Talvj, Volkslieder der Serben, 1825Hängen ließ er tief den schwarzen Schnurrbart, Daß er auf die Schultern nieder wogte; Schweigend saß er, redete mit Niemand, 125 Niederschauend auf die schwarze Erde. Und die Gattin nimmt es wahr, und sieht es. Drauf des Kleides Saum zusammen rollend, Und zurück die Aermel schlagend, kömmt sie, Küsset Hand und Knie dem Tiefbetrübten: 130 "Ich beschwöre Dich, mein Herr und Gatte! Was so trübe blickst Du und so finster? Hast die Schnur vielleicht Du nicht erhalten? Ist das Mädchen nicht nach Deinem Sinne? Oder ist's Dir leid um Deine Schätze?" -- 135 Ihr entgegnet Iwan Zernojewitsch: "Laß mich gehen! -- Daß Dich Gott erschlage! Wohl hab' ich erhalten die Latein'rin, Und nach meinem Sinne ist das Mädchen; Weit dehnt sich die Erde nach vier Seiten, 140 Doch Du findest drauf nicht solche Schönheit, Solch ein Auge nicht, wie bei dem Mädchen, Solchen Wuchs nicht, und nicht solch ein Antlitz. Wer die Wila säh' im Waldgebirge, Minder schön fänd' er vielleicht die Wila! 145 Auch nicht leid ist's mir um meine Schätze, Ist mir voll der Schätze doch der Thurm hier, Kaum daß man bemerkt, daß etwas fehlet! Doch vernimm! mein Wort gab ich dem Dogen, Hängen ließ er tief den schwarzen Schnurrbart, Daß er auf die Schultern nieder wogte; Schweigend saß er, redete mit Niemand, 125 Niederschauend auf die schwarze Erde. Und die Gattin nimmt es wahr, und sieht es. Drauf des Kleides Saum zusammen rollend, Und zurück die Aermel schlagend, kömmt sie, Küsset Hand und Knie dem Tiefbetrübten: 130 „Ich beschwöre Dich, mein Herr und Gatte! Was so trübe blickst Du und so finster? Hast die Schnur vielleicht Du nicht erhalten? Ist das Mädchen nicht nach Deinem Sinne? Oder ist's Dir leid um Deine Schätze?“ — 135 Ihr entgegnet Iwan Zernojewitsch: „Laß mich gehen! — Daß Dich Gott erschlage! Wohl hab' ich erhalten die Latein'rin, Und nach meinem Sinne ist das Mädchen; Weit dehnt sich die Erde nach vier Seiten, 140 Doch Du findest drauf nicht solche Schönheit, Solch ein Auge nicht, wie bei dem Mädchen, Solchen Wuchs nicht, und nicht solch ein Antlitz. Wer die Wila säh' im Waldgebirge, Minder schön fänd' er vielleicht die Wila! 145 Auch nicht leid ist's mir um meine Schätze, Ist mir voll der Schätze doch der Thurm hier, Kaum daß man bemerkt, daß etwas fehlet! Doch vernimm! mein Wort gab ich dem Dogen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0142" n="76"/> <lg> <l>Hängen ließ er tief den schwarzen Schnurrbart,</l><lb/> <l>Daß er auf die Schultern nieder wogte;</l><lb/> <l>Schweigend saß er, redete mit Niemand, <note place="right">125</note></l><lb/> <l>Niederschauend auf die schwarze Erde.</l> </lg><lb/> <lg> <l>Und die Gattin nimmt es wahr, und sieht es.</l><lb/> <l>Drauf des Kleides Saum zusammen rollend,</l><lb/> <l>Und zurück die Aermel schlagend, kömmt sie,</l><lb/> <l>Küsset Hand und Knie dem Tiefbetrübten: <note place="right">130</note></l><lb/> <l>„Ich beschwöre Dich, mein Herr und Gatte!</l><lb/> <l>Was so trübe blickst Du und so finster?</l><lb/> <l>Hast die Schnur vielleicht Du nicht erhalten?</l><lb/> <l>Ist das Mädchen nicht nach Deinem Sinne?</l><lb/> <l>Oder ist's Dir leid um Deine Schätze?“ — <note place="right">135</note></l> </lg><lb/> <lg> <l>Ihr entgegnet Iwan Zernojewitsch:</l><lb/> <l>„Laß mich gehen! — Daß Dich Gott erschlage!</l><lb/> <l>Wohl hab' ich erhalten die Latein'rin,</l><lb/> <l>Und nach meinem Sinne ist das Mädchen;</l><lb/> <l>Weit dehnt sich die Erde nach vier Seiten, <note place="right">140</note></l><lb/> <l>Doch Du findest drauf nicht solche Schönheit,</l><lb/> <l>Solch ein Auge nicht, wie bei dem Mädchen,</l><lb/> <l>Solchen Wuchs nicht, und nicht solch ein Antlitz.</l><lb/> <l>Wer die Wila säh' im Waldgebirge,</l><lb/> <l>Minder schön fänd' er vielleicht die Wila! <note place="right">145</note></l><lb/> <l>Auch nicht leid ist's mir um meine Schätze,</l><lb/> <l>Ist mir voll der Schätze doch der Thurm hier,</l><lb/> <l>Kaum daß man bemerkt, daß etwas fehlet!</l><lb/> <l>Doch vernimm! mein Wort gab ich dem Dogen,</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0142]
Hängen ließ er tief den schwarzen Schnurrbart,
Daß er auf die Schultern nieder wogte;
Schweigend saß er, redete mit Niemand,
Niederschauend auf die schwarze Erde.
Und die Gattin nimmt es wahr, und sieht es.
Drauf des Kleides Saum zusammen rollend,
Und zurück die Aermel schlagend, kömmt sie,
Küsset Hand und Knie dem Tiefbetrübten:
„Ich beschwöre Dich, mein Herr und Gatte!
Was so trübe blickst Du und so finster?
Hast die Schnur vielleicht Du nicht erhalten?
Ist das Mädchen nicht nach Deinem Sinne?
Oder ist's Dir leid um Deine Schätze?“ —
Ihr entgegnet Iwan Zernojewitsch:
„Laß mich gehen! — Daß Dich Gott erschlage!
Wohl hab' ich erhalten die Latein'rin,
Und nach meinem Sinne ist das Mädchen;
Weit dehnt sich die Erde nach vier Seiten,
Doch Du findest drauf nicht solche Schönheit,
Solch ein Auge nicht, wie bei dem Mädchen,
Solchen Wuchs nicht, und nicht solch ein Antlitz.
Wer die Wila säh' im Waldgebirge,
Minder schön fänd' er vielleicht die Wila!
Auch nicht leid ist's mir um meine Schätze,
Ist mir voll der Schätze doch der Thurm hier,
Kaum daß man bemerkt, daß etwas fehlet!
Doch vernimm! mein Wort gab ich dem Dogen,
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Zitationshilfe: | Talvj, Volkslieder der Serben, 1825, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_volkslieder_1825/142>, abgerufen am 16.06.2024. |