Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Ordnung der Beaufsichtigung und Kontrolle derselben, die Censur, die sog. Preßfreiheitund alles, was damit zusammenhängt. Die gazeta ist das Lesegeld, für welches man im 16. Jahrhundert die geschriebenen 8. Die Folgen der heutigen geistigen Verständigungsmittel, die Die öffentliche Meinung ist die Reaktion der zunächst mehr passiv sich verhaltenden Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Ordnung der Beaufſichtigung und Kontrolle derſelben, die Cenſur, die ſog. Preßfreiheitund alles, was damit zuſammenhängt. Die gazeta iſt das Leſegeld, für welches man im 16. Jahrhundert die geſchriebenen 8. Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die Die öffentliche Meinung iſt die Reaktion der zunächſt mehr paſſiv ſich verhaltenden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="14"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> Ordnung der Beaufſichtigung und Kontrolle derſelben, die Cenſur, die ſog. Preßfreiheit<lb/> und alles, was damit zuſammenhängt.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#aq">gazeta</hi> iſt das Leſegeld, für welches man im 16. Jahrhundert die geſchriebenen<lb/> Nachrichten über Kriegsereigniſſe in Venedig einſehen konnte. In Frankfurt kamen<lb/><hi rendition="#aq">Relationes semestrales</hi> halbjährlich deutſch und lateiniſch heraus, denen 1615 die erſte<lb/> wöchentlich gedruckte Zeitung folgte. In England verwandelte Nathaniel Butter ſeine<lb/> handſchriftlich verſandten <hi rendition="#aq">News-Lettres</hi> 1622 in gedruckte. Das erſte Tageblatt Eng-<lb/> lands datiert aber erſt von 1709. In Deutſchland war der Hamburger Korreſpondent<lb/> im 18. Jahrhundert eigentlich die einzige Zeitung, welche die Weltbegebenheiten mit-<lb/> teilte. Das ganze heutige Zeitungsweſen entwickelte ſich ſtoßweiſe ſeit den politiſchen<lb/> Entſcheidungsjahren 1789, 1830, 1848. Die großen deutſchen politiſchen Zeitungen hatten<lb/> es bis vor kurzem über tägliche Auflagen von 10—70000 Exemplaren nur ausnahms-<lb/> weiſe gebracht, die engliſchen haben ſolche bis zu 80 und 200000, die amerikaniſchen bis<lb/> zu 3 und 400000. Die Gartenlaube ſetzte 1868 übrigens auch ſchon 250000 Exemplare<lb/> ab. Die deutſche amtliche Zeitungsliſte umfaßte Juli 1899 12365 Zeitungen und Zeit-<lb/> ſchriften, 8683 in deutſcher Sprache. Wenn wir bedenken, daß jedes einzelne Zeitungsblatt<lb/> in viele, einzelne in hunderte von Händen kommen, ſo können wir uns eine Vorſtellung<lb/> davon machen, wie dieſelben Nachrichten, Gefühle, Stimmungen heute täglich an<lb/> Millionen von Menſchen herantreten und einen geiſtig verbindenden Strom herſtellen,<lb/> der früher faſt gänzlich fehlte, außer für die in den großen Städten täglich auf dem Markte,<lb/> dem Theater, in den Bädern, in den öffentlichen Verſammlungen ſich Sehenden. Tele-<lb/> graphen, Poſten, Eiſenbahnen, Briefe, Bücher und Zeitungen vermitteln heute einen<lb/> Verkehr, der den mündlichen ſo überragt, wie die Zahlungen im Wechſel- und Bank-<lb/> verkehr den Kleinverkehr mit Scheidemünze.</p><lb/> <p>8. <hi rendition="#g">Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die<lb/> Öffentlichkeit</hi>. Unſer geſellſchaftliches und politiſches Leben, wie unſer Marktverkehr,<lb/> die Preisbildung, die Kursnotierungen, der Welthandel ruhen auf dieſem organiſierten<lb/> Nachrichtenweſen. Die Epochen der Ausbildung der Sprache, Schrift, Schule und Preſſe<lb/> ſind zugleich die Epochen des politiſchen und wirtſchaftlichen Fortſchrittes. Es iſt ein<lb/> langſam in Jahrtauſenden gebildeter großer pſychophyſiſcher Apparat, der in unſeren<lb/> heutigen Geſellſchaften gleichſam die Stelle der Nerven vertritt; alle geiſtige ſociale<lb/> Aktion hängt von der Summe, Art und Organiſation der in dieſen Dienſt geſtellten<lb/> Kräfte ab.</p><lb/> <p>Die öffentliche Meinung iſt die Reaktion der zunächſt mehr paſſiv ſich verhaltenden<lb/> Teile der Geſellſchaft auf die Wirkungsweiſe des aktiven Teiles. Beſtimmte Nachrichten<lb/> erwecken beſtimmte Gefühle und Stimmungen. Regierung, Parteiführer, Journaliſten,<lb/> Kirchen- und andere Lehrer, Geſchäftshäuſer und Börſenleute ſuchen durch dieſen pſycho-<lb/> phyſiſchen Apparat heute auf das Publikum zu wirken, wie es früher nur Redner<lb/> konnten. Reklame und Marktſchreierei greifen ein, wie wahre Nachrichten und wirkliche<lb/> Überzeugungen. Die öffentliche Meinung iſt wie eine große Äolsharfe von Millionen<lb/> von Saiten, auf die die Winde von allen Richtungen heranſtürmen. Der Klang kann nicht<lb/> immer ein einfacher und harmoniſcher ſein; die verſchiedenſten Strömungen und<lb/> Melodien klingen durcheinander. Die öffentliche Meinung ſchlägt jäh um, fordert heute<lb/> dies und morgen jenes. Sie verzerrt die Nachrichten und bildet Mythen; ſie arbeitet<lb/> heute mit den Leidenſchaften des Gemütes wie morgen wieder mit ruhiger Überlegung.<lb/> Man hat geſagt, die Unabhängigkeit von ihr ſei die erſte Bedingung zu allem Großen<lb/> und Vernünftigen (Hegel). Und doch iſt ſie andererſeits die Trägerin der größten, be-<lb/> geiſtertſten Thaten und Leiſtungen der Völker und die Vorausſetzung der dauernden<lb/> Ausſtoßung alles Ungeſunden und Schlechten. Eine richtige Organiſation der Öffentlich-<lb/> keit, welche die Hervorzerrung des rein Privaten zu perſönlichem Angriff nicht duldet,<lb/> aber ebenſowenig die Verheimlichung deſſen, was alle oder größere Kreiſe wiſſen müſſen,<lb/> um nicht getäuſcht und betrogen zu werden, wird mit Recht heute als eine der erſten<lb/> Vorausſetzungen eines normalen geſellſchaftlichen Zuſtandes angeſehen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0030]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Ordnung der Beaufſichtigung und Kontrolle derſelben, die Cenſur, die ſog. Preßfreiheit
und alles, was damit zuſammenhängt.
Die gazeta iſt das Leſegeld, für welches man im 16. Jahrhundert die geſchriebenen
Nachrichten über Kriegsereigniſſe in Venedig einſehen konnte. In Frankfurt kamen
Relationes semestrales halbjährlich deutſch und lateiniſch heraus, denen 1615 die erſte
wöchentlich gedruckte Zeitung folgte. In England verwandelte Nathaniel Butter ſeine
handſchriftlich verſandten News-Lettres 1622 in gedruckte. Das erſte Tageblatt Eng-
lands datiert aber erſt von 1709. In Deutſchland war der Hamburger Korreſpondent
im 18. Jahrhundert eigentlich die einzige Zeitung, welche die Weltbegebenheiten mit-
teilte. Das ganze heutige Zeitungsweſen entwickelte ſich ſtoßweiſe ſeit den politiſchen
Entſcheidungsjahren 1789, 1830, 1848. Die großen deutſchen politiſchen Zeitungen hatten
es bis vor kurzem über tägliche Auflagen von 10—70000 Exemplaren nur ausnahms-
weiſe gebracht, die engliſchen haben ſolche bis zu 80 und 200000, die amerikaniſchen bis
zu 3 und 400000. Die Gartenlaube ſetzte 1868 übrigens auch ſchon 250000 Exemplare
ab. Die deutſche amtliche Zeitungsliſte umfaßte Juli 1899 12365 Zeitungen und Zeit-
ſchriften, 8683 in deutſcher Sprache. Wenn wir bedenken, daß jedes einzelne Zeitungsblatt
in viele, einzelne in hunderte von Händen kommen, ſo können wir uns eine Vorſtellung
davon machen, wie dieſelben Nachrichten, Gefühle, Stimmungen heute täglich an
Millionen von Menſchen herantreten und einen geiſtig verbindenden Strom herſtellen,
der früher faſt gänzlich fehlte, außer für die in den großen Städten täglich auf dem Markte,
dem Theater, in den Bädern, in den öffentlichen Verſammlungen ſich Sehenden. Tele-
graphen, Poſten, Eiſenbahnen, Briefe, Bücher und Zeitungen vermitteln heute einen
Verkehr, der den mündlichen ſo überragt, wie die Zahlungen im Wechſel- und Bank-
verkehr den Kleinverkehr mit Scheidemünze.
8. Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die
Öffentlichkeit. Unſer geſellſchaftliches und politiſches Leben, wie unſer Marktverkehr,
die Preisbildung, die Kursnotierungen, der Welthandel ruhen auf dieſem organiſierten
Nachrichtenweſen. Die Epochen der Ausbildung der Sprache, Schrift, Schule und Preſſe
ſind zugleich die Epochen des politiſchen und wirtſchaftlichen Fortſchrittes. Es iſt ein
langſam in Jahrtauſenden gebildeter großer pſychophyſiſcher Apparat, der in unſeren
heutigen Geſellſchaften gleichſam die Stelle der Nerven vertritt; alle geiſtige ſociale
Aktion hängt von der Summe, Art und Organiſation der in dieſen Dienſt geſtellten
Kräfte ab.
Die öffentliche Meinung iſt die Reaktion der zunächſt mehr paſſiv ſich verhaltenden
Teile der Geſellſchaft auf die Wirkungsweiſe des aktiven Teiles. Beſtimmte Nachrichten
erwecken beſtimmte Gefühle und Stimmungen. Regierung, Parteiführer, Journaliſten,
Kirchen- und andere Lehrer, Geſchäftshäuſer und Börſenleute ſuchen durch dieſen pſycho-
phyſiſchen Apparat heute auf das Publikum zu wirken, wie es früher nur Redner
konnten. Reklame und Marktſchreierei greifen ein, wie wahre Nachrichten und wirkliche
Überzeugungen. Die öffentliche Meinung iſt wie eine große Äolsharfe von Millionen
von Saiten, auf die die Winde von allen Richtungen heranſtürmen. Der Klang kann nicht
immer ein einfacher und harmoniſcher ſein; die verſchiedenſten Strömungen und
Melodien klingen durcheinander. Die öffentliche Meinung ſchlägt jäh um, fordert heute
dies und morgen jenes. Sie verzerrt die Nachrichten und bildet Mythen; ſie arbeitet
heute mit den Leidenſchaften des Gemütes wie morgen wieder mit ruhiger Überlegung.
Man hat geſagt, die Unabhängigkeit von ihr ſei die erſte Bedingung zu allem Großen
und Vernünftigen (Hegel). Und doch iſt ſie andererſeits die Trägerin der größten, be-
geiſtertſten Thaten und Leiſtungen der Völker und die Vorausſetzung der dauernden
Ausſtoßung alles Ungeſunden und Schlechten. Eine richtige Organiſation der Öffentlich-
keit, welche die Hervorzerrung des rein Privaten zu perſönlichem Angriff nicht duldet,
aber ebenſowenig die Verheimlichung deſſen, was alle oder größere Kreiſe wiſſen müſſen,
um nicht getäuſcht und betrogen zu werden, wird mit Recht heute als eine der erſten
Vorausſetzungen eines normalen geſellſchaftlichen Zuſtandes angeſehen.
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