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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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die Beschwerde- oder Gesuchspetition entweder den Nachweis, daß die
Vollziehung ein gesetzliches Recht verletzt hat, und dann gehört sie vor
die Gerichte; oder sie weist nach, daß die Vollziehung nur die In-
teressen nicht gehörig gewahrt, aber sich dabei an das Gesetz gehalten hat,
und dann hat die Volksvertretung ein neues Gesetz zu machen, welches
jene Verletzung der Interessen künftig unmöglich macht. Das ist die
formell gezogene, strenge Gränzlinie für die Thätigkeit der Volks-
vertretung in Beziehung auf diese Art der administrativen Petitionen.
Allerdings aber ist es gut, wenn dieselbe nicht gerade in dieser strengen
Weise eingehalten wird. Es ist gut, wenn solche Petitionen den Anlaß
geben zwischen den beiden höchsten Organen der Gesetzgebung und Voll-
ziehung, sich über die Gestalt zu verständigen, welche ein bestehen-
des Gesetz in der wirklichen Ausführung entweder annimmt oder an-
nehmen sollte. Wann und wie weit das der Fall sein kann, muß stets
von dem Gegenstande, den Petenten, und endlich von Takt und Stim-
mung der beiden Organe selbst abhängen. Niemals aber kann man
der Volksvertretung das Recht zugestehen, selbständig eine Erledigung
der Petition zu beschließen; sie kann höchstens, da die Regierung
vollkommen das Recht hat, einem solchen Beschluß, der kein Gesetz ist,
geradezu den Gehorsam zu verweigern, ihre Ansicht als maßgebend
bei der Erledigung der Petition empfehlen.

Faßt man nun alle diese Punkte zusammen, so wird man wohl
zu dem Resultat kommen, daß erst dann, wenn Gesetz und Verordnung
scharf geschieden, und das Klagrecht in anerkannter Wirksamkeit steht,
das Petitionsrecht seine rechte Funktion zu erfüllen und Gesetzgebung
und Verwaltung auf dem Gebiete zur Verständigung zu bringen bestimmt
ist, wohin die erste zu selten gelangt, und das die zweite zu selten
verläßt, dem weiten Felde der praktischen Interessen des Volkslebens.

Während in England das Recht auf Petitionen gar keiner gesetzlichen
Anerkennung bedurfte, sprachen in Frankreich alle Constitutionen das droit
de petition
als ein "droit naturel" aus; selbst die Charte von 1814 enthält
dasselbe (Art. 53), sowie die Charte von 1830 (Art. 45). Von ihnen ging das
Princip der Sache nach Deutschland über, wo es in den Verfassungen meist
als Anerkennung des Rechts auf Vorstellung und Beschwerde erscheint. Frank-
reich aber hat nicht verstanden, sich dieß Recht zu bewahren. Die Constitution
von 1852
hat es im Grunde dem französischen Volke genommen. Der Art. 45
erlaubt nur noch Petitionen an den Senat, keine an den Corps legislatif.
Das Dekret vom 31. Dec. 1852 hat das Verfahren des Senats bei den Peti-
tionen geregelt. Gewöhnliche Petitionen werden in den Petitionscomite's be-
rathen und vorgelegt; bei Petitionen, welche sich auf Verletzungen verfassungs-
mäßiger Rechte beziehen, wird erst die question prealable gestellt, und sie
nur dann zur Berathung gezogen, wenn der Senat sie anerkennt (le senat

die Beſchwerde- oder Geſuchspetition entweder den Nachweis, daß die
Vollziehung ein geſetzliches Recht verletzt hat, und dann gehört ſie vor
die Gerichte; oder ſie weist nach, daß die Vollziehung nur die In-
tereſſen nicht gehörig gewahrt, aber ſich dabei an das Geſetz gehalten hat,
und dann hat die Volksvertretung ein neues Geſetz zu machen, welches
jene Verletzung der Intereſſen künftig unmöglich macht. Das iſt die
formell gezogene, ſtrenge Gränzlinie für die Thätigkeit der Volks-
vertretung in Beziehung auf dieſe Art der adminiſtrativen Petitionen.
Allerdings aber iſt es gut, wenn dieſelbe nicht gerade in dieſer ſtrengen
Weiſe eingehalten wird. Es iſt gut, wenn ſolche Petitionen den Anlaß
geben zwiſchen den beiden höchſten Organen der Geſetzgebung und Voll-
ziehung, ſich über die Geſtalt zu verſtändigen, welche ein beſtehen-
des Geſetz in der wirklichen Ausführung entweder annimmt oder an-
nehmen ſollte. Wann und wie weit das der Fall ſein kann, muß ſtets
von dem Gegenſtande, den Petenten, und endlich von Takt und Stim-
mung der beiden Organe ſelbſt abhängen. Niemals aber kann man
der Volksvertretung das Recht zugeſtehen, ſelbſtändig eine Erledigung
der Petition zu beſchließen; ſie kann höchſtens, da die Regierung
vollkommen das Recht hat, einem ſolchen Beſchluß, der kein Geſetz iſt,
geradezu den Gehorſam zu verweigern, ihre Anſicht als maßgebend
bei der Erledigung der Petition empfehlen.

Faßt man nun alle dieſe Punkte zuſammen, ſo wird man wohl
zu dem Reſultat kommen, daß erſt dann, wenn Geſetz und Verordnung
ſcharf geſchieden, und das Klagrecht in anerkannter Wirkſamkeit ſteht,
das Petitionsrecht ſeine rechte Funktion zu erfüllen und Geſetzgebung
und Verwaltung auf dem Gebiete zur Verſtändigung zu bringen beſtimmt
iſt, wohin die erſte zu ſelten gelangt, und das die zweite zu ſelten
verläßt, dem weiten Felde der praktiſchen Intereſſen des Volkslebens.

Während in England das Recht auf Petitionen gar keiner geſetzlichen
Anerkennung bedurfte, ſprachen in Frankreich alle Conſtitutionen das droit
de pétition
als ein „droit naturel“ aus; ſelbſt die Charte von 1814 enthält
daſſelbe (Art. 53), ſowie die Charte von 1830 (Art. 45). Von ihnen ging das
Princip der Sache nach Deutſchland über, wo es in den Verfaſſungen meiſt
als Anerkennung des Rechts auf Vorſtellung und Beſchwerde erſcheint. Frank-
reich aber hat nicht verſtanden, ſich dieß Recht zu bewahren. Die Conſtitution
von 1852
hat es im Grunde dem franzöſiſchen Volke genommen. Der Art. 45
erlaubt nur noch Petitionen an den Sénat, keine an den Corps législatif.
Das Dekret vom 31. Dec. 1852 hat das Verfahren des Senats bei den Peti-
tionen geregelt. Gewöhnliche Petitionen werden in den Petitionscomité’s be-
rathen und vorgelegt; bei Petitionen, welche ſich auf Verletzungen verfaſſungs-
mäßiger Rechte beziehen, wird erſt die question préalable geſtellt, und ſie
nur dann zur Berathung gezogen, wenn der Senat ſie anerkennt (le sénat

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[151/0175] die Beſchwerde- oder Geſuchspetition entweder den Nachweis, daß die Vollziehung ein geſetzliches Recht verletzt hat, und dann gehört ſie vor die Gerichte; oder ſie weist nach, daß die Vollziehung nur die In- tereſſen nicht gehörig gewahrt, aber ſich dabei an das Geſetz gehalten hat, und dann hat die Volksvertretung ein neues Geſetz zu machen, welches jene Verletzung der Intereſſen künftig unmöglich macht. Das iſt die formell gezogene, ſtrenge Gränzlinie für die Thätigkeit der Volks- vertretung in Beziehung auf dieſe Art der adminiſtrativen Petitionen. Allerdings aber iſt es gut, wenn dieſelbe nicht gerade in dieſer ſtrengen Weiſe eingehalten wird. Es iſt gut, wenn ſolche Petitionen den Anlaß geben zwiſchen den beiden höchſten Organen der Geſetzgebung und Voll- ziehung, ſich über die Geſtalt zu verſtändigen, welche ein beſtehen- des Geſetz in der wirklichen Ausführung entweder annimmt oder an- nehmen ſollte. Wann und wie weit das der Fall ſein kann, muß ſtets von dem Gegenſtande, den Petenten, und endlich von Takt und Stim- mung der beiden Organe ſelbſt abhängen. Niemals aber kann man der Volksvertretung das Recht zugeſtehen, ſelbſtändig eine Erledigung der Petition zu beſchließen; ſie kann höchſtens, da die Regierung vollkommen das Recht hat, einem ſolchen Beſchluß, der kein Geſetz iſt, geradezu den Gehorſam zu verweigern, ihre Anſicht als maßgebend bei der Erledigung der Petition empfehlen. Faßt man nun alle dieſe Punkte zuſammen, ſo wird man wohl zu dem Reſultat kommen, daß erſt dann, wenn Geſetz und Verordnung ſcharf geſchieden, und das Klagrecht in anerkannter Wirkſamkeit ſteht, das Petitionsrecht ſeine rechte Funktion zu erfüllen und Geſetzgebung und Verwaltung auf dem Gebiete zur Verſtändigung zu bringen beſtimmt iſt, wohin die erſte zu ſelten gelangt, und das die zweite zu ſelten verläßt, dem weiten Felde der praktiſchen Intereſſen des Volkslebens. Während in England das Recht auf Petitionen gar keiner geſetzlichen Anerkennung bedurfte, ſprachen in Frankreich alle Conſtitutionen das droit de pétition als ein „droit naturel“ aus; ſelbſt die Charte von 1814 enthält daſſelbe (Art. 53), ſowie die Charte von 1830 (Art. 45). Von ihnen ging das Princip der Sache nach Deutſchland über, wo es in den Verfaſſungen meiſt als Anerkennung des Rechts auf Vorſtellung und Beſchwerde erſcheint. Frank- reich aber hat nicht verſtanden, ſich dieß Recht zu bewahren. Die Conſtitution von 1852 hat es im Grunde dem franzöſiſchen Volke genommen. Der Art. 45 erlaubt nur noch Petitionen an den Sénat, keine an den Corps législatif. Das Dekret vom 31. Dec. 1852 hat das Verfahren des Senats bei den Peti- tionen geregelt. Gewöhnliche Petitionen werden in den Petitionscomité’s be- rathen und vorgelegt; bei Petitionen, welche ſich auf Verletzungen verfaſſungs- mäßiger Rechte beziehen, wird erſt die question préalable geſtellt, und ſie nur dann zur Berathung gezogen, wenn der Senat ſie anerkennt (le sénat

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/175>, abgerufen am 01.11.2024.