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Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.

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ihm singet der Vögel mannigfaltiger Chor, hoch in der ppo_403.002
Luft, oder von den Wipfeln der Bäume, der Morgensonn' ppo_403.003
entgegen; ihm zum Lobe geht der Löw' aus seiner ppo_403.004
Höhle hervor, und brüllet sein Entzücken fürchterlich ppo_403.005
durch die Wildniß aus. Lob' ihn, du meine Seele, den ppo_403.006
Herrn, den Schöpfer und Erhalter; des Menschen Lobgesang ppo_403.007
steige vor allen zu dir empor! Er soll dich loben, ppo_403.008
wenn jedes Geschöpf noch in seinem Lager schlummert; ppo_403.009
wenn kein Gesang noch von den Wipfeln tönt, und aus ppo_403.010
den wiegenden Büschen. Ertöne mein einsames Lied ppo_403.011
laut durch die stille Dämmerung, daß du weit umher ppo_403.012
jedes Geschöpf zum Lobe erweckest. Herrlich, herrlich ist ppo_403.013
die Schöpfung, in der er uns Unwürdigen seine Weisheit ppo_403.014
und Güte enthüllet. Jeder meiner Sinne fchöpfet ppo_403.015
Entzückung aus diesem unendlichen Meere von Schönheit, ppo_403.016
und strömt sie der entzückten Seele zu.

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So sang Abel an der Seite seiner Geliebten; in heiliger ppo_403.018
Andacht saß sie noch wie horchend; jetzt schlang sie ppo_403.019
ihren lilienweißen Arm um seinen Hals, sah zärtlich ppo_403.020
ihn an, und sprach: Geliebter! wie schwang sich meine ppo_403.021
Andacht mit deinem Gesange höher! Ja, Geliebter! ppo_403.022
nicht nur meinen schwächern Leib schützet deine zärtliche ppo_403.023
Sorgfalt; auch meine Seele schwinget sich unter deiner ppo_403.024
Führung empor. Wenn sie auf ihrem Pfad sich verliert, ppo_403.025
und Dunkel um sich her sieht, und in heiligem Erstaunen ppo_403.026
hinsinket; dann hebest du sie, und erhellest das ppo_403.027
Dunkel, und entwickelst das stille Erstaunen zu lauten ppo_403.028
erhabnern Gedanken.

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So sprach sie, und die zärtlichste reinste Liebe goß ppo_403.030
unaussprechliche Anmuth in jeden Ton der Stimme und ppo_403.031
in jede Gebärde. Abel antwortete nicht; aber wie er ppo_403.032
zärtlich sie anblickte und an seinen Busen sie drückte; ppo_403.033
das redete von seinen Empfindungen mehr, als Worte ppo_403.034
hätten reden können. Ach! so glücklich war der Mensch,

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So sang Abel an der Seite seiner Geliebten; in heiliger ppo_403.018
Andacht saß sie noch wie horchend; jetzt schlang sie ppo_403.019
ihren lilienweißen Arm um seinen Hals, sah zärtlich ppo_403.020
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Andacht mit deinem Gesange höher! Ja, Geliebter! ppo_403.022
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Dunkel, und entwickelst das stille Erstaunen zu lauten ppo_403.028
erhabnern Gedanken.

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So sprach sie, und die zärtlichste reinste Liebe goß ppo_403.030
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[403/0415] ppo_403.001 ihm singet der Vögel mannigfaltiger Chor, hoch in der ppo_403.002 Luft, oder von den Wipfeln der Bäume, der Morgensonn' ppo_403.003 entgegen; ihm zum Lobe geht der Löw' aus seiner ppo_403.004 Höhle hervor, und brüllet sein Entzücken fürchterlich ppo_403.005 durch die Wildniß aus. Lob' ihn, du meine Seele, den ppo_403.006 Herrn, den Schöpfer und Erhalter; des Menschen Lobgesang ppo_403.007 steige vor allen zu dir empor! Er soll dich loben, ppo_403.008 wenn jedes Geschöpf noch in seinem Lager schlummert; ppo_403.009 wenn kein Gesang noch von den Wipfeln tönt, und aus ppo_403.010 den wiegenden Büschen. Ertöne mein einsames Lied ppo_403.011 laut durch die stille Dämmerung, daß du weit umher ppo_403.012 jedes Geschöpf zum Lobe erweckest. Herrlich, herrlich ist ppo_403.013 die Schöpfung, in der er uns Unwürdigen seine Weisheit ppo_403.014 und Güte enthüllet. Jeder meiner Sinne fchöpfet ppo_403.015 Entzückung aus diesem unendlichen Meere von Schönheit, ppo_403.016 und strömt sie der entzückten Seele zu. ppo_403.017 So sang Abel an der Seite seiner Geliebten; in heiliger ppo_403.018 Andacht saß sie noch wie horchend; jetzt schlang sie ppo_403.019 ihren lilienweißen Arm um seinen Hals, sah zärtlich ppo_403.020 ihn an, und sprach: Geliebter! wie schwang sich meine ppo_403.021 Andacht mit deinem Gesange höher! Ja, Geliebter! ppo_403.022 nicht nur meinen schwächern Leib schützet deine zärtliche ppo_403.023 Sorgfalt; auch meine Seele schwinget sich unter deiner ppo_403.024 Führung empor. Wenn sie auf ihrem Pfad sich verliert, ppo_403.025 und Dunkel um sich her sieht, und in heiligem Erstaunen ppo_403.026 hinsinket; dann hebest du sie, und erhellest das ppo_403.027 Dunkel, und entwickelst das stille Erstaunen zu lauten ppo_403.028 erhabnern Gedanken. ppo_403.029 So sprach sie, und die zärtlichste reinste Liebe goß ppo_403.030 unaussprechliche Anmuth in jeden Ton der Stimme und ppo_403.031 in jede Gebärde. Abel antwortete nicht; aber wie er ppo_403.032 zärtlich sie anblickte und an seinen Busen sie drückte; ppo_403.033 das redete von seinen Empfindungen mehr, als Worte ppo_403.034 hätten reden können. Ach! so glücklich war der Mensch,

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Zitationshilfe: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/415>, abgerufen am 02.06.2024.