tungen der menschlichen Seele ausrotteten. Als diese Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorstellung des Schönen verloren, an seine Stelle trat die bloße Zeit¬ richtung, die nichts als schön erkannte als sich selber, und daher auch sich selber überall hinstellte, es mochte passen oder nicht. So kam es, daß römische oder korinthische Simse zwischen altdeutsche Säulen gefügt wurden."
"Aber auch unter den altdeutschen Kirchen ist diese, welche wir verlassen haben, wenn ich nach den Kir¬ chen, die ich gesehen habe, urtheilen darf, eine der schönsten und edelsten," sagte ich.
"Sie ist klein," erwiederte mein Gastfreund, "aber sie übertrift manche große. Sie strebt schlank empor wie Halme, die sich wiegen, und gleicht auch den Hal¬ men darin, daß ihre Bögen so natürlich und leicht aufspringen wie Halme, die da nicken. Die Rosen in den Fensterbögen die Verzierungen an den Säulen¬ knäufen an den Bogenrippen so wie die Rose der Thurmspize sind so leicht wie die verschiedenen Ge¬ wächse, die in dem Halmenfelde sich entwickeln."
"Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke," antwortete ich, "den ich schon öfter hatte, daß man nehmlich die Fassung von Edelsteinen im Sinne alt¬
tungen der menſchlichen Seele ausrotteten. Als dieſe Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorſtellung des Schönen verloren, an ſeine Stelle trat die bloße Zeit¬ richtung, die nichts als ſchön erkannte als ſich ſelber, und daher auch ſich ſelber überall hinſtellte, es mochte paſſen oder nicht. So kam es, daß römiſche oder korinthiſche Simſe zwiſchen altdeutſche Säulen gefügt wurden.“
„Aber auch unter den altdeutſchen Kirchen iſt dieſe, welche wir verlaſſen haben, wenn ich nach den Kir¬ chen, die ich geſehen habe, urtheilen darf, eine der ſchönſten und edelſten,“ ſagte ich.
„Sie iſt klein,“ erwiederte mein Gaſtfreund, „aber ſie übertrift manche große. Sie ſtrebt ſchlank empor wie Halme, die ſich wiegen, und gleicht auch den Hal¬ men darin, daß ihre Bögen ſo natürlich und leicht aufſpringen wie Halme, die da nicken. Die Roſen in den Fenſterbögen die Verzierungen an den Säulen¬ knäufen an den Bogenrippen ſo wie die Roſe der Thurmſpize ſind ſo leicht wie die verſchiedenen Ge¬ wächſe, die in dem Halmenfelde ſich entwickeln.“
„Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke,“ antwortete ich, „den ich ſchon öfter hatte, daß man nehmlich die Faſſung von Edelſteinen im Sinne alt¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0106"n="92"/>
tungen der menſchlichen Seele ausrotteten. Als dieſe<lb/>
Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorſtellung des<lb/>
Schönen verloren, an ſeine Stelle trat die bloße Zeit¬<lb/>
richtung, die nichts als ſchön erkannte als ſich ſelber,<lb/>
und daher auch ſich ſelber überall hinſtellte, es mochte<lb/>
paſſen oder nicht. So kam es, daß römiſche oder<lb/>
korinthiſche Simſe zwiſchen altdeutſche Säulen gefügt<lb/>
wurden.“</p><lb/><p>„Aber auch unter den altdeutſchen Kirchen iſt dieſe,<lb/>
welche wir verlaſſen haben, wenn ich nach den Kir¬<lb/>
chen, die ich geſehen habe, urtheilen darf, eine der<lb/>ſchönſten und edelſten,“ſagte ich.</p><lb/><p>„Sie iſt klein,“ erwiederte mein Gaſtfreund, „aber<lb/>ſie übertrift manche große. Sie ſtrebt ſchlank empor<lb/>
wie Halme, die ſich wiegen, und gleicht auch den Hal¬<lb/>
men darin, daß ihre Bögen ſo natürlich und leicht<lb/>
aufſpringen wie Halme, die da nicken. Die Roſen in<lb/>
den Fenſterbögen die Verzierungen an den Säulen¬<lb/>
knäufen an den Bogenrippen ſo wie die Roſe der<lb/>
Thurmſpize ſind ſo leicht wie die verſchiedenen Ge¬<lb/>
wächſe, die in dem Halmenfelde ſich entwickeln.“</p><lb/><p>„Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke,“<lb/>
antwortete ich, „den ich ſchon öfter hatte, daß man<lb/>
nehmlich die Faſſung von Edelſteinen im Sinne alt¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[92/0106]
tungen der menſchlichen Seele ausrotteten. Als dieſe
Zeiten vorüber waren, hatte man die Vorſtellung des
Schönen verloren, an ſeine Stelle trat die bloße Zeit¬
richtung, die nichts als ſchön erkannte als ſich ſelber,
und daher auch ſich ſelber überall hinſtellte, es mochte
paſſen oder nicht. So kam es, daß römiſche oder
korinthiſche Simſe zwiſchen altdeutſche Säulen gefügt
wurden.“
„Aber auch unter den altdeutſchen Kirchen iſt dieſe,
welche wir verlaſſen haben, wenn ich nach den Kir¬
chen, die ich geſehen habe, urtheilen darf, eine der
ſchönſten und edelſten,“ ſagte ich.
„Sie iſt klein,“ erwiederte mein Gaſtfreund, „aber
ſie übertrift manche große. Sie ſtrebt ſchlank empor
wie Halme, die ſich wiegen, und gleicht auch den Hal¬
men darin, daß ihre Bögen ſo natürlich und leicht
aufſpringen wie Halme, die da nicken. Die Roſen in
den Fenſterbögen die Verzierungen an den Säulen¬
knäufen an den Bogenrippen ſo wie die Roſe der
Thurmſpize ſind ſo leicht wie die verſchiedenen Ge¬
wächſe, die in dem Halmenfelde ſich entwickeln.“
„Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke,“
antwortete ich, „den ich ſchon öfter hatte, daß man
nehmlich die Faſſung von Edelſteinen im Sinne alt¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/106>, abgerufen am 31.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.