Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.schändliche That, indem er sich ein anderes Weib zulegt." - Medea sicher, einen Zufluchtsort zu finden, denkt nun mit Ernst an die Ausführung ihrer Rache! Unstreitig schadet der Dichter durch die Ueberlegung, welche Medea anwendet, dem Interesse, welches er für sie einflößen will. Er hätte ihre That ganz als Wirkung der Verzweiflung vorstellen sollen. Auch dadurch verliert sie, daß sie jetzt gegen den Jason die Erkenntniß ihres Unrechts heuchelt. Inzwischen kann diese Wendung, und das Böse, was der Dichter durch sie von ihrem Geschlechte sagen läßt, um den Gemahl sicher zu machen, nicht für seine allgemeine Verachtung des Geschlechts zeugen. Medea ersucht den Jason, seine Frau selbst zu bitten, daß sie ihren Vater bewegen möge, ihren Kindern Aufenthalt und Erziehung in ihrem Hause zu gestatten. "Ich hoffe", antwortet er, "sie zu überreden, wenn sie nur ein Weib wie andere ist." Liegt in diesen Worten ein Vorwurf von Geistesschwäche für das Geschlecht, so schließen sie wenigstens den seiner Hartherzigkeit aus. Der höchste Kampf der mütterlichen Liebe wider empörte Gattenliebe erscheint in der Medea, ehe sie den schrecklichen Kindermord beginnt. Sie ist eine Barbarin, keine Griechin; ihre grausame That ist durch die Sage authorisiert, und dennoch sucht Euripides alles hervor, um sie wahrscheinlich und weniger empörend zu machen. Gewiß, es war seine Absicht, für die Person der Medea zu interessieren, und diesen Zweck wird er bey jedem Leser, ungeachtet des Abscheues gegen die Handlung selbst, noch heut zu Tage erreichen. Wäre er wirklich der Weiberhasser gewesen, für den man ihn ausgiebt, so würde er den Jason gehoben, für ihn interessiert, schändliche That, indem er sich ein anderes Weib zulegt.“ – Medea sicher, einen Zufluchtsort zu finden, denkt nun mit Ernst an die Ausführung ihrer Rache! Unstreitig schadet der Dichter durch die Ueberlegung, welche Medea anwendet, dem Interesse, welches er für sie einflößen will. Er hätte ihre That ganz als Wirkung der Verzweiflung vorstellen sollen. Auch dadurch verliert sie, daß sie jetzt gegen den Jason die Erkenntniß ihres Unrechts heuchelt. Inzwischen kann diese Wendung, und das Böse, was der Dichter durch sie von ihrem Geschlechte sagen läßt, um den Gemahl sicher zu machen, nicht für seine allgemeine Verachtung des Geschlechts zeugen. Medea ersucht den Jason, seine Frau selbst zu bitten, daß sie ihren Vater bewegen möge, ihren Kindern Aufenthalt und Erziehung in ihrem Hause zu gestatten. „Ich hoffe“, antwortet er, „sie zu überreden, wenn sie nur ein Weib wie andere ist.“ Liegt in diesen Worten ein Vorwurf von Geistesschwäche für das Geschlecht, so schließen sie wenigstens den seiner Hartherzigkeit aus. Der höchste Kampf der mütterlichen Liebe wider empörte Gattenliebe erscheint in der Medea, ehe sie den schrecklichen Kindermord beginnt. Sie ist eine Barbarin, keine Griechin; ihre grausame That ist durch die Sage authorisiert, und dennoch sucht Euripides alles hervor, um sie wahrscheinlich und weniger empörend zu machen. Gewiß, es war seine Absicht, für die Person der Medea zu interessieren, und diesen Zweck wird er bey jedem Leser, ungeachtet des Abscheues gegen die Handlung selbst, noch heut zu Tage erreichen. Wäre er wirklich der Weiberhasser gewesen, für den man ihn ausgiebt, so würde er den Jason gehoben, für ihn interessiert, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0089" n="89"/> schändliche That, indem er sich ein anderes Weib zulegt.“ – Medea sicher, einen Zufluchtsort zu finden, denkt nun mit Ernst an die Ausführung ihrer Rache!</p> <p>Unstreitig schadet der Dichter durch die Ueberlegung, welche Medea anwendet, dem Interesse, welches er für sie einflößen will. Er hätte ihre That ganz als Wirkung der Verzweiflung vorstellen sollen. Auch dadurch verliert sie, daß sie jetzt gegen den Jason die Erkenntniß ihres Unrechts heuchelt. Inzwischen kann diese Wendung, und das Böse, was der Dichter durch sie von ihrem Geschlechte sagen läßt, um den Gemahl sicher zu machen, nicht für seine allgemeine Verachtung des Geschlechts zeugen. Medea ersucht den Jason, seine Frau selbst zu bitten, daß sie ihren Vater bewegen möge, ihren Kindern Aufenthalt und Erziehung in ihrem Hause zu gestatten. „Ich hoffe“, antwortet er, „sie zu überreden, wenn sie nur ein Weib wie andere ist.“ Liegt in diesen Worten ein Vorwurf von Geistesschwäche für das Geschlecht, so schließen sie wenigstens den seiner Hartherzigkeit aus.</p> <p>Der höchste Kampf der mütterlichen Liebe wider empörte Gattenliebe erscheint in der Medea, ehe sie den schrecklichen Kindermord beginnt. Sie ist eine Barbarin, keine Griechin; ihre grausame That ist durch die Sage authorisiert, und dennoch sucht Euripides alles hervor, um sie wahrscheinlich und weniger empörend zu machen. Gewiß, es war seine Absicht, für die Person der Medea zu interessieren, und diesen Zweck wird er bey jedem Leser, ungeachtet des Abscheues gegen die Handlung selbst, noch heut zu Tage erreichen. Wäre er wirklich der Weiberhasser gewesen, für den man ihn ausgiebt, so würde er den Jason gehoben, für ihn interessiert, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0089]
schändliche That, indem er sich ein anderes Weib zulegt.“ – Medea sicher, einen Zufluchtsort zu finden, denkt nun mit Ernst an die Ausführung ihrer Rache!
Unstreitig schadet der Dichter durch die Ueberlegung, welche Medea anwendet, dem Interesse, welches er für sie einflößen will. Er hätte ihre That ganz als Wirkung der Verzweiflung vorstellen sollen. Auch dadurch verliert sie, daß sie jetzt gegen den Jason die Erkenntniß ihres Unrechts heuchelt. Inzwischen kann diese Wendung, und das Böse, was der Dichter durch sie von ihrem Geschlechte sagen läßt, um den Gemahl sicher zu machen, nicht für seine allgemeine Verachtung des Geschlechts zeugen. Medea ersucht den Jason, seine Frau selbst zu bitten, daß sie ihren Vater bewegen möge, ihren Kindern Aufenthalt und Erziehung in ihrem Hause zu gestatten. „Ich hoffe“, antwortet er, „sie zu überreden, wenn sie nur ein Weib wie andere ist.“ Liegt in diesen Worten ein Vorwurf von Geistesschwäche für das Geschlecht, so schließen sie wenigstens den seiner Hartherzigkeit aus.
Der höchste Kampf der mütterlichen Liebe wider empörte Gattenliebe erscheint in der Medea, ehe sie den schrecklichen Kindermord beginnt. Sie ist eine Barbarin, keine Griechin; ihre grausame That ist durch die Sage authorisiert, und dennoch sucht Euripides alles hervor, um sie wahrscheinlich und weniger empörend zu machen. Gewiß, es war seine Absicht, für die Person der Medea zu interessieren, und diesen Zweck wird er bey jedem Leser, ungeachtet des Abscheues gegen die Handlung selbst, noch heut zu Tage erreichen. Wäre er wirklich der Weiberhasser gewesen, für den man ihn ausgiebt, so würde er den Jason gehoben, für ihn interessiert,
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