an ihrem Mittelpunkte, so würde sich nie ein Welt¬ meer bewegt haben."
Aber wissen Sie auch, gnädigster Prinz, daß Sie bisher nur gegen sich selbst bewiesen haben? Wenn es wahr ist, wie Sie sagen, daß der Mensch nicht aus seinem Mittelpunkte weichen kann, wo¬ her Ihre eigene Anmaßung den Gang der Natur zu bestimmen? Wie können Sie es dann unternehmen, die Regel fest setzen zu wollen, nach der sie handelt?
"Nichts weniger. Ich bestimme nichts, ich nehme ja nur hinweg, was die Menschen mit ihr verwechselt haben, was sie aus ihrer eignen Brust genommen, und durch pralerische Titel aufge¬ schmückt haben. Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwey schwarze un¬ durchdringliche Decken an, die an beyden Gränzen des menschlichen Lebens herunter hängen, und wel¬ che noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor, und rathen und rathen, was etwa dahin¬ ter seyn möchte. Viele sehen ihren eigenen Schat¬ ten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen, und fah¬ ren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen. Dichter, Philosophen und Staatenstifter haben sie mit ihren Träumen bemahlt, lachender oder fin¬ strer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuschte die Perspek¬ tive. Auch manche Gaukler nüzten diese allgemei¬
ne
an ihrem Mittelpunkte, ſo würde ſich nie ein Welt¬ meer bewegt haben.“
Aber wiſſen Sie auch, gnädigſter Prinz, daß Sie bisher nur gegen ſich ſelbſt bewieſen haben? Wenn es wahr iſt, wie Sie ſagen, daß der Menſch nicht aus ſeinem Mittelpunkte weichen kann, wo¬ her Ihre eigene Anmaßung den Gang der Natur zu beſtimmen? Wie können Sie es dann unternehmen, die Regel feſt ſetzen zu wollen, nach der ſie handelt?
„Nichts weniger. Ich beſtimme nichts, ich nehme ja nur hinweg, was die Menſchen mit ihr verwechſelt haben, was ſie aus ihrer eignen Bruſt genommen, und durch praleriſche Titel aufge¬ ſchmückt haben. Was mir vorherging und was mir folgen wird, ſehe ich als zwey ſchwarze un¬ durchdringliche Decken an, die an beyden Gränzen des menſchlichen Lebens herunter hängen, und wel¬ che noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen ſtehen mit der Fackel davor, und rathen und rathen, was etwa dahin¬ ter ſeyn möchte. Viele ſehen ihren eigenen Schat¬ ten, die Geſtalten ihrer Leidenſchaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft ſich bewegen, und fah¬ ren ſchaudernd vor ihrem eigenen Bilde zuſammen. Dichter, Philoſophen und Staatenſtifter haben ſie mit ihren Träumen bemahlt, lachender oder fin¬ ſtrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuſchte die Perſpek¬ tive. Auch manche Gaukler nüzten dieſe allgemei¬
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an ihrem Mittelpunkte, ſo würde ſich nie ein Welt¬
meer bewegt haben.“
Aber wiſſen Sie auch, gnädigſter Prinz, daß
Sie bisher nur gegen ſich ſelbſt bewieſen haben?
Wenn es wahr iſt, wie Sie ſagen, daß der Menſch
nicht aus ſeinem Mittelpunkte weichen kann, wo¬
her Ihre eigene Anmaßung den Gang der Natur zu
beſtimmen? Wie können Sie es dann unternehmen,
die Regel feſt ſetzen zu wollen, nach der ſie
handelt?
„Nichts weniger. Ich beſtimme nichts, ich
nehme ja nur hinweg, was die Menſchen mit ihr
verwechſelt haben, was ſie aus ihrer eignen Bruſt
genommen, und durch praleriſche Titel aufge¬
ſchmückt haben. Was mir vorherging und was
mir folgen wird, ſehe ich als zwey ſchwarze un¬
durchdringliche Decken an, die an beyden Gränzen
des menſchlichen Lebens herunter hängen, und wel¬
che noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon
viele hundert Generationen ſtehen mit der Fackel
davor, und rathen und rathen, was etwa dahin¬
ter ſeyn möchte. Viele ſehen ihren eigenen Schat¬
ten, die Geſtalten ihrer Leidenſchaft, vergrößert
auf der Decke der Zukunft ſich bewegen, und fah¬
ren ſchaudernd vor ihrem eigenen Bilde zuſammen.
Dichter, Philoſophen und Staatenſtifter haben ſie
mit ihren Träumen bemahlt, lachender oder fin¬
ſtrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder
heiterer war; und von weitem täuſchte die Perſpek¬
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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/144>, abgerufen am 18.06.2024.
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