Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.den Stiefsohn als den Räuber ihrer Unschuld anzuklagen. Aber noch ehe sie den Erfolg dieses Schrittes erfährt, endigt sie ihr Leben durch einen freywilligen Tod. Racine, dem doch gewiß kein Weiberhaß zur Last gelegt werden kann, läßt seine Phädra in keinem so günstigen Lichte erscheinen. Beym Euripides ruft sogar das Chor nach ihrem Tode aus: "Bestes der Weiber, warum hast du uns verlassen?" Theseus ist über ihren Tod untröstlich. Er will nie wieder heirathen, er will mit ihr sterben. Läßt es sich denken, daß ein Dichter, der das ganze Geschlecht verachtet, seine Gatten so zärtlich darstellen würde? Was beweisen doch einzelne Invektiven, welche der Moment des Affekts einflößt und ausstößt! Theseus, ergrimmt über den blutschänderischen Sohn, der sich viel mit der Philosophie abgegeben hat, eifert stark gegen die Philosophen. Wollen wir nun sagen, Euripides sey ein Feind aller Philosophen gewesen? Aber Aristophanes hat doch den Euripides als einen Weiberfeind dargestellt! Freylich! und daher rührt auch das ganze Vorurtheil. Allein die Anzapfungen eines Spötters können doch nicht für einen Beweis gelten! Hat er nicht auch den Euripides beschuldigt, daß er den Meineid vertheidige, weil er den Hippolytus sagen läßt: mein Mund schwört, aber mein Herz verläugnet den Schwur! Und opfert sich demungeachtet nicht eben dieser Hippolytus auf, um jenen unüberlegten, ihm abgelockten Schwur, die Stiefmutter nicht zu verrathen, unverbrüchlich zu halten? Der Ausfall des Hippolytus gegen die gelehrten Weiber zeigt nur, daß die Matronen in Athen nicht ohne Geistesbildung gewesen sind, und daß schon den Stiefsohn als den Räuber ihrer Unschuld anzuklagen. Aber noch ehe sie den Erfolg dieses Schrittes erfährt, endigt sie ihr Leben durch einen freywilligen Tod. Racine, dem doch gewiß kein Weiberhaß zur Last gelegt werden kann, läßt seine Phädra in keinem so günstigen Lichte erscheinen. Beym Euripides ruft sogar das Chor nach ihrem Tode aus: „Bestes der Weiber, warum hast du uns verlassen?“ Theseus ist über ihren Tod untröstlich. Er will nie wieder heirathen, er will mit ihr sterben. Läßt es sich denken, daß ein Dichter, der das ganze Geschlecht verachtet, seine Gatten so zärtlich darstellen würde? Was beweisen doch einzelne Invektiven, welche der Moment des Affekts einflößt und ausstößt! Theseus, ergrimmt über den blutschänderischen Sohn, der sich viel mit der Philosophie abgegeben hat, eifert stark gegen die Philosophen. Wollen wir nun sagen, Euripides sey ein Feind aller Philosophen gewesen? Aber Aristophanes hat doch den Euripides als einen Weiberfeind dargestellt! Freylich! und daher rührt auch das ganze Vorurtheil. Allein die Anzapfungen eines Spötters können doch nicht für einen Beweis gelten! Hat er nicht auch den Euripides beschuldigt, daß er den Meineid vertheidige, weil er den Hippolytus sagen läßt: mein Mund schwört, aber mein Herz verläugnet den Schwur! Und opfert sich demungeachtet nicht eben dieser Hippolytus auf, um jenen unüberlegten, ihm abgelockten Schwur, die Stiefmutter nicht zu verrathen, unverbrüchlich zu halten? Der Ausfall des Hippolytus gegen die gelehrten Weiber zeigt nur, daß die Matronen in Athen nicht ohne Geistesbildung gewesen sind, und daß schon <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0092" n="92"/> den Stiefsohn als den Räuber ihrer Unschuld anzuklagen. Aber noch ehe sie den Erfolg dieses Schrittes erfährt, endigt sie ihr Leben durch einen freywilligen Tod. Racine, dem doch gewiß kein Weiberhaß zur Last gelegt werden kann, läßt seine Phädra in keinem so günstigen Lichte erscheinen. Beym Euripides ruft sogar das Chor nach ihrem Tode aus: „Bestes der Weiber, warum hast du uns verlassen?“ Theseus ist über ihren Tod untröstlich. Er will nie wieder heirathen, er will mit ihr sterben. Läßt es sich denken, daß ein Dichter, der das ganze Geschlecht verachtet, seine Gatten so zärtlich darstellen würde?</p> <p>Was beweisen doch einzelne Invektiven, welche der Moment des Affekts einflößt und ausstößt! Theseus, ergrimmt über den blutschänderischen Sohn, der sich viel mit der Philosophie abgegeben hat, eifert stark gegen die Philosophen. Wollen wir nun sagen, Euripides sey ein Feind aller Philosophen gewesen?</p> <p>Aber Aristophanes hat doch den Euripides als einen Weiberfeind dargestellt! Freylich! und daher rührt auch das ganze Vorurtheil. Allein die Anzapfungen eines Spötters können doch nicht für einen Beweis gelten! Hat er nicht auch den Euripides beschuldigt, daß er den Meineid vertheidige, weil er den Hippolytus sagen läßt: mein Mund schwört, aber mein Herz verläugnet den Schwur! Und opfert sich demungeachtet nicht eben dieser Hippolytus auf, um jenen unüberlegten, ihm abgelockten Schwur, die Stiefmutter nicht zu verrathen, unverbrüchlich zu halten? Der Ausfall des Hippolytus gegen die gelehrten Weiber zeigt nur, daß die Matronen in Athen nicht ohne Geistesbildung gewesen sind, und daß schon </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [92/0092]
den Stiefsohn als den Räuber ihrer Unschuld anzuklagen. Aber noch ehe sie den Erfolg dieses Schrittes erfährt, endigt sie ihr Leben durch einen freywilligen Tod. Racine, dem doch gewiß kein Weiberhaß zur Last gelegt werden kann, läßt seine Phädra in keinem so günstigen Lichte erscheinen. Beym Euripides ruft sogar das Chor nach ihrem Tode aus: „Bestes der Weiber, warum hast du uns verlassen?“ Theseus ist über ihren Tod untröstlich. Er will nie wieder heirathen, er will mit ihr sterben. Läßt es sich denken, daß ein Dichter, der das ganze Geschlecht verachtet, seine Gatten so zärtlich darstellen würde?
Was beweisen doch einzelne Invektiven, welche der Moment des Affekts einflößt und ausstößt! Theseus, ergrimmt über den blutschänderischen Sohn, der sich viel mit der Philosophie abgegeben hat, eifert stark gegen die Philosophen. Wollen wir nun sagen, Euripides sey ein Feind aller Philosophen gewesen?
Aber Aristophanes hat doch den Euripides als einen Weiberfeind dargestellt! Freylich! und daher rührt auch das ganze Vorurtheil. Allein die Anzapfungen eines Spötters können doch nicht für einen Beweis gelten! Hat er nicht auch den Euripides beschuldigt, daß er den Meineid vertheidige, weil er den Hippolytus sagen läßt: mein Mund schwört, aber mein Herz verläugnet den Schwur! Und opfert sich demungeachtet nicht eben dieser Hippolytus auf, um jenen unüberlegten, ihm abgelockten Schwur, die Stiefmutter nicht zu verrathen, unverbrüchlich zu halten? Der Ausfall des Hippolytus gegen die gelehrten Weiber zeigt nur, daß die Matronen in Athen nicht ohne Geistesbildung gewesen sind, und daß schon
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