Nach dieser Zeit starb ihr Kind, sie sah gleich- gültig zu, wie man's zu Grabe trug, sie folgte sogar freiwillig dem Sarge; wie aber dieser mit Erde bedeckt war, so stieg sie auf das erhöhte Grab, und rief dreimal fürchterlich aus: Gott ist gerecht! Sie hielte nach diesem Ausrufe noch eine lange Anrede ans Volk, aber keiner konnte ein Wort verstehen, es waren leere, unver- ständliche Töne, welche oft durch den Ausruf: Gott ist gerecht! unterbrochen wurden.
Dieser Ausruf, den sie stets mit der größten Emphasie aussprach, war ihre übrige Lebenszeit hindurch das einzige verständliche Wort, welches man aus ihrem Munde hörte.
Sie that niemanden etwas zu Leide, gieng stets mit in einander geschlagnen Armen auf der Straße still und nachdenkend einher, wenn sie aber irgend eine kleine Anhöhe, oder einen großen Stein erblickte, so sprang sie hastig drauf, und rief laut aus: Gott ist gerecht! Dann folgte alle- mal eine lange, unverständliche Rede, die sie mit den heftigsten Geberden und Gestikulationen be- gleitete. Ihr folgten immer die Kinder des Dorfs nach, nannten sie spottweise: die Predigerin! und waren gewiß, daß sie ihnen Stunden lang vor- predigte, wenn sie ihr nur einen Stein zeigten, auf welchem sie stehen konnte.
Ihr Vermögen ward zinsbar angelegt, und der Dorfhirte nahms über sich, sie gegen Em- pfang der Zinsen anständig zu ernähren. Nach
Nach dieſer Zeit ſtarb ihr Kind, ſie ſah gleich- guͤltig zu, wie man's zu Grabe trug, ſie folgte ſogar freiwillig dem Sarge; wie aber dieſer mit Erde bedeckt war, ſo ſtieg ſie auf das erhoͤhte Grab, und rief dreimal fuͤrchterlich aus: Gott iſt gerecht! Sie hielte nach dieſem Ausrufe noch eine lange Anrede ans Volk, aber keiner konnte ein Wort verſtehen, es waren leere, unver- ſtaͤndliche Toͤne, welche oft durch den Ausruf: Gott iſt gerecht! unterbrochen wurden.
Dieſer Ausruf, den ſie ſtets mit der groͤßten Emphaſie ausſprach, war ihre uͤbrige Lebenszeit hindurch das einzige verſtaͤndliche Wort, welches man aus ihrem Munde hoͤrte.
Sie that niemanden etwas zu Leide, gieng ſtets mit in einander geſchlagnen Armen auf der Straße ſtill und nachdenkend einher, wenn ſie aber irgend eine kleine Anhoͤhe, oder einen großen Stein erblickte, ſo ſprang ſie haſtig drauf, und rief laut aus: Gott iſt gerecht! Dann folgte alle- mal eine lange, unverſtaͤndliche Rede, die ſie mit den heftigſten Geberden und Geſtikulationen be- gleitete. Ihr folgten immer die Kinder des Dorfs nach, nannten ſie ſpottweiſe: die Predigerin! und waren gewiß, daß ſie ihnen Stunden lang vor- predigte, wenn ſie ihr nur einen Stein zeigten, auf welchem ſie ſtehen konnte.
Ihr Vermoͤgen ward zinsbar angelegt, und der Dorfhirte nahms uͤber ſich, ſie gegen Em- pfang der Zinſen anſtaͤndig zu ernaͤhren. Nach
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0187"n="179"/><p>Nach dieſer Zeit ſtarb ihr Kind, ſie ſah gleich-<lb/>
guͤltig zu, wie man's zu Grabe trug, ſie folgte<lb/>ſogar freiwillig dem Sarge; wie aber dieſer mit<lb/>
Erde bedeckt war, ſo ſtieg ſie auf das erhoͤhte<lb/>
Grab, und rief dreimal fuͤrchterlich aus: <hirendition="#g">Gott<lb/>
iſt gerecht</hi>! Sie hielte nach dieſem Ausrufe<lb/>
noch eine lange Anrede ans Volk, aber keiner<lb/>
konnte ein Wort verſtehen, es waren leere, unver-<lb/>ſtaͤndliche Toͤne, welche oft durch den Ausruf:<lb/>
Gott iſt gerecht! unterbrochen wurden.</p><lb/><p>Dieſer Ausruf, den ſie ſtets mit der groͤßten<lb/>
Emphaſie ausſprach, war ihre uͤbrige Lebenszeit<lb/>
hindurch das einzige verſtaͤndliche Wort, welches<lb/>
man aus ihrem Munde hoͤrte.</p><lb/><p>Sie that niemanden etwas zu Leide, gieng<lb/>ſtets mit in einander geſchlagnen Armen auf der<lb/>
Straße ſtill und nachdenkend einher, wenn ſie aber<lb/>
irgend eine kleine Anhoͤhe, oder einen großen<lb/>
Stein erblickte, ſo ſprang ſie haſtig drauf, und<lb/>
rief laut aus: Gott iſt gerecht! Dann folgte alle-<lb/>
mal eine lange, unverſtaͤndliche Rede, die ſie mit<lb/>
den heftigſten Geberden und Geſtikulationen be-<lb/>
gleitete. Ihr folgten immer die Kinder des Dorfs<lb/>
nach, nannten ſie ſpottweiſe: die Predigerin! und<lb/>
waren gewiß, daß ſie ihnen Stunden lang vor-<lb/>
predigte, wenn ſie ihr nur einen Stein zeigten,<lb/>
auf welchem ſie ſtehen konnte.</p><lb/><p>Ihr Vermoͤgen ward zinsbar angelegt, und<lb/>
der Dorfhirte nahms uͤber ſich, ſie gegen Em-<lb/>
pfang der Zinſen anſtaͤndig zu ernaͤhren. Nach<lb/></p></div></body></text></TEI>
[179/0187]
Nach dieſer Zeit ſtarb ihr Kind, ſie ſah gleich-
guͤltig zu, wie man's zu Grabe trug, ſie folgte
ſogar freiwillig dem Sarge; wie aber dieſer mit
Erde bedeckt war, ſo ſtieg ſie auf das erhoͤhte
Grab, und rief dreimal fuͤrchterlich aus: Gott
iſt gerecht! Sie hielte nach dieſem Ausrufe
noch eine lange Anrede ans Volk, aber keiner
konnte ein Wort verſtehen, es waren leere, unver-
ſtaͤndliche Toͤne, welche oft durch den Ausruf:
Gott iſt gerecht! unterbrochen wurden.
Dieſer Ausruf, den ſie ſtets mit der groͤßten
Emphaſie ausſprach, war ihre uͤbrige Lebenszeit
hindurch das einzige verſtaͤndliche Wort, welches
man aus ihrem Munde hoͤrte.
Sie that niemanden etwas zu Leide, gieng
ſtets mit in einander geſchlagnen Armen auf der
Straße ſtill und nachdenkend einher, wenn ſie aber
irgend eine kleine Anhoͤhe, oder einen großen
Stein erblickte, ſo ſprang ſie haſtig drauf, und
rief laut aus: Gott iſt gerecht! Dann folgte alle-
mal eine lange, unverſtaͤndliche Rede, die ſie mit
den heftigſten Geberden und Geſtikulationen be-
gleitete. Ihr folgten immer die Kinder des Dorfs
nach, nannten ſie ſpottweiſe: die Predigerin! und
waren gewiß, daß ſie ihnen Stunden lang vor-
predigte, wenn ſie ihr nur einen Stein zeigten,
auf welchem ſie ſtehen konnte.
Ihr Vermoͤgen ward zinsbar angelegt, und
der Dorfhirte nahms uͤber ſich, ſie gegen Em-
pfang der Zinſen anſtaͤndig zu ernaͤhren. Nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/187>, abgerufen am 17.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.