Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

seine Beyschläferin zu heirathen, eine Sitte, die in Athen zuverlässig nicht angenommen war, setzt dieß außer Zweifel. Allein auf der andern Seite erscheint doch aus der Freiheit, die der Dichter hatte, solche Gesinnungen aufs Theater zu bringen, und aus dem ganzen Betragen Hyllos gegen seine Mutter, das von dem gegen den Vater so sehr absticht, daß es die guten Sitten nicht beleidigte, wenn die Frau dem Manne nachgesetzt, und als für ihn geschaffen dargestellt wurde.

Eben dasjenige, was ich aus den Trachinerinnen gefolgert habe, scheint auch der Ajax des Sophokles zu bestätigen. Die Athenienser interessierten sich für die Liebe der Frauen gegen ihre Männer, ohne sich durch den Mangel einer zärtlichen Erwiederung von diesen empört zu fühlen. Tekmessa, die Beyschläferin des Ajax, erscheint eben so liebend als edel in diesem Stücke. Er hat sich selbst umgebracht: sie sieht mit ihrem Sohne der Knechtschaft entgegen: sie ahnet die Freude seiner Feinde über seinen Tod; demungeachtet bricht sie in die wahrhaft edeln und liebenden Worte aus: "Mich schmerzt sein Tod mehr, als er sie erfreuet. Doch ist er erwünscht für ihn! Was spotten sie des Helden? Er hat den Tod, das Ziel, das er selbst erwählt hatte, erreicht. Er ist hin! und hat seine Leiden mir hinterlassen!"

Ajax erscheint dagegen ganz gleichgültig gegen die treue Freundin. Er nimmt Abschied von seinen Eltern und von seinem Vaterlande. Aber ihrer erwähnt er mit keinem Worte.

In der Antigone schildert der Dichter zwey der edelsten weiblichen Seelen. Antigone selbst als heftig,

seine Beyschläferin zu heirathen, eine Sitte, die in Athen zuverlässig nicht angenommen war, setzt dieß außer Zweifel. Allein auf der andern Seite erscheint doch aus der Freiheit, die der Dichter hatte, solche Gesinnungen aufs Theater zu bringen, und aus dem ganzen Betragen Hyllos gegen seine Mutter, das von dem gegen den Vater so sehr absticht, daß es die guten Sitten nicht beleidigte, wenn die Frau dem Manne nachgesetzt, und als für ihn geschaffen dargestellt wurde.

Eben dasjenige, was ich aus den Trachinerinnen gefolgert habe, scheint auch der Ajax des Sophokles zu bestätigen. Die Athenienser interessierten sich für die Liebe der Frauen gegen ihre Männer, ohne sich durch den Mangel einer zärtlichen Erwiederung von diesen empört zu fühlen. Tekmessa, die Beyschläferin des Ajax, erscheint eben so liebend als edel in diesem Stücke. Er hat sich selbst umgebracht: sie sieht mit ihrem Sohne der Knechtschaft entgegen: sie ahnet die Freude seiner Feinde über seinen Tod; demungeachtet bricht sie in die wahrhaft edeln und liebenden Worte aus: „Mich schmerzt sein Tod mehr, als er sie erfreuet. Doch ist er erwünscht für ihn! Was spotten sie des Helden? Er hat den Tod, das Ziel, das er selbst erwählt hatte, erreicht. Er ist hin! und hat seine Leiden mir hinterlassen!“

Ajax erscheint dagegen ganz gleichgültig gegen die treue Freundin. Er nimmt Abschied von seinen Eltern und von seinem Vaterlande. Aber ihrer erwähnt er mit keinem Worte.

In der Antigone schildert der Dichter zwey der edelsten weiblichen Seelen. Antigone selbst als heftig,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0069" n="69"/>
seine Beyschläferin zu heirathen, eine Sitte, die in Athen zuverlässig nicht angenommen war, setzt dieß außer Zweifel. Allein auf der andern Seite erscheint doch aus der Freiheit, die der Dichter hatte, solche Gesinnungen aufs Theater zu bringen, und aus dem ganzen Betragen Hyllos gegen seine Mutter, das von dem gegen den Vater so sehr absticht, daß es die guten Sitten nicht beleidigte, wenn die Frau dem Manne nachgesetzt, und als für ihn geschaffen dargestellt wurde.</p>
          <p>Eben dasjenige, was ich aus den Trachinerinnen gefolgert habe, scheint auch der <hi rendition="#g">Ajax</hi> des Sophokles zu bestätigen. Die Athenienser interessierten sich für die Liebe der Frauen gegen ihre Männer, ohne sich durch den Mangel einer zärtlichen Erwiederung von diesen empört zu fühlen. Tekmessa, die Beyschläferin des Ajax, erscheint eben so liebend als edel in diesem Stücke. Er hat sich selbst umgebracht: sie sieht mit ihrem Sohne der Knechtschaft entgegen: sie ahnet die Freude seiner Feinde über seinen Tod; demungeachtet bricht sie in die wahrhaft edeln und liebenden Worte aus: &#x201E;Mich schmerzt sein Tod mehr, als er sie erfreuet. Doch ist er erwünscht für ihn! Was spotten sie des Helden? Er hat den Tod, das Ziel, das er selbst erwählt hatte, erreicht. Er ist hin! und hat seine Leiden mir hinterlassen!&#x201C;</p>
          <p>Ajax erscheint dagegen ganz gleichgültig gegen die treue Freundin. Er nimmt Abschied von seinen Eltern und von seinem Vaterlande. Aber ihrer erwähnt er mit keinem Worte.</p>
          <p>In der <hi rendition="#g">Antigone</hi> schildert der Dichter zwey der edelsten weiblichen Seelen. Antigone selbst als heftig,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0069] seine Beyschläferin zu heirathen, eine Sitte, die in Athen zuverlässig nicht angenommen war, setzt dieß außer Zweifel. Allein auf der andern Seite erscheint doch aus der Freiheit, die der Dichter hatte, solche Gesinnungen aufs Theater zu bringen, und aus dem ganzen Betragen Hyllos gegen seine Mutter, das von dem gegen den Vater so sehr absticht, daß es die guten Sitten nicht beleidigte, wenn die Frau dem Manne nachgesetzt, und als für ihn geschaffen dargestellt wurde. Eben dasjenige, was ich aus den Trachinerinnen gefolgert habe, scheint auch der Ajax des Sophokles zu bestätigen. Die Athenienser interessierten sich für die Liebe der Frauen gegen ihre Männer, ohne sich durch den Mangel einer zärtlichen Erwiederung von diesen empört zu fühlen. Tekmessa, die Beyschläferin des Ajax, erscheint eben so liebend als edel in diesem Stücke. Er hat sich selbst umgebracht: sie sieht mit ihrem Sohne der Knechtschaft entgegen: sie ahnet die Freude seiner Feinde über seinen Tod; demungeachtet bricht sie in die wahrhaft edeln und liebenden Worte aus: „Mich schmerzt sein Tod mehr, als er sie erfreuet. Doch ist er erwünscht für ihn! Was spotten sie des Helden? Er hat den Tod, das Ziel, das er selbst erwählt hatte, erreicht. Er ist hin! und hat seine Leiden mir hinterlassen!“ Ajax erscheint dagegen ganz gleichgültig gegen die treue Freundin. Er nimmt Abschied von seinen Eltern und von seinem Vaterlande. Aber ihrer erwähnt er mit keinem Worte. In der Antigone schildert der Dichter zwey der edelsten weiblichen Seelen. Antigone selbst als heftig,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/69
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/69>, abgerufen am 31.10.2024.