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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Zeichnung, so gut als bei einem, den man in Worten wiedergiebt, aber mit dem
Spass, den er macht, ist man auch vollständig zufrieden und dieser ist nur
grösser, wenn er trotz der Schwierigkeiten des Materials gelingt
. Auf
Zeit kommt es dabei nicht an; ein Einfall wird dadurch nicht tiefsinnig, dass man
ein paar Monate lang tief in Stein schneidet. Dass die Indianer die Fähigkeit
besässen, sich in "Bilderschrift" auszudrücken, will ich keineswegs bezweifeln -- ich
habe selbst gesehen, wie ich sogleich berichten werde, dass sie durch Bilder Mit-
teilungen machten. Dass den Felszeichnungen aber der Sinn einer zusammen-
hängenden Mitteilung fehlt, geht aus der grossen Regellosigkeit hervor, in der die
Bilder über den Raum zerstreut sind; man sieht deutlich, die eine Person hat
diesen, die andere jenen Beitrag geliefert, der deshalb, weil wir das betreffende
Bild nicht immer zu erklären vermögen, nichts Besonderes zu bedeuten braucht.
Die Regellosigkeit ist weit stärker, als sie in den Reproduktionen erscheint, weil
wenigstens in den meisten Fällen nur eine Auswahl der Bilder geliefert wird, da-
gegen die dem Sammler gleichgültig erscheinenden und für die Erklärung des
Ganzen doch sehr wichtigen Nebendinge, z. B. Schleifrillen für Steinwerkzeuge,
ausgelassen werden. Ausnahmen aber mag es ja geben.

Nun darf ich wohl zur einleitenden Uebersicht schon weiter skizzieren, was
ich nach meinen Beobachtungen über den ferneren Entwicklungsgang der Schingu-
Kunst folgern zu müssen glaube. Nachdem man aus sich selbst heraus dazu ge-
kommen war, Umrisse der die Aufmerksamkeit lebhaft beschäftigenden Dinge zu
gestalten, nachdem man so gelernt, äussere Bilder der inneren Anschauung zu
sehen und den Begriff des Bildes erst erworben hatte, da hat sich bei jedweder
Technik bis zu der des Flechtens herunter die Herz und Sinn erfreuende Neigung
geltend gemacht, die bei behaglicher Arbeit entstehenden Aehnlichkeiten zu
allerlei interessierenden Originalen der Natur zu bemerken, sie zu steigern und
neue hervorzurufen. Besonders bei den Töpfen werden wir den Zusammenhang
zwischen der Form des Gefässes und dem Motiv der Nachbildung deutlich er-
kennen. Aus diesen konkreten Nachbildungen endlich ist bei einer sich vom
Original mehr und mehr in künstlerischem Sinn entfernenden Tradition unter
dem Einfluss je der Arbeitsmethode und des Arbeitsmaterials das stilisierte
Kunstwerk geworden, das im Geist unserer Indianer noch auf das Engste mit
dem älteren Abbild verknüpft ist. Im Gebiet der Malerei begegnen wir solchen
Erzeugnissen in der Form der geometrischen Ornamente. Punkte und Striche
können dem alten Markieren gleichwertig sein. Aber schon so "einfache" Figuren
wie Dreiecke und Vierecke, von denen man glauben möchte, dass sie freiweg
auch von dem primitivsten Künstler konstruiert werden könnten, sie sind erst
durch Stilisierung aus Abbildungen entstanden, und haben nur, da sie sich der
Technik von selbst als Typen empfahlen, im Kampf um das Dasein mit kom-
plizierten Gebilden wie spielend den Sieg davongetragen.

Nun noch ein Wort über die Motive unserer indianischen Kunst. Sie sind
ganz ausschliesslich dem Tierreich entlehnt. Andree hebt in seinem bekannten

Zeichnung, so gut als bei einem, den man in Worten wiedergiebt, aber mit dem
Spass, den er macht, ist man auch vollständig zufrieden und dieser ist nur
grösser, wenn er trotz der Schwierigkeiten des Materials gelingt
. Auf
Zeit kommt es dabei nicht an; ein Einfall wird dadurch nicht tiefsinnig, dass man
ein paar Monate lang tief in Stein schneidet. Dass die Indianer die Fähigkeit
besässen, sich in »Bilderschrift« auszudrücken, will ich keineswegs bezweifeln — ich
habe selbst gesehen, wie ich sogleich berichten werde, dass sie durch Bilder Mit-
teilungen machten. Dass den Felszeichnungen aber der Sinn einer zusammen-
hängenden Mitteilung fehlt, geht aus der grossen Regellosigkeit hervor, in der die
Bilder über den Raum zerstreut sind; man sieht deutlich, die eine Person hat
diesen, die andere jenen Beitrag geliefert, der deshalb, weil wir das betreffende
Bild nicht immer zu erklären vermögen, nichts Besonderes zu bedeuten braucht.
Die Regellosigkeit ist weit stärker, als sie in den Reproduktionen erscheint, weil
wenigstens in den meisten Fällen nur eine Auswahl der Bilder geliefert wird, da-
gegen die dem Sammler gleichgültig erscheinenden und für die Erklärung des
Ganzen doch sehr wichtigen Nebendinge, z. B. Schleifrillen für Steinwerkzeuge,
ausgelassen werden. Ausnahmen aber mag es ja geben.

Nun darf ich wohl zur einleitenden Uebersicht schon weiter skizzieren, was
ich nach meinen Beobachtungen über den ferneren Entwicklungsgang der Schingú-
Kunst folgern zu müssen glaube. Nachdem man aus sich selbst heraus dazu ge-
kommen war, Umrisse der die Aufmerksamkeit lebhaft beschäftigenden Dinge zu
gestalten, nachdem man so gelernt, äussere Bilder der inneren Anschauung zu
sehen und den Begriff des Bildes erst erworben hatte, da hat sich bei jedweder
Technik bis zu der des Flechtens herunter die Herz und Sinn erfreuende Neigung
geltend gemacht, die bei behaglicher Arbeit entstehenden Aehnlichkeiten zu
allerlei interessierenden Originalen der Natur zu bemerken, sie zu steigern und
neue hervorzurufen. Besonders bei den Töpfen werden wir den Zusammenhang
zwischen der Form des Gefässes und dem Motiv der Nachbildung deutlich er-
kennen. Aus diesen konkreten Nachbildungen endlich ist bei einer sich vom
Original mehr und mehr in künstlerischem Sinn entfernenden Tradition unter
dem Einfluss je der Arbeitsmethode und des Arbeitsmaterials das stilisierte
Kunstwerk geworden, das im Geist unserer Indianer noch auf das Engste mit
dem älteren Abbild verknüpft ist. Im Gebiet der Malerei begegnen wir solchen
Erzeugnissen in der Form der geometrischen Ornamente. Punkte und Striche
können dem alten Markieren gleichwertig sein. Aber schon so »einfache« Figuren
wie Dreiecke und Vierecke, von denen man glauben möchte, dass sie freiweg
auch von dem primitivsten Künstler konstruiert werden könnten, sie sind erst
durch Stilisierung aus Abbildungen entstanden, und haben nur, da sie sich der
Technik von selbst als Typen empfahlen, im Kampf um das Dasein mit kom-
plizierten Gebilden wie spielend den Sieg davongetragen.

Nun noch ein Wort über die Motive unserer indianischen Kunst. Sie sind
ganz ausschliesslich dem Tierreich entlehnt. Andree hebt in seinem bekannten

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[245/0291] Zeichnung, so gut als bei einem, den man in Worten wiedergiebt, aber mit dem Spass, den er macht, ist man auch vollständig zufrieden und dieser ist nur grösser, wenn er trotz der Schwierigkeiten des Materials gelingt. Auf Zeit kommt es dabei nicht an; ein Einfall wird dadurch nicht tiefsinnig, dass man ein paar Monate lang tief in Stein schneidet. Dass die Indianer die Fähigkeit besässen, sich in »Bilderschrift« auszudrücken, will ich keineswegs bezweifeln — ich habe selbst gesehen, wie ich sogleich berichten werde, dass sie durch Bilder Mit- teilungen machten. Dass den Felszeichnungen aber der Sinn einer zusammen- hängenden Mitteilung fehlt, geht aus der grossen Regellosigkeit hervor, in der die Bilder über den Raum zerstreut sind; man sieht deutlich, die eine Person hat diesen, die andere jenen Beitrag geliefert, der deshalb, weil wir das betreffende Bild nicht immer zu erklären vermögen, nichts Besonderes zu bedeuten braucht. Die Regellosigkeit ist weit stärker, als sie in den Reproduktionen erscheint, weil wenigstens in den meisten Fällen nur eine Auswahl der Bilder geliefert wird, da- gegen die dem Sammler gleichgültig erscheinenden und für die Erklärung des Ganzen doch sehr wichtigen Nebendinge, z. B. Schleifrillen für Steinwerkzeuge, ausgelassen werden. Ausnahmen aber mag es ja geben. Nun darf ich wohl zur einleitenden Uebersicht schon weiter skizzieren, was ich nach meinen Beobachtungen über den ferneren Entwicklungsgang der Schingú- Kunst folgern zu müssen glaube. Nachdem man aus sich selbst heraus dazu ge- kommen war, Umrisse der die Aufmerksamkeit lebhaft beschäftigenden Dinge zu gestalten, nachdem man so gelernt, äussere Bilder der inneren Anschauung zu sehen und den Begriff des Bildes erst erworben hatte, da hat sich bei jedweder Technik bis zu der des Flechtens herunter die Herz und Sinn erfreuende Neigung geltend gemacht, die bei behaglicher Arbeit entstehenden Aehnlichkeiten zu allerlei interessierenden Originalen der Natur zu bemerken, sie zu steigern und neue hervorzurufen. Besonders bei den Töpfen werden wir den Zusammenhang zwischen der Form des Gefässes und dem Motiv der Nachbildung deutlich er- kennen. Aus diesen konkreten Nachbildungen endlich ist bei einer sich vom Original mehr und mehr in künstlerischem Sinn entfernenden Tradition unter dem Einfluss je der Arbeitsmethode und des Arbeitsmaterials das stilisierte Kunstwerk geworden, das im Geist unserer Indianer noch auf das Engste mit dem älteren Abbild verknüpft ist. Im Gebiet der Malerei begegnen wir solchen Erzeugnissen in der Form der geometrischen Ornamente. Punkte und Striche können dem alten Markieren gleichwertig sein. Aber schon so »einfache« Figuren wie Dreiecke und Vierecke, von denen man glauben möchte, dass sie freiweg auch von dem primitivsten Künstler konstruiert werden könnten, sie sind erst durch Stilisierung aus Abbildungen entstanden, und haben nur, da sie sich der Technik von selbst als Typen empfahlen, im Kampf um das Dasein mit kom- plizierten Gebilden wie spielend den Sieg davongetragen. Nun noch ein Wort über die Motive unserer indianischen Kunst. Sie sind ganz ausschliesslich dem Tierreich entlehnt. Andree hebt in seinem bekannten

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/291>, abgerufen am 03.06.2024.