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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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stenthums gewiesen, und da hatte man zwei Methoden, einmal,
von dem Ältesten, der Apostelgeschichte aus, die ihr folgende große
Lücke in der Geschichte zu construiren, oder aus der späteren zusammen-
hängenden Geschichte auf die Lücke zurückzuschließen. Das Erste ist
nicht hinreichend, denn es kann vieles schon in der Zeit gegeben sein,
wo die Apostelgeschichte geschrieben wurde, und sogar in der Zeit, die
sie beschreibt, was in ihr nicht erwähnt ist. So war der Con-
jectur ein freies Feld geöffnet. Daß man also von dem Späteren
und Bestimmteren aus die Conjectur begann, ist natürlich, und da
glaubte man, der Gnosticismus müsse in jener Zeit schon gewe-
sen sein und erklärte daraus. Das war aber eben unrichtig. Eben
so leicht kann es kommen, daß wollte man sich nur an das in
der Apostelgeschichte Erzählte halten, man nicht ausreicht. Aber
man muß sich hüten, gleich Bestimmtes zu geben. --

Kommt man in der allgemeinen Übersicht eines Briefes gleich auf
schwierige Stellen und es zeigt sich überall das Verhältniß, daß der
Verfasser von einer Vorstellung aus schreibt, die er von denen hat,
an die er schreibt, so kommt es darauf an, den rechten Punkt
herauszufinden, worauf die Vorstellung sich bezieht. Aber man
hüte sich vor Täuschung. Ist eine didaktische Einheit in einem
solchen Briefe, so ist das Auffinden derselben viel leichter. Ist
dieß nicht der Fall, so entsteht die Frage, wie die betreffenden
Stellen zu behandeln seien unter der Voraussezung, daß jedes
sich auf dasselbe oder jedes sich auf anderes beziehe. Dabei ist
das Verhältniß der verschiedenen Stellen ins Auge zu fassen und
auf die Composition selbst einzugehen. Da sind denn Stellen,
wo ich nicht eher ein Urtheil über die Einheit habe, bis ich mir
die bestimmte Gliederung, wie sie mit dem Bewußtsein des Ver-
fassers geworden ist, anschaulich gemacht habe. Je mehr die
Briefe freie Mittheilungen sind, desto schwieriger ist es, weil da
einwirkt was sich gerade lebendig darstellt, ohne daß eine prä-
meditirte Ordnung Statt findet. -- Gedenken wir, daß die
normale Dignität für die christliche Lehre in ihrer weiteren Ent-
wicklung überwiegend auf den apostolischen Briefen beruht, und

ſtenthums gewieſen, und da hatte man zwei Methoden, einmal,
von dem Älteſten, der Apoſtelgeſchichte aus, die ihr folgende große
Luͤcke in der Geſchichte zu conſtruiren, oder aus der ſpaͤteren zuſammen-
haͤngenden Geſchichte auf die Luͤcke zuruͤckzuſchließen. Das Erſte iſt
nicht hinreichend, denn es kann vieles ſchon in der Zeit gegeben ſein,
wo die Apoſtelgeſchichte geſchrieben wurde, und ſogar in der Zeit, die
ſie beſchreibt, was in ihr nicht erwaͤhnt iſt. So war der Con-
jectur ein freies Feld geoͤffnet. Daß man alſo von dem Spaͤteren
und Beſtimmteren aus die Conjectur begann, iſt natuͤrlich, und da
glaubte man, der Gnoſticismus muͤſſe in jener Zeit ſchon gewe-
ſen ſein und erklaͤrte daraus. Das war aber eben unrichtig. Eben
ſo leicht kann es kommen, daß wollte man ſich nur an das in
der Apoſtelgeſchichte Erzaͤhlte halten, man nicht ausreicht. Aber
man muß ſich huͤten, gleich Beſtimmtes zu geben. —

Kommt man in der allgemeinen Überſicht eines Briefes gleich auf
ſchwierige Stellen und es zeigt ſich uͤberall das Verhaͤltniß, daß der
Verfaſſer von einer Vorſtellung aus ſchreibt, die er von denen hat,
an die er ſchreibt, ſo kommt es darauf an, den rechten Punkt
herauszufinden, worauf die Vorſtellung ſich bezieht. Aber man
huͤte ſich vor Taͤuſchung. Iſt eine didaktiſche Einheit in einem
ſolchen Briefe, ſo iſt das Auffinden derſelben viel leichter. Iſt
dieß nicht der Fall, ſo entſteht die Frage, wie die betreffenden
Stellen zu behandeln ſeien unter der Vorausſezung, daß jedes
ſich auf daſſelbe oder jedes ſich auf anderes beziehe. Dabei iſt
das Verhaͤltniß der verſchiedenen Stellen ins Auge zu faſſen und
auf die Compoſition ſelbſt einzugehen. Da ſind denn Stellen,
wo ich nicht eher ein Urtheil uͤber die Einheit habe, bis ich mir
die beſtimmte Gliederung, wie ſie mit dem Bewußtſein des Ver-
faſſers geworden iſt, anſchaulich gemacht habe. Je mehr die
Briefe freie Mittheilungen ſind, deſto ſchwieriger iſt es, weil da
einwirkt was ſich gerade lebendig darſtellt, ohne daß eine praͤ-
meditirte Ordnung Statt findet. — Gedenken wir, daß die
normale Dignitaͤt fuͤr die chriſtliche Lehre in ihrer weiteren Ent-
wicklung uͤberwiegend auf den apoſtoliſchen Briefen beruht, und

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[187/0211] ſtenthums gewieſen, und da hatte man zwei Methoden, einmal, von dem Älteſten, der Apoſtelgeſchichte aus, die ihr folgende große Luͤcke in der Geſchichte zu conſtruiren, oder aus der ſpaͤteren zuſammen- haͤngenden Geſchichte auf die Luͤcke zuruͤckzuſchließen. Das Erſte iſt nicht hinreichend, denn es kann vieles ſchon in der Zeit gegeben ſein, wo die Apoſtelgeſchichte geſchrieben wurde, und ſogar in der Zeit, die ſie beſchreibt, was in ihr nicht erwaͤhnt iſt. So war der Con- jectur ein freies Feld geoͤffnet. Daß man alſo von dem Spaͤteren und Beſtimmteren aus die Conjectur begann, iſt natuͤrlich, und da glaubte man, der Gnoſticismus muͤſſe in jener Zeit ſchon gewe- ſen ſein und erklaͤrte daraus. Das war aber eben unrichtig. Eben ſo leicht kann es kommen, daß wollte man ſich nur an das in der Apoſtelgeſchichte Erzaͤhlte halten, man nicht ausreicht. Aber man muß ſich huͤten, gleich Beſtimmtes zu geben. — Kommt man in der allgemeinen Überſicht eines Briefes gleich auf ſchwierige Stellen und es zeigt ſich uͤberall das Verhaͤltniß, daß der Verfaſſer von einer Vorſtellung aus ſchreibt, die er von denen hat, an die er ſchreibt, ſo kommt es darauf an, den rechten Punkt herauszufinden, worauf die Vorſtellung ſich bezieht. Aber man huͤte ſich vor Taͤuſchung. Iſt eine didaktiſche Einheit in einem ſolchen Briefe, ſo iſt das Auffinden derſelben viel leichter. Iſt dieß nicht der Fall, ſo entſteht die Frage, wie die betreffenden Stellen zu behandeln ſeien unter der Vorausſezung, daß jedes ſich auf daſſelbe oder jedes ſich auf anderes beziehe. Dabei iſt das Verhaͤltniß der verſchiedenen Stellen ins Auge zu faſſen und auf die Compoſition ſelbſt einzugehen. Da ſind denn Stellen, wo ich nicht eher ein Urtheil uͤber die Einheit habe, bis ich mir die beſtimmte Gliederung, wie ſie mit dem Bewußtſein des Ver- faſſers geworden iſt, anſchaulich gemacht habe. Je mehr die Briefe freie Mittheilungen ſind, deſto ſchwieriger iſt es, weil da einwirkt was ſich gerade lebendig darſtellt, ohne daß eine praͤ- meditirte Ordnung Statt findet. — Gedenken wir, daß die normale Dignitaͤt fuͤr die chriſtliche Lehre in ihrer weiteren Ent- wicklung uͤberwiegend auf den apoſtoliſchen Briefen beruht, und

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/211>, abgerufen am 10.11.2024.