der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit, der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent des Meisters hervor, die Natur mit zartem edlen Sinn aufzufassen, mit gewissenhafter Treue darzu- stellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von Manier und erkünsteltem Wesen.
Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem zwei Seitentafeln gehören, stellt das Hauptge- mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz todt genug erscheinende Christus hängt, umgeben von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, dessen oberer Theil im Rahmen des Bildes verschwindet. Maria ist in lautloßen Jammer versunken, Joseph von Arimathia mit noch einem Freunde stehen etwas zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher der Meister mit bewundernswürdigem Ausdrucke die Verschiedenheit der Empfindung einer Fremden, und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen des Entseelten darstellte. Wo diese, überwältigt von Jammer und Wehmuth, fast vergehen, empfin- det jene nur ängstliche Scheu und banges Schrek-
der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit, der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent des Meiſters hervor, die Natur mit zartem edlen Sinn aufzufaſſen, mit gewiſſenhafter Treue darzu- ſtellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von Manier und erkünſteltem Weſen.
Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem zwei Seitentafeln gehören, ſtellt das Hauptge- mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz todt genug erſcheinende Chriſtus hängt, umgeben von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, deſſen oberer Theil im Rahmen des Bildes verſchwindet. Maria iſt in lautloßen Jammer verſunken, Joſeph von Arimathia mit noch einem Freunde ſtehen etwas zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher der Meiſter mit bewundernswürdigem Ausdrucke die Verſchiedenheit der Empfindung einer Fremden, und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen des Entſeelten darſtellte. Wo dieſe, überwältigt von Jammer und Wehmuth, faſt vergehen, empfin- det jene nur ängſtliche Scheu und banges Schrek-
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der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit,
der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und
der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent
des Meiſters hervor, die Natur mit zartem edlen
Sinn aufzufaſſen, mit gewiſſenhafter Treue darzu-
ſtellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von
Manier und erkünſteltem Weſen.
Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem
zwei Seitentafeln gehören, ſtellt das Hauptge-
mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz
todt genug erſcheinende Chriſtus hängt, umgeben
von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, deſſen
oberer Theil im Rahmen des Bildes verſchwindet.
Maria iſt in lautloßen Jammer verſunken, Joſeph
von Arimathia mit noch einem Freunde ſtehen etwas
zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher
der Meiſter mit bewundernswürdigem Ausdrucke
die Verſchiedenheit der Empfindung einer Fremden,
und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen
des Entſeelten darſtellte. Wo dieſe, überwältigt
von Jammer und Wehmuth, faſt vergehen, empfin-
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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/158>, abgerufen am 14.06.2024.
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