ich gesprochen hatte. Dazu fiel mir auf, daß<lb/>
sie bleicher als gewöhnlich aussah. Jch wandte mich nochmals mit<lb/>
einigen Worten an sie; nach kurzer Pause nahm sie von dem Tisch,<lb/>
welcher vor ihrem Stuhl stand, einen Brief auf und reichte ihn mir,<lb/>
ohne ein Wort hinzuzufügen. Der Brief war von ihrem Vater und<lb/>
offenbar in der äußersten Erregung geschrieben, wie nicht nur der<lb/>
Jnhalt, sondern auch die unsicheren Zeichen erkennen ließen. Der<lb/>
Vater forderte die Rückkehr der Tochter noch an diesem Abend aus<lb/>
dem fluchbelasteten Hause. Käme sie nicht sogleich, so würde er seine<lb/>
ganze väterliche Gewalt und sogar die Behörden aufbieten. Da-<lb/>
zwischen waren die merkwürdigsten Aeußerungen über die Bewohner<lb/>
des Hauses eingeflochten, in welchem sie sich befinde, untermischt sogar<lb/>
mit furchtbaren Drohungen. Wenn ich auch nicht Alles verstand &#x2014;<lb/>
so viel war mir gewiß, daß ich Helene verlieren sollte; denn am Ende<lb/>
des Briefes war hinzugefügt, daß sie mit dem kommenden Morgen ab-<lb/>
reisen werde. Jch stand erschüttert; vor mir saß das Mädchen,<lb/>
welches mich unverwandt und angstvoll anblickte. Nichts mehr weiß<lb/>
ich von dem, was ich ihr sagte; ich sprach wirr und zusammenhangs-<lb/>
los, bald von dem Verlust, der mich bedrohe, bald von dem Schrecken,<lb/>
welchen ihr dies Vorgehen ihres Vaters verursachen müsse. Endlich,<lb/>
endlich brachte ich es so weit, daß die Angst ihres Herzens sich in<lb/>
Worten Luft zu machen suchte. Offen, wie sie es immer that,<lb/>
erklärte sie mir, daß sie jetzt mehr denn je eine unbesiegbare Scheu<lb/>
hätte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Sie wolle nicht<lb/>
mehr als seine Tochter angesehen werden, denn er habe seine Rechte<lb/>
nur gemißbraucht; die Furcht sei das einzige Band, welches zwischen<lb/>
ihr und ihrem Vater bestehe. Aber wohin sollte sie fliehen, um sich<lb/>
seinen Wuthausbrüchen zu entziehen? &#x201E;Meine Lage ist schrecklich&#x201C;, rief<lb/>
sie aus und sprang vom Stuhl auf; &#x201E;überall, wohin ich komme, ver-<lb/>
breite ich Kummer um mich her. Jch muß weg von hier. Helfen<lb/>
Sie mir, wie Sie schon einmal gethan haben!&#x201C; Sie faßte meine<lb/>
Hände und legte erschöpft ihren Kopf an meine Brust. Jn diesem<lb/>
Augenblick konnte ich nicht mehr, was mich innerlich bewegte,<lb/>
zurückhalten. Jch sprach ihr von meiner Liebe, und daß es die einzige<lb/>
Rettung vor ihrem Mißgeschick wäre, wenn sie meine Hand an-<lb/>
nähme; die Braut habe noch andere Pflichten, als ihrem Vater<lb/>
blindlings zu gehorchen. Jch umfaßte, ich küßte sie. Sie ließ Alles<lb/>
geschehen, und ihr Haupt fiel immer wieder an meine Brust zurück.<lb/>
Mit beredten Worten drängte ich sie, sich zu entscheiden; die heißesten<lb/>
Versicherungen strömten von meinen Lippen. Sie antwortete mir<lb/>
nicht. Da riß ich mich von ihr los. Laß diese Zeit nicht nutzlos<lb/>
verstreichen, rief ich aus, es sind kostbare Minuten für unser Beider<lb/>
Leben. Helene, sprich ohne Scheu, liebst Du mich? Sie wankte;<lb/>
dann raffte sie sich plötzlich auf und stürzte auf mich zu, umschlang<lb/>
meinen Hals mit ihren Armen und gestand mir, daß sie mich schon<lb/>
lange geliebt habe. Freund, die Erinnerung an diesen Moment soll<lb/><cb n="2"/>
ein langes, qualvolles Leben nicht verwischen! Jedes Elend will ich<lb/>
um das Bewußtsein einer solchen Liebe tragen. Was folgt, ist furcht-<lb/>
bar für mich und sie. Jch will es Dir erzählen, aber zuvor muß ich<lb/>
erst ein wenig mich sammeln; alle bösen Geister dringen bei der<lb/>
Erinnerung daran auf mich ein.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Dem Arzt stand wirklich der Angstschweiß auf der Stirn; er warf<lb/>
sich erschöpft auf das Sopha neben dem Assessor hin.</p><lb/>
          <p>Nach einer Pause &#x2014; der Assessor hatte kein Wort erwidert &#x2014;<lb/>
fuhr er fort:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sie löste sich plötzlich aus der Umarmung mit einem fürchter-<lb/>
lichen Schrei, stürzte nach dem Fenster zu und sank am Stuhl nieder.<lb/>
Jch trat neben sie und suchte sie aufzurichten. Nein, nein, verlaß<lb/>
mich! rief sie. Niemals will ich wieder von Deiner Liebe hören!<lb/>
Jch wollte sie besänftigen und zwang mich selbst, ruhig zu sein. Sie<lb/>
erhob sich; darauf stand sie vor mir und gewann bald ihr gewöhn-<lb/>
liches sanftes Wesen wieder. Ludwig, sprach sie und reichte mir die<lb/>
Hand, wir müssen scheiden. Jch würde ein undankbares Geschöpf<lb/>
sein, wollte ich anders handeln. Jn diesem Hause habe ich alle Liebe<lb/>
und Treue gefunden, welche ich je habe hoffen können. Zur Ver-<lb/>
geltung dafür muß ich meiner Liebe entsagen. Jch hatte es be-<lb/>
schlossen, lange ehe Du hier gesprochen hast; ich wußte, daß Du mich<lb/>
liebst, aber ich habe es mir zugeschworen, bei dem Andenken meiner<lb/>
Mutter, niemals Marie und ihrem Vater das Leid anzuthun und<lb/>
Dich zu erhören. Und wenn Du Dich auch von Marie zu trennen<lb/>
suchst, wir werden uns dennoch fern stehen; denn ich will nicht das<lb/>
Bewußtsein mit mir herumtragen, lieblos gegen die Einzigen ge-<lb/>
handelt zu haben, welche mir ihre Arme öffneten. Jn ruhigen Stun-<lb/>
den, nach qualvoller Ueberlegung, bin ich zu diesem Entschluß ge-<lb/>
kommen. Er soll mir feststehn. Vergiß, Ludwig, daß Du mich jetzt<lb/>
schwach gefunden hast. Du wirst mich nie wieder so finden &#x2014; und<lb/>
nun geh, mein Freund! &#x2014; Nein, nein, ich nehme diese Entsagung nicht<lb/>
an! schrie ich. Jn der heftigsten Erregung sprach ich von ihrem<lb/>
Schicksal, von dem meinen. Jch bat heiß und innig, und die Thränen<lb/>
stürzten mir aus den Augen. Sie verlor ihre Fassung nicht und wies<lb/>
meine Bitten zurück. Da warf ich mich ihr zu Füßen und beschwor<lb/>
sie, wenn ihr mein Leben etwas gelte, nicht so starr zu sein. Sie blieb<lb/>
kalt, und ich wurde heftig und heftiger. Der drohende Verlust stand<lb/>
furchtbar vor meiner Seele. Jch wollte sie umschlingen, sie sträubte<lb/>
sich dagegen, und als ich es dennoch nochmals versuchte, rief sie laut um<lb/>
Hülfe. Der Banquier trat ein und fand mich zu ihren Füßen. Jch<lb/>
beachtete ihn nicht und fuhr fort zu flehen; sie aber eilte in seine<lb/>
Arme und bat ihn, sie zu schützen. Mir war wie einem Ertrinkenden<lb/>
zu Muth. Jch sammelte alle meine Kräfte und wandte mich an den<lb/>
Banquier. Rücksichtslos erklärte ich ihm meine Liebe zu Helene und<lb/>
löste ich mein Verhältniß zu Marie. Diese war inzwischen ebenfalls<lb/>
hereingekommen, und aus dem Hintergrund des Zimmers drang mir<lb/>
ihr Weinen ins Ohr. Unerschüttert fuhr ich fort, berief mich auf<lb/>
die Liebe Helenens und auf die drohende Trennung. Jch weiß nicht,<lb/>
woher ich die fürchterliche Kraft nahm, jede Einwendung des Ban-<lb/>
quiers, welcher mich bat, gemäßigt zu sein, abzuweisen; ich achtete<lb/>
nur auf das Eine und versuchte immer wieder, ihren Beschluß zu<lb/>
ändern. Es half mir nichts. Auf das Bestimmteste erklärte sie dem<lb/>
Banquier, daß sie mich nicht liebe. Darauf sank sie erschöpft nieder,<lb/>
und der Banquier wies mir im Zorn die Thür.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Der Arzt schwieg und sah finster vor sich hin.</p><lb/>
          <cb type="end"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0001] Sonntags=Blatt für Jedermann aus dem Volke. Begründet von Otto Ruppius. Herausgegeben von Nr. 23. — 1868.Ernst Dohm.Am 7. Juni. Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus. Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf. Zwei Väter. ( Fortsetzung. ) Nachdem dies Geschäft abgemacht war, begann Ludwig mit erregter Stimme: „Heut, des Nachmittags, ging ich hin; ich war diesmal früher mit meinen Besuchen fertig geworden als gewöhnlich. Der Diener sagte mir, Marie sei ausgegangen, nur Helene sei zu Hause. Jch wollte wieder umkehren; aber, dachte ich bei mir, welche thörichte Furcht! Jch ging hinein. Helene saß am Fenster und beachtete nicht meinen Eintritt in das Zimmer. Als ich sie anredete, sah sie mich mit ihren großen dunklen Augen theilnahmlos an; sie hatte offenbar gar nicht gehört, was ich gesprochen hatte. Dazu fiel mir auf, daß sie bleicher als gewöhnlich aussah. Jch wandte mich nochmals mit einigen Worten an sie; nach kurzer Pause nahm sie von dem Tisch, welcher vor ihrem Stuhl stand, einen Brief auf und reichte ihn mir, ohne ein Wort hinzuzufügen. Der Brief war von ihrem Vater und offenbar in der äußersten Erregung geschrieben, wie nicht nur der Jnhalt, sondern auch die unsicheren Zeichen erkennen ließen. Der Vater forderte die Rückkehr der Tochter noch an diesem Abend aus dem fluchbelasteten Hause. Käme sie nicht sogleich, so würde er seine ganze väterliche Gewalt und sogar die Behörden aufbieten. Da- zwischen waren die merkwürdigsten Aeußerungen über die Bewohner des Hauses eingeflochten, in welchem sie sich befinde, untermischt sogar mit furchtbaren Drohungen. Wenn ich auch nicht Alles verstand — so viel war mir gewiß, daß ich Helene verlieren sollte; denn am Ende des Briefes war hinzugefügt, daß sie mit dem kommenden Morgen ab- reisen werde. Jch stand erschüttert; vor mir saß das Mädchen, welches mich unverwandt und angstvoll anblickte. Nichts mehr weiß ich von dem, was ich ihr sagte; ich sprach wirr und zusammenhangs- los, bald von dem Verlust, der mich bedrohe, bald von dem Schrecken, welchen ihr dies Vorgehen ihres Vaters verursachen müsse. Endlich, endlich brachte ich es so weit, daß die Angst ihres Herzens sich in Worten Luft zu machen suchte. Offen, wie sie es immer that, erklärte sie mir, daß sie jetzt mehr denn je eine unbesiegbare Scheu hätte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Sie wolle nicht mehr als seine Tochter angesehen werden, denn er habe seine Rechte nur gemißbraucht; die Furcht sei das einzige Band, welches zwischen ihr und ihrem Vater bestehe. Aber wohin sollte sie fliehen, um sich seinen Wuthausbrüchen zu entziehen? „Meine Lage ist schrecklich“, rief sie aus und sprang vom Stuhl auf; „überall, wohin ich komme, ver- breite ich Kummer um mich her. Jch muß weg von hier. Helfen Sie mir, wie Sie schon einmal gethan haben!“ Sie faßte meine Hände und legte erschöpft ihren Kopf an meine Brust. Jn diesem Augenblick konnte ich nicht mehr, was mich innerlich bewegte, zurückhalten. Jch sprach ihr von meiner Liebe, und daß es die einzige Rettung vor ihrem Mißgeschick wäre, wenn sie meine Hand an- nähme; die Braut habe noch andere Pflichten, als ihrem Vater blindlings zu gehorchen. Jch umfaßte, ich küßte sie. Sie ließ Alles geschehen, und ihr Haupt fiel immer wieder an meine Brust zurück. Mit beredten Worten drängte ich sie, sich zu entscheiden; die heißesten Versicherungen strömten von meinen Lippen. Sie antwortete mir nicht. Da riß ich mich von ihr los. Laß diese Zeit nicht nutzlos verstreichen, rief ich aus, es sind kostbare Minuten für unser Beider Leben. Helene, sprich ohne Scheu, liebst Du mich? Sie wankte; dann raffte sie sich plötzlich auf und stürzte auf mich zu, umschlang meinen Hals mit ihren Armen und gestand mir, daß sie mich schon lange geliebt habe. Freund, die Erinnerung an diesen Moment soll ein langes, qualvolles Leben nicht verwischen! Jedes Elend will ich um das Bewußtsein einer solchen Liebe tragen. Was folgt, ist furcht- bar für mich und sie. Jch will es Dir erzählen, aber zuvor muß ich erst ein wenig mich sammeln; alle bösen Geister dringen bei der Erinnerung daran auf mich ein.“ Dem Arzt stand wirklich der Angstschweiß auf der Stirn; er warf sich erschöpft auf das Sopha neben dem Assessor hin. Nach einer Pause — der Assessor hatte kein Wort erwidert — fuhr er fort: „Sie löste sich plötzlich aus der Umarmung mit einem fürchter- lichen Schrei, stürzte nach dem Fenster zu und sank am Stuhl nieder. Jch trat neben sie und suchte sie aufzurichten. Nein, nein, verlaß mich! rief sie. Niemals will ich wieder von Deiner Liebe hören! Jch wollte sie besänftigen und zwang mich selbst, ruhig zu sein. Sie erhob sich; darauf stand sie vor mir und gewann bald ihr gewöhn- liches sanftes Wesen wieder. Ludwig, sprach sie und reichte mir die Hand, wir müssen scheiden. Jch würde ein undankbares Geschöpf sein, wollte ich anders handeln. Jn diesem Hause habe ich alle Liebe und Treue gefunden, welche ich je habe hoffen können. Zur Ver- geltung dafür muß ich meiner Liebe entsagen. Jch hatte es be- schlossen, lange ehe Du hier gesprochen hast; ich wußte, daß Du mich liebst, aber ich habe es mir zugeschworen, bei dem Andenken meiner Mutter, niemals Marie und ihrem Vater das Leid anzuthun und Dich zu erhören. Und wenn Du Dich auch von Marie zu trennen suchst, wir werden uns dennoch fern stehen; denn ich will nicht das Bewußtsein mit mir herumtragen, lieblos gegen die Einzigen ge- handelt zu haben, welche mir ihre Arme öffneten. Jn ruhigen Stun- den, nach qualvoller Ueberlegung, bin ich zu diesem Entschluß ge- kommen. Er soll mir feststehn. Vergiß, Ludwig, daß Du mich jetzt schwach gefunden hast. Du wirst mich nie wieder so finden — und nun geh, mein Freund! — Nein, nein, ich nehme diese Entsagung nicht an! schrie ich. Jn der heftigsten Erregung sprach ich von ihrem Schicksal, von dem meinen. Jch bat heiß und innig, und die Thränen stürzten mir aus den Augen. Sie verlor ihre Fassung nicht und wies meine Bitten zurück. Da warf ich mich ihr zu Füßen und beschwor sie, wenn ihr mein Leben etwas gelte, nicht so starr zu sein. Sie blieb kalt, und ich wurde heftig und heftiger. Der drohende Verlust stand furchtbar vor meiner Seele. Jch wollte sie umschlingen, sie sträubte sich dagegen, und als ich es dennoch nochmals versuchte, rief sie laut um Hülfe. Der Banquier trat ein und fand mich zu ihren Füßen. Jch beachtete ihn nicht und fuhr fort zu flehen; sie aber eilte in seine Arme und bat ihn, sie zu schützen. Mir war wie einem Ertrinkenden zu Muth. Jch sammelte alle meine Kräfte und wandte mich an den Banquier. Rücksichtslos erklärte ich ihm meine Liebe zu Helene und löste ich mein Verhältniß zu Marie. Diese war inzwischen ebenfalls hereingekommen, und aus dem Hintergrund des Zimmers drang mir ihr Weinen ins Ohr. Unerschüttert fuhr ich fort, berief mich auf die Liebe Helenens und auf die drohende Trennung. Jch weiß nicht, woher ich die fürchterliche Kraft nahm, jede Einwendung des Ban- quiers, welcher mich bat, gemäßigt zu sein, abzuweisen; ich achtete nur auf das Eine und versuchte immer wieder, ihren Beschluß zu ändern. Es half mir nichts. Auf das Bestimmteste erklärte sie dem Banquier, daß sie mich nicht liebe. Darauf sank sie erschöpft nieder, und der Banquier wies mir im Zorn die Thür.“ Der Arzt schwieg und sah finster vor sich hin.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt23_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt23_1868/1
Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 23. Berlin, 7. Juni 1868, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt23_1868/1>, abgerufen am 17.05.2024.