Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Menschenliebe des Erlösers. viel Freyheit im Denken gehört dazu, in einer Welt, woso viele flüchtige Schatten, so viele Traumbilder um uns herum gaukeln und verschwinden, das wahre Ziel der Ewigkeit nicht aus dem Auge zu verlieren! Zu Ver- gnügungen, die oft so sehr unter unsrer Würde sind, fin- den wir immer Zeit, aber das sind eben die unbewachten Augenblicke, die wir, wenn die Todtenglocke schallt, gern zurückholen würden. Indem wir uns im Rausch der Ergötzlichkeiten die Zeit verkürzen, so sterben immer viele von unsern Mitgeschöpfen, und schreyen zu Gott um Linderung -- Scheuen wir also den Ort nicht, wo die Stimme der Wahrheit tönt, die Gerechtigkeit thut ge- wiß zuletzt ihr Amt an uns, so ungern auch die Liebe Jesu Christi von seinen Menschen weicht. Bauen wir nur nicht immer auf Hülfe von schwachen und lieblosen Menschen. Die Scheibe dreht sich, die Kugel, auf der das Glück steht, fällt auf die andre Seite, und die Fluth der Zeit reißt unsre vergüldete Hoffnung hin. Wohl dem, der unter harten Schicksalen zu Gott sagen kann: Du weist, daß ich dich lieb habe. (Joh. 21, 15.) Herr! laß mich frühe deine Gnade erfahren, denn ich traue auf dich! Wonne und Freude müsse es uns seyn, am heiligen Ort recht oft das Gelübde der Treue zu er- neuren, das wir schon in der Jugend gethan haben. Wir sind niemals weit vom Tode, wir gehen auf der Grube, die Verwesung arbeitet alle Tage an unsrer Zer- störung -- Laßt uns dann, weil überall Leichen um uns herum liegen, still stehen, und hinüberschauen, ob wir den Anblick des Richters der Lebendigen und der Todten ertragen, ob wir in der reinen Gesellschaft der ewigen Sänger Gottes Vergnügen finden, ob unser Geist nahe
Menſchenliebe des Erlöſers. viel Freyheit im Denken gehört dazu, in einer Welt, woſo viele flüchtige Schatten, ſo viele Traumbilder um uns herum gaukeln und verſchwinden, das wahre Ziel der Ewigkeit nicht aus dem Auge zu verlieren! Zu Ver- gnügungen, die oft ſo ſehr unter unſrer Würde ſind, fin- den wir immer Zeit, aber das ſind eben die unbewachten Augenblicke, die wir, wenn die Todtenglocke ſchallt, gern zurückholen würden. Indem wir uns im Rauſch der Ergötzlichkeiten die Zeit verkürzen, ſo ſterben immer viele von unſern Mitgeſchöpfen, und ſchreyen zu Gott um Linderung — Scheuen wir alſo den Ort nicht, wo die Stimme der Wahrheit tönt, die Gerechtigkeit thut ge- wiß zuletzt ihr Amt an uns, ſo ungern auch die Liebe Jeſu Chriſti von ſeinen Menſchen weicht. Bauen wir nur nicht immer auf Hülfe von ſchwachen und liebloſen Menſchen. Die Scheibe dreht ſich, die Kugel, auf der das Glück ſteht, fällt auf die andre Seite, und die Fluth der Zeit reißt unſre vergüldete Hoffnung hin. Wohl dem, der unter harten Schickſalen zu Gott ſagen kann: Du weiſt, daß ich dich lieb habe. (Joh. 21, 15.) Herr! laß mich frühe deine Gnade erfahren, denn ich traue auf dich! Wonne und Freude müſſe es uns ſeyn, am heiligen Ort recht oft das Gelübde der Treue zu er- neuren, das wir ſchon in der Jugend gethan haben. Wir ſind niemals weit vom Tode, wir gehen auf der Grube, die Verweſung arbeitet alle Tage an unſrer Zer- ſtörung — Laßt uns dann, weil überall Leichen um uns herum liegen, ſtill ſtehen, und hinüberſchauen, ob wir den Anblick des Richters der Lebendigen und der Todten ertragen, ob wir in der reinen Geſellſchaft der ewigen Sänger Gottes Vergnügen finden, ob unſer Geiſt nahe
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Menſchenliebe des Erlöſers.
viel Freyheit im Denken gehört dazu, in einer Welt, wo
ſo viele flüchtige Schatten, ſo viele Traumbilder um uns
herum gaukeln und verſchwinden, das wahre Ziel der
Ewigkeit nicht aus dem Auge zu verlieren! Zu Ver-
gnügungen, die oft ſo ſehr unter unſrer Würde ſind, fin-
den wir immer Zeit, aber das ſind eben die unbewachten
Augenblicke, die wir, wenn die Todtenglocke ſchallt, gern
zurückholen würden. Indem wir uns im Rauſch der
Ergötzlichkeiten die Zeit verkürzen, ſo ſterben immer viele
von unſern Mitgeſchöpfen, und ſchreyen zu Gott um
Linderung — Scheuen wir alſo den Ort nicht, wo die
Stimme der Wahrheit tönt, die Gerechtigkeit thut ge-
wiß zuletzt ihr Amt an uns, ſo ungern auch die Liebe
Jeſu Chriſti von ſeinen Menſchen weicht. Bauen wir
nur nicht immer auf Hülfe von ſchwachen und liebloſen
Menſchen. Die Scheibe dreht ſich, die Kugel, auf der
das Glück ſteht, fällt auf die andre Seite, und die Fluth
der Zeit reißt unſre vergüldete Hoffnung hin. Wohl
dem, der unter harten Schickſalen zu Gott ſagen kann:
Du weiſt, daß ich dich lieb habe. (Joh. 21, 15.)
Herr! laß mich frühe deine Gnade erfahren, denn ich
traue auf dich! Wonne und Freude müſſe es uns ſeyn,
am heiligen Ort recht oft das Gelübde der Treue zu er-
neuren, das wir ſchon in der Jugend gethan haben.
Wir ſind niemals weit vom Tode, wir gehen auf der
Grube, die Verweſung arbeitet alle Tage an unſrer Zer-
ſtörung — Laßt uns dann, weil überall Leichen um
uns herum liegen, ſtill ſtehen, und hinüberſchauen, ob
wir den Anblick des Richters der Lebendigen und der
Todten ertragen, ob wir in der reinen Geſellſchaft der
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Zitationshilfe: | Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/228>, abgerufen am 16.06.2024. |