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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Menschenliebe des Erlösers.
spielen rührt ihm das Herz. Sie jauchzen um ihn her-
um, aber er wird immer tiefsinniger. Der Schmerz,
der ihm innig an die Seele griff, übermächtigt ihn, und
umwölkt ihm das Gesicht. Man hört von weitem das
Getümmel der Stadt, aber ihm dünkt es, als wenn Je-
rusalem in einem tiefen Schlaf begraben läge. Es thut
ihm wehe, daß er mit der Weissagung der bevorstehen-
den Zerstörung zu ihnen kommen soll. Sagt doch nicht,
sichre Sünder! daß es nur ein Anstoß von Laune und
Mißvergnügen gewesen sey. Sagt nicht, daß ihm jezt
alles von der schwarzen Seite vorgekommen, und so fin-
ster und traurig ausgesehen habe. Die Zeit hat die Ver-
kündigungen des Erlösers bestätigt, Jerusalem ist von
der Erde weggerissen, und seine Einwohner sind noch
jezt wie Spreu, die der Wind zerstreut. Er kannte
die Vorzüge und die Fehler der Nation; so oft er in der
Stadt war, fiel sein Blick auf alles; und weil er, als
Gott und Schöpfer aller Menschen, von allen Nebenab-
sichten frey war, so wußte er auch, mitten unter einer
Nation, die die Römer äußerst haßte, und von ihm Be-
freyung von diesem Joch erwartete, nicht, was Furcht
ist, und sagte es ihnen ohne Rückhalt, daß dies Volk die
Geissel wäre, die Gott brauchen würde, ihre Undankbar-
keit zu züchtigen. Zum letztenmal wallt seine fromme
menschenliebende Seele dem Vaterland entgegen, und
fließt über in gedankenvollen Seufzern. Er redet wenig,
aber seine Worte sind zentnerschwer, und kaum sieht er
die weite, lange, majestätischausgedehnte königliche
Stadt vor sich, so steigt der innre -- ach, der nun
schon drey Jahre verschlossene Kummer noch höher, Ge-
danken drängen sich auf Gedanken, Empfindungen fol-

gen

Menſchenliebe des Erlöſers.
ſpielen rührt ihm das Herz. Sie jauchzen um ihn her-
um, aber er wird immer tiefſinniger. Der Schmerz,
der ihm innig an die Seele griff, übermächtigt ihn, und
umwölkt ihm das Geſicht. Man hört von weitem das
Getümmel der Stadt, aber ihm dünkt es, als wenn Je-
ruſalem in einem tiefen Schlaf begraben läge. Es thut
ihm wehe, daß er mit der Weiſſagung der bevorſtehen-
den Zerſtörung zu ihnen kommen ſoll. Sagt doch nicht,
ſichre Sünder! daß es nur ein Anſtoß von Laune und
Mißvergnügen geweſen ſey. Sagt nicht, daß ihm jezt
alles von der ſchwarzen Seite vorgekommen, und ſo fin-
ſter und traurig ausgeſehen habe. Die Zeit hat die Ver-
kündigungen des Erlöſers beſtätigt, Jeruſalem iſt von
der Erde weggeriſſen, und ſeine Einwohner ſind noch
jezt wie Spreu, die der Wind zerſtreut. Er kannte
die Vorzüge und die Fehler der Nation; ſo oft er in der
Stadt war, fiel ſein Blick auf alles; und weil er, als
Gott und Schöpfer aller Menſchen, von allen Nebenab-
ſichten frey war, ſo wußte er auch, mitten unter einer
Nation, die die Römer äußerſt haßte, und von ihm Be-
freyung von dieſem Joch erwartete, nicht, was Furcht
iſt, und ſagte es ihnen ohne Rückhalt, daß dies Volk die
Geiſſel wäre, die Gott brauchen würde, ihre Undankbar-
keit zu züchtigen. Zum letztenmal wallt ſeine fromme
menſchenliebende Seele dem Vaterland entgegen, und
fließt über in gedankenvollen Seufzern. Er redet wenig,
aber ſeine Worte ſind zentnerſchwer, und kaum ſieht er
die weite, lange, majeſtätiſchausgedehnte königliche
Stadt vor ſich, ſo ſteigt der innre — ach, der nun
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[200/0206] Menſchenliebe des Erlöſers. ſpielen rührt ihm das Herz. Sie jauchzen um ihn her- um, aber er wird immer tiefſinniger. Der Schmerz, der ihm innig an die Seele griff, übermächtigt ihn, und umwölkt ihm das Geſicht. Man hört von weitem das Getümmel der Stadt, aber ihm dünkt es, als wenn Je- ruſalem in einem tiefen Schlaf begraben läge. Es thut ihm wehe, daß er mit der Weiſſagung der bevorſtehen- den Zerſtörung zu ihnen kommen ſoll. Sagt doch nicht, ſichre Sünder! daß es nur ein Anſtoß von Laune und Mißvergnügen geweſen ſey. Sagt nicht, daß ihm jezt alles von der ſchwarzen Seite vorgekommen, und ſo fin- ſter und traurig ausgeſehen habe. Die Zeit hat die Ver- kündigungen des Erlöſers beſtätigt, Jeruſalem iſt von der Erde weggeriſſen, und ſeine Einwohner ſind noch jezt wie Spreu, die der Wind zerſtreut. Er kannte die Vorzüge und die Fehler der Nation; ſo oft er in der Stadt war, fiel ſein Blick auf alles; und weil er, als Gott und Schöpfer aller Menſchen, von allen Nebenab- ſichten frey war, ſo wußte er auch, mitten unter einer Nation, die die Römer äußerſt haßte, und von ihm Be- freyung von dieſem Joch erwartete, nicht, was Furcht iſt, und ſagte es ihnen ohne Rückhalt, daß dies Volk die Geiſſel wäre, die Gott brauchen würde, ihre Undankbar- keit zu züchtigen. Zum letztenmal wallt ſeine fromme menſchenliebende Seele dem Vaterland entgegen, und fließt über in gedankenvollen Seufzern. Er redet wenig, aber ſeine Worte ſind zentnerſchwer, und kaum ſieht er die weite, lange, majeſtätiſchausgedehnte königliche Stadt vor ſich, ſo ſteigt der innre — ach, der nun ſchon drey Jahre verſchloſſene Kummer noch höher, Ge- danken drängen ſich auf Gedanken, Empfindungen fol- gen

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/206>, abgerufen am 16.06.2024.