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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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Beobachtungen. Zuerst bringe ich zu Papier natürlich
das Wetter: das holdseligste Himmelblau, den präch-
tigsten Sonnenschein. Hätte ich nur einen Funken poeti-
schen Feuers in mir, so würde ich mir beide durch ein
junges, schönes Paar personifiziren, welches da hoch
oben im Himmelszelt auf seinem weißen, weichen Wol-
kendivan tändelt und kos't und total vergessen hat, daß
noch so viel hunderttausend deutsche Hausfrauen auf --
Märzschnee warten zum Seifekochen! Wahrhaftig, da
ist ja eine Fliege! Welch' ein Fund für einen Chroniken-
schreiber! Summend stößt sie gegen die sonnebeschiene-
nen Scheiben, die wir schnell schließen wollen, um das
arme Thierchen zu seinem Besten vor dem heuchlerischen
Frühling da draußen zu bewahren. Sie scheint auch
jetzt ihre Thorheit einzusehen, sie läßt ab und umfliegt
mich. Halt, jetzt setzt sie sich auf meine Knie, nach
mehreren vergeblichen Angriffen auf meine Nasenspitze;
sie nimmt den Kopf zwischen beide Vorderbeine, kratzt
sich hinter den Ohren und -- -- -- kleiner ....! --
Dahin geht sie, eine Spur hinterlassend auf meinem
Knie und -- in der Chronik der Sperlingsgasse. Ich wollte,
es gäbe ein Sprichwort: "Schämt Euch vor den Fliegen
an der Wand." Um wie viel menschliche Tollheiten und
Thorheiten schnurren diese winzigen Flügelwesen! Wer
weiß, was der Punkt, den der kleine Tourist da eben

Beobachtungen. Zuerſt bringe ich zu Papier natürlich
das Wetter: das holdſeligſte Himmelblau, den präch-
tigſten Sonnenſchein. Hätte ich nur einen Funken poeti-
ſchen Feuers in mir, ſo würde ich mir beide durch ein
junges, ſchönes Paar perſonifiziren, welches da hoch
oben im Himmelszelt auf ſeinem weißen, weichen Wol-
kendivan tändelt und koſ’t und total vergeſſen hat, daß
noch ſo viel hunderttauſend deutſche Hausfrauen auf —
Märzſchnee warten zum Seifekochen! Wahrhaftig, da
iſt ja eine Fliege! Welch’ ein Fund für einen Chroniken-
ſchreiber! Summend ſtößt ſie gegen die ſonnebeſchiene-
nen Scheiben, die wir ſchnell ſchließen wollen, um das
arme Thierchen zu ſeinem Beſten vor dem heuchleriſchen
Frühling da draußen zu bewahren. Sie ſcheint auch
jetzt ihre Thorheit einzuſehen, ſie läßt ab und umfliegt
mich. Halt, jetzt ſetzt ſie ſich auf meine Knie, nach
mehreren vergeblichen Angriffen auf meine Naſenſpitze;
ſie nimmt den Kopf zwiſchen beide Vorderbeine, kratzt
ſich hinter den Ohren und — — — kleiner ....! —
Dahin geht ſie, eine Spur hinterlaſſend auf meinem
Knie und — in der Chronik der Sperlingsgaſſe. Ich wollte,
es gäbe ein Sprichwort: „Schämt Euch vor den Fliegen
an der Wand.“ Um wie viel menſchliche Tollheiten und
Thorheiten ſchnurren dieſe winzigen Flügelweſen! Wer
weiß, was der Punkt, den der kleine Touriſt da eben

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[216/0226] Beobachtungen. Zuerſt bringe ich zu Papier natürlich das Wetter: das holdſeligſte Himmelblau, den präch- tigſten Sonnenſchein. Hätte ich nur einen Funken poeti- ſchen Feuers in mir, ſo würde ich mir beide durch ein junges, ſchönes Paar perſonifiziren, welches da hoch oben im Himmelszelt auf ſeinem weißen, weichen Wol- kendivan tändelt und koſ’t und total vergeſſen hat, daß noch ſo viel hunderttauſend deutſche Hausfrauen auf — Märzſchnee warten zum Seifekochen! Wahrhaftig, da iſt ja eine Fliege! Welch’ ein Fund für einen Chroniken- ſchreiber! Summend ſtößt ſie gegen die ſonnebeſchiene- nen Scheiben, die wir ſchnell ſchließen wollen, um das arme Thierchen zu ſeinem Beſten vor dem heuchleriſchen Frühling da draußen zu bewahren. Sie ſcheint auch jetzt ihre Thorheit einzuſehen, ſie läßt ab und umfliegt mich. Halt, jetzt ſetzt ſie ſich auf meine Knie, nach mehreren vergeblichen Angriffen auf meine Naſenſpitze; ſie nimmt den Kopf zwiſchen beide Vorderbeine, kratzt ſich hinter den Ohren und — — — kleiner ....! — Dahin geht ſie, eine Spur hinterlaſſend auf meinem Knie und — in der Chronik der Sperlingsgaſſe. Ich wollte, es gäbe ein Sprichwort: „Schämt Euch vor den Fliegen an der Wand.“ Um wie viel menſchliche Tollheiten und Thorheiten ſchnurren dieſe winzigen Flügelweſen! Wer weiß, was der Punkt, den der kleine Touriſt da eben

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/226>, abgerufen am 01.11.2024.