die alsdann, jedes für sich, ihren eigenen Augenpunkt erhalten.
Wenn auch das Genie des Künstlers durch die Nothwendigkeit solche Süjets zu wählen, die in freier Luft vorgehen, beschränkt werden sollte, so würde er eben dadurch vor der Versuchung bewahrt, sehr interes- sante Süjets an einen Ort zu bringen, wo ich so viele Mühe habe, sein Werk zu betrachten. Allerdings paßt sich für den Boden eines vermauerten Zimmers ein aufgehangener Teppich besser als ein offener Him- mel; aber dieser Teppich sey nur nicht von dem Wer- the, daß ich sagen muß: Schade, daß er dort hängt!
Dagegen kömmt vielmehr in Betracht, daß Fi- guren, die ursprünglich gemahlet sind, um auf einer Horizontalfläche gesehen zu werden, wenn sie nachher in verticaler Richtung angeheftet werden, die unna- türlichste Würkung hervorbringen. Sie schweben nicht, sie scheinen zu fallen. Ja! da das Auge nach den bekanntesten Regeln der Optik die Figuren, die es in der Entfernung über sich siehet, verkürzt, so darf sie der Mahler, wenn er ihnen nicht ein schwer- fälliges Ansehen geben will, nicht in ihrer natürlichen Lage lassen: Er muß von den innerlichen Verhält- nissen des darzustellenden Körpers abweichen, um sich nach den Verhältnissen, worin das Auge außer ihm siehet, zu richten.
Ich wiederhole also meine Meinung über die Be- kleidung der Plafonds dahin, daß mir ein Plafond überall kein schicklicher Ort für ein Gemählde scheinet,
das
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
die alsdann, jedes fuͤr ſich, ihren eigenen Augenpunkt erhalten.
Wenn auch das Genie des Kuͤnſtlers durch die Nothwendigkeit ſolche Suͤjets zu waͤhlen, die in freier Luft vorgehen, beſchraͤnkt werden ſollte, ſo wuͤrde er eben dadurch vor der Verſuchung bewahrt, ſehr intereſ- ſante Suͤjets an einen Ort zu bringen, wo ich ſo viele Muͤhe habe, ſein Werk zu betrachten. Allerdings paßt ſich fuͤr den Boden eines vermauerten Zimmers ein aufgehangener Teppich beſſer als ein offener Him- mel; aber dieſer Teppich ſey nur nicht von dem Wer- the, daß ich ſagen muß: Schade, daß er dort haͤngt!
Dagegen koͤmmt vielmehr in Betracht, daß Fi- guren, die urſpruͤnglich gemahlet ſind, um auf einer Horizontalflaͤche geſehen zu werden, wenn ſie nachher in verticaler Richtung angeheftet werden, die unna- tuͤrlichſte Wuͤrkung hervorbringen. Sie ſchweben nicht, ſie ſcheinen zu fallen. Ja! da das Auge nach den bekannteſten Regeln der Optik die Figuren, die es in der Entfernung uͤber ſich ſiehet, verkuͤrzt, ſo darf ſie der Mahler, wenn er ihnen nicht ein ſchwer- faͤlliges Anſehen geben will, nicht in ihrer natuͤrlichen Lage laſſen: Er muß von den innerlichen Verhaͤlt- niſſen des darzuſtellenden Koͤrpers abweichen, um ſich nach den Verhaͤltniſſen, worin das Auge außer ihm ſiehet, zu richten.
Ich wiederhole alſo meine Meinung uͤber die Be- kleidung der Plafonds dahin, daß mir ein Plafond uͤberall kein ſchicklicher Ort fuͤr ein Gemaͤhlde ſcheinet,
das
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
die alsdann, jedes fuͤr ſich, ihren eigenen Augenpunkt
erhalten.
Wenn auch das Genie des Kuͤnſtlers durch die
Nothwendigkeit ſolche Suͤjets zu waͤhlen, die in freier
Luft vorgehen, beſchraͤnkt werden ſollte, ſo wuͤrde er
eben dadurch vor der Verſuchung bewahrt, ſehr intereſ-
ſante Suͤjets an einen Ort zu bringen, wo ich ſo viele
Muͤhe habe, ſein Werk zu betrachten. Allerdings
paßt ſich fuͤr den Boden eines vermauerten Zimmers
ein aufgehangener Teppich beſſer als ein offener Him-
mel; aber dieſer Teppich ſey nur nicht von dem Wer-
the, daß ich ſagen muß: Schade, daß er dort
haͤngt!
Dagegen koͤmmt vielmehr in Betracht, daß Fi-
guren, die urſpruͤnglich gemahlet ſind, um auf einer
Horizontalflaͤche geſehen zu werden, wenn ſie nachher
in verticaler Richtung angeheftet werden, die unna-
tuͤrlichſte Wuͤrkung hervorbringen. Sie ſchweben
nicht, ſie ſcheinen zu fallen. Ja! da das Auge nach
den bekannteſten Regeln der Optik die Figuren, die
es in der Entfernung uͤber ſich ſiehet, verkuͤrzt, ſo
darf ſie der Mahler, wenn er ihnen nicht ein ſchwer-
faͤlliges Anſehen geben will, nicht in ihrer natuͤrlichen
Lage laſſen: Er muß von den innerlichen Verhaͤlt-
niſſen des darzuſtellenden Koͤrpers abweichen, um ſich
nach den Verhaͤltniſſen, worin das Auge außer ihm
ſiehet, zu richten.
Ich wiederhole alſo meine Meinung uͤber die Be-
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uͤberall kein ſchicklicher Ort fuͤr ein Gemaͤhlde ſcheinet,
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/157>, abgerufen am 18.06.2024.
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