wie die Vögel ihren Gesang lernen, ohne zu wissen worinn sie bestehen, und wohin sie sich schicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem traurigen Stücke etwan eine lustige, oder in einem lustigen wieder eine traurige Cadenz hören lassen will.
8. §.
Die Cadenzen müssen aus dem Hauptaffecte des Stückes fließen, und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefälligsten Clauseln, die in dem Stücke enthalten sind, in sich fassen. Zuweilen trifft sichs, daß man wegen Zerstreuung der Gedanken nicht sogleich etwas neues zu erfinden weis. Hier ist nun kein besser Mittel, als daß man sich, aus dem Vorhergehenden, eine von den gefälligsten Clauseln erwähle, und die Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den Mangel der Erfindung ersetzen; sondern man wird auch jederzeit der herr- schenden Leidenschaft des Stückes eine Gnüge thun. Dieses will ich einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen haben.
9. §.
Die Cadenzen sind entweder ein- oder zweystimmig. Die einstim- migen vornehmlich sind, wie oben schon gesaget worden, willkührlich. Sie müssen kurz und neu seyn, und den Zuhörer überraschen, wie ein bon mot. Folglich müssen sie so klingen, als wenn sie in dem Augenblicke, da man sie machet, erst gebohren würden. Man gehe demnach nicht zu ver- schwenderisch, sondern als ein guter Wirth damit um; besonders wenn man öfters einerley Zuhörer vor sich hat.
10. §.
Weil der Umfang sehr klein, und leicht zu erschöpfen ist: so fällt es schwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca- denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.
11. §.
Weder die Figuren, noch die simpeln Jntervalle, womit man die Cadenz anfängt und endiget, dürfen in der Transposition mehr als zwey- mal wiederholet werden; sonst werden sie zum Ekel. Jch will hierüber zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muster geben; s. Tab. XX. Fig. 1. und Fig. 2. Jn der ersten finden sich zwar zweyerley Figuren. Weil aber eine jede Figur viermal gehöret wird: so empfindet das Gehör einen Verdruß darüber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein- mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie ist
deswegen
Das XV. Hauptſtuͤck.
wie die Voͤgel ihren Geſang lernen, ohne zu wiſſen worinn ſie beſtehen, und wohin ſie ſich ſchicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem traurigen Stuͤcke etwan eine luſtige, oder in einem luſtigen wieder eine traurige Cadenz hoͤren laſſen will.
8. §.
Die Cadenzen muͤſſen aus dem Hauptaffecte des Stuͤckes fließen, und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefaͤlligſten Clauſeln, die in dem Stuͤcke enthalten ſind, in ſich faſſen. Zuweilen trifft ſichs, daß man wegen Zerſtreuung der Gedanken nicht ſogleich etwas neues zu erfinden weis. Hier iſt nun kein beſſer Mittel, als daß man ſich, aus dem Vorhergehenden, eine von den gefaͤlligſten Clauſeln erwaͤhle, und die Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den Mangel der Erfindung erſetzen; ſondern man wird auch jederzeit der herr- ſchenden Leidenſchaft des Stuͤckes eine Gnuͤge thun. Dieſes will ich einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen haben.
9. §.
Die Cadenzen ſind entweder ein- oder zweyſtimmig. Die einſtim- migen vornehmlich ſind, wie oben ſchon geſaget worden, willkuͤhrlich. Sie muͤſſen kurz und neu ſeyn, und den Zuhoͤrer uͤberraſchen, wie ein bon mot. Folglich muͤſſen ſie ſo klingen, als wenn ſie in dem Augenblicke, da man ſie machet, erſt gebohren wuͤrden. Man gehe demnach nicht zu ver- ſchwenderiſch, ſondern als ein guter Wirth damit um; beſonders wenn man oͤfters einerley Zuhoͤrer vor ſich hat.
10. §.
Weil der Umfang ſehr klein, und leicht zu erſchoͤpfen iſt: ſo faͤllt es ſchwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca- denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.
11. §.
Weder die Figuren, noch die ſimpeln Jntervalle, womit man die Cadenz anfaͤngt und endiget, duͤrfen in der Transpoſition mehr als zwey- mal wiederholet werden; ſonſt werden ſie zum Ekel. Jch will hieruͤber zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muſter geben; ſ. Tab. XX. Fig. 1. und Fig. 2. Jn der erſten finden ſich zwar zweyerley Figuren. Weil aber eine jede Figur viermal gehoͤret wird: ſo empfindet das Gehoͤr einen Verdruß daruͤber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein- mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie iſt
deswegen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0172"n="154"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Das <hirendition="#aq">XV.</hi> Hauptſtuͤck.</hi></fw><lb/>
wie die Voͤgel ihren Geſang lernen, ohne zu wiſſen worinn ſie beſtehen,<lb/>
und wohin ſie ſich ſchicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem<lb/>
traurigen Stuͤcke etwan eine luſtige, oder in einem luſtigen wieder eine<lb/>
traurige Cadenz hoͤren laſſen will.</p></div><lb/><divn="3"><head>8. §.</head><lb/><p>Die Cadenzen muͤſſen aus dem Hauptaffecte des Stuͤckes fließen,<lb/>
und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefaͤlligſten Clauſeln,<lb/>
die in dem Stuͤcke enthalten ſind, in ſich faſſen. Zuweilen trifft ſichs,<lb/>
daß man wegen Zerſtreuung der Gedanken nicht ſogleich etwas neues zu<lb/>
erfinden weis. Hier iſt nun kein beſſer Mittel, als daß man ſich, aus<lb/>
dem Vorhergehenden, eine von den gefaͤlligſten Clauſeln erwaͤhle, und die<lb/>
Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den<lb/>
Mangel der Erfindung erſetzen; ſondern man wird auch jederzeit der herr-<lb/>ſchenden Leidenſchaft des Stuͤckes eine Gnuͤge thun. Dieſes will ich<lb/>
einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen<lb/>
haben.</p></div><lb/><divn="3"><head>9. §.</head><lb/><p>Die Cadenzen ſind entweder ein- oder zweyſtimmig. Die einſtim-<lb/>
migen vornehmlich ſind, wie oben ſchon geſaget worden, willkuͤhrlich. Sie<lb/>
muͤſſen kurz und neu ſeyn, und den Zuhoͤrer uͤberraſchen, wie ein <hirendition="#aq">bon<lb/>
mot.</hi> Folglich muͤſſen ſie ſo klingen, als wenn ſie in dem Augenblicke, da<lb/>
man ſie machet, erſt gebohren wuͤrden. Man gehe demnach nicht zu ver-<lb/>ſchwenderiſch, ſondern als ein guter Wirth damit um; beſonders wenn<lb/>
man oͤfters einerley Zuhoͤrer vor ſich hat.</p></div><lb/><divn="3"><head>10. §.</head><lb/><p>Weil der Umfang ſehr klein, und leicht zu erſchoͤpfen iſt: ſo faͤllt es<lb/>ſchwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca-<lb/>
denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.</p></div><lb/><divn="3"><head>11. §.</head><lb/><p>Weder die Figuren, noch die ſimpeln Jntervalle, womit man die<lb/>
Cadenz anfaͤngt und endiget, duͤrfen in der Transpoſition mehr als zwey-<lb/>
mal wiederholet werden; ſonſt werden ſie zum Ekel. Jch will hieruͤber<lb/>
zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muſter geben; ſ. Tab. <hirendition="#aq">XX.</hi> Fig. 1.<lb/>
und Fig. 2. Jn der erſten finden ſich zwar zweyerley Figuren. Weil<lb/>
aber eine jede Figur viermal gehoͤret wird: ſo empfindet das Gehoͤr einen<lb/>
Verdruß daruͤber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein-<lb/>
mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie iſt<lb/><fwplace="bottom"type="catch">deswegen</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[154/0172]
Das XV. Hauptſtuͤck.
wie die Voͤgel ihren Geſang lernen, ohne zu wiſſen worinn ſie beſtehen,
und wohin ſie ſich ſchicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem
traurigen Stuͤcke etwan eine luſtige, oder in einem luſtigen wieder eine
traurige Cadenz hoͤren laſſen will.
8. §.
Die Cadenzen muͤſſen aus dem Hauptaffecte des Stuͤckes fließen,
und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefaͤlligſten Clauſeln,
die in dem Stuͤcke enthalten ſind, in ſich faſſen. Zuweilen trifft ſichs,
daß man wegen Zerſtreuung der Gedanken nicht ſogleich etwas neues zu
erfinden weis. Hier iſt nun kein beſſer Mittel, als daß man ſich, aus
dem Vorhergehenden, eine von den gefaͤlligſten Clauſeln erwaͤhle, und die
Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den
Mangel der Erfindung erſetzen; ſondern man wird auch jederzeit der herr-
ſchenden Leidenſchaft des Stuͤckes eine Gnuͤge thun. Dieſes will ich
einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen
haben.
9. §.
Die Cadenzen ſind entweder ein- oder zweyſtimmig. Die einſtim-
migen vornehmlich ſind, wie oben ſchon geſaget worden, willkuͤhrlich. Sie
muͤſſen kurz und neu ſeyn, und den Zuhoͤrer uͤberraſchen, wie ein bon
mot. Folglich muͤſſen ſie ſo klingen, als wenn ſie in dem Augenblicke, da
man ſie machet, erſt gebohren wuͤrden. Man gehe demnach nicht zu ver-
ſchwenderiſch, ſondern als ein guter Wirth damit um; beſonders wenn
man oͤfters einerley Zuhoͤrer vor ſich hat.
10. §.
Weil der Umfang ſehr klein, und leicht zu erſchoͤpfen iſt: ſo faͤllt es
ſchwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca-
denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.
11. §.
Weder die Figuren, noch die ſimpeln Jntervalle, womit man die
Cadenz anfaͤngt und endiget, duͤrfen in der Transpoſition mehr als zwey-
mal wiederholet werden; ſonſt werden ſie zum Ekel. Jch will hieruͤber
zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muſter geben; ſ. Tab. XX. Fig. 1.
und Fig. 2. Jn der erſten finden ſich zwar zweyerley Figuren. Weil
aber eine jede Figur viermal gehoͤret wird: ſo empfindet das Gehoͤr einen
Verdruß daruͤber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein-
mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie iſt
deswegen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/172>, abgerufen am 13.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.