Schönheit, daß man die Möglichkeit eines solchen Jrrthums leicht begreift.
Ein weiter dunkelblauer Mantel umgibt im herrlichsten Faltenwurf die schöne Gestalt, wahr- scheinlich das Porträt einer edlen noch jugendlichen Frau. Nichts kann einfacher und dabei doch herz- ergreifender gedacht werden, als der tiefe Aus- druck unendlichen Schmerzes in den schönen Zügen dieses Gesichts. Und doch ist über dem Ganzen eine so unbeschreibliche Anmuth verbreitet, daß wir dabei eine Art wehmüthiger Freude empfinden ein solches Leid so getragen zu sehen. Sie weint nicht mehr, denn alle ihre Thränen sind längst vergoßen, sie klagt nicht, denn ihr Schmerz ist zu groß für jede Klage. Sie weiß, es gibt keinen Trost mehr für sie auf Erden, aber sie hat sich darein ergeben, nicht aus weichlicher Schwäche, sondern im festen Vertrauen in Gott und seinen Willen. Die Linke der schönen Hände ruht auf der noch schmerzlich wogenden Brust, die Rechte ist erhoben, als deute sie auf einen Gegen- stand ausserhalb dem Bilde, zu welchem das Gegen-
II. Bd. 12
Schönheit, daß man die Möglichkeit eines ſolchen Jrrthums leicht begreift.
Ein weiter dunkelblauer Mantel umgibt im herrlichſten Faltenwurf die ſchöne Geſtalt, wahr- ſcheinlich das Porträt einer edlen noch jugendlichen Frau. Nichts kann einfacher und dabei doch herz- ergreifender gedacht werden, als der tiefe Aus- druck unendlichen Schmerzes in den ſchönen Zügen dieſes Geſichts. Und doch iſt über dem Ganzen eine ſo unbeſchreibliche Anmuth verbreitet, daß wir dabei eine Art wehmüthiger Freude empfinden ein ſolches Leid ſo getragen zu ſehen. Sie weint nicht mehr, denn alle ihre Thränen ſind längſt vergoßen, ſie klagt nicht, denn ihr Schmerz iſt zu groß für jede Klage. Sie weiß, es gibt keinen Troſt mehr für ſie auf Erden, aber ſie hat ſich darein ergeben, nicht aus weichlicher Schwäche, ſondern im feſten Vertrauen in Gott und ſeinen Willen. Die Linke der ſchönen Hände ruht auf der noch ſchmerzlich wogenden Bruſt, die Rechte iſt erhoben, als deute ſie auf einen Gegen- ſtand auſſerhalb dem Bilde, zu welchem das Gegen-
II. Bd. 12
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0185"n="177"/>
Schönheit, daß man die Möglichkeit eines ſolchen<lb/>
Jrrthums leicht begreift.</p><lb/><p>Ein weiter dunkelblauer Mantel umgibt im<lb/>
herrlichſten Faltenwurf die ſchöne Geſtalt, wahr-<lb/>ſcheinlich das Porträt einer edlen noch jugendlichen<lb/>
Frau. Nichts kann einfacher und dabei doch herz-<lb/>
ergreifender gedacht werden, als der tiefe Aus-<lb/>
druck unendlichen Schmerzes in den ſchönen Zügen<lb/>
dieſes Geſichts. Und doch iſt über dem Ganzen<lb/>
eine ſo unbeſchreibliche Anmuth verbreitet, daß<lb/>
wir dabei eine Art wehmüthiger Freude empfinden<lb/>
ein ſolches Leid ſo getragen zu ſehen. Sie weint<lb/>
nicht mehr, denn alle ihre Thränen ſind längſt<lb/>
vergoßen, ſie klagt nicht, denn ihr Schmerz iſt<lb/>
zu groß für jede Klage. Sie weiß, es gibt<lb/>
keinen Troſt mehr für ſie auf Erden, aber ſie<lb/>
hat ſich darein ergeben, nicht aus weichlicher<lb/>
Schwäche, ſondern im feſten Vertrauen in Gott<lb/>
und ſeinen Willen. Die Linke der ſchönen Hände<lb/>
ruht auf der noch ſchmerzlich wogenden Bruſt, die<lb/>
Rechte iſt erhoben, als deute ſie auf einen Gegen-<lb/>ſtand auſſerhalb dem Bilde, zu welchem das Gegen-<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">II.</hi> Bd. 12</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[177/0185]
Schönheit, daß man die Möglichkeit eines ſolchen
Jrrthums leicht begreift.
Ein weiter dunkelblauer Mantel umgibt im
herrlichſten Faltenwurf die ſchöne Geſtalt, wahr-
ſcheinlich das Porträt einer edlen noch jugendlichen
Frau. Nichts kann einfacher und dabei doch herz-
ergreifender gedacht werden, als der tiefe Aus-
druck unendlichen Schmerzes in den ſchönen Zügen
dieſes Geſichts. Und doch iſt über dem Ganzen
eine ſo unbeſchreibliche Anmuth verbreitet, daß
wir dabei eine Art wehmüthiger Freude empfinden
ein ſolches Leid ſo getragen zu ſehen. Sie weint
nicht mehr, denn alle ihre Thränen ſind längſt
vergoßen, ſie klagt nicht, denn ihr Schmerz iſt
zu groß für jede Klage. Sie weiß, es gibt
keinen Troſt mehr für ſie auf Erden, aber ſie
hat ſich darein ergeben, nicht aus weichlicher
Schwäche, ſondern im feſten Vertrauen in Gott
und ſeinen Willen. Die Linke der ſchönen Hände
ruht auf der noch ſchmerzlich wogenden Bruſt, die
Rechte iſt erhoben, als deute ſie auf einen Gegen-
ſtand auſſerhalb dem Bilde, zu welchem das Gegen-
II. Bd. 12
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/185>, abgerufen am 14.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.